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b) Religion als Ursprung
ОглавлениеDer wohl langlebigste dieser Erklärungsansätze ist derjenige, der die religiösen Ursachen von Antisemitismus betont. Interpretationen, die auf Religion als zentralen Hintergrund von Judenhass abhoben, haben ungeachtet aller Moden in der Geschichte der wissenschaftlichen Erforschung von Judenfeindschaft immer einige Anhänger gehabt und auch in der breiteren Öffentlichkeit stets eine gewisse Popularität genossen. Angesichts der unbestreitbaren Verwurzelung von Judenfeindschaft in der christlichen Kultur Europas erschienen solche Erklärungen von jeher plausibel. Die Kontroverse darüber, wieweit diese Verwurzelung die Säkularisierungstendenzen der Neuzeit und besonders der Zeit ab dem 19. Jahrhundert überstanden hat, ist bereits im vorigen Kapitel behandelt worden.
Erst mit der Säkularisierung wurde ein kritischer Abstand zur Religion möglich. Und erst damit konnte der Grundstein zu einer Erklärung des Antisemitismus gelegt werden, die christliche Traditionen als dessen zentralen Faktor interpretierte. Die Klassifizierung von Judenhass als religiöses Vorurteil begann mit der europäischen Aufklärung im 18. Jahrhundert. Den Aufklärern galt Antisemitismus als ein Relikt religiösen Aberglaubens. Die Liberalen des 19. Jahrhunderts, die sich die bürgerliche Gleichberechtigung der Juden auf ihre Fahnen geschrieben hatten, übernahmen diese Einschätzung. Ihre Sicht des Antisemitismus als ein zu überwindender Rest „dunklen“ Mittelalters ist teilweise heute noch populär. Auch von einzelnen Wissenschaftlern wird sie geteilt und reproduziert (275; in abgewandelter Form in 72, S. 149 – 153). Je mehr nach 1945 jedoch der Nationalsozialismus weniger als Überhang von Traditionen, sondern als ein durchaus modernes Phänomen interpretiert wurde, ist dieser liberale Fortschrittsoptimismus verblasst. Die meisten Historiker, die heute in religiösen Faktoren die Kernursachen von Judenfeindschaft sehen, tun das in der Annahme, dass Religion durch alle Brüche des Modernisierungsprozesses ihre Bedeutung gewahrt hat und wohl auch wahren wird.
Jacob Katz
Mit besonderer Klarheit und gleichzeitig großer analytischer Komplexität hat diesen Erklärungsansatz der israelische Historiker Jacob Katz formuliert. In seiner Studie mit dem Titel Vom Vorurteil zur Vernichtung untersucht er die Geschichte der Judenfeindschaft in Frankreich, Deutschland und Österreich-Ungarn zwischen 1700 und 1933. Seine Schlussfolgerung lautet, „dass das Christentum verantwortlich, zuständig ist für alle Ungeheuerlichkeiten des Antisemitismus bis zur Kulmination im Holocaust“. Katz fällt mit dieser Wortwahl ganz bewusst auch ein moralisches Urteil. Dieses Urteil ist seiner Ansicht nach allerdings aus der Entwicklung von christlicher Religion und Judenfeindschaft zwischen dem 18. und 20. Jahrhundert wissenschaftlich begründbar. Es sei zwar richtig, dass das Christentum durch vielfältige Säkularisierungsprozesse bis zum späten 19. Jahrhundert „seinen bestimmenden Einfluss auf das Denken der Menschen und auf Staat und Gesellschaft verloren hatte. Der Staat und seine Institutionen waren nicht länger institutionell mit der Kirche verbunden, und die Entwicklung der Gesellschaft wurde nicht länger von christlichen Überzeugungen gelenkt. Die führenden Eliten in Staat und Gesellschaft standen unter dem Einfluss eher säkularer Kräfte. Aber dieser Rückgang des christlichen Einflusses war nicht gleichbedeutend mit seinem Verschwinden. Das Christentum war auch in seiner dogmatischen Gestalt nicht abgestorben. Es bildete immer noch den universalen Bezugsrahmen und das geistige Klima von Teilen der Gesellschaft, und bei diesen behielt die traditionelle Sicht von der Rolle der Juden in der Geschichte ihre Gültigkeit.“
Aus diesen ausdrücklich traditionsorientierten Teilen der Gesellschaft, betont Katz, rekrutierten sich eine Vielzahl derjenigen, die seit dem späten 19. Jahrhundert die alte Judenfeindschaft in neuem Gewand wiederbelebten. Viele der Anführer der antisemitischen Bewegung, die sich nun zu modernen Parteien formierte, seien überzeugte Christen gewesen. „Eine zweite Variante des christlichen Hintergrundes hinter dem modernen Antisemitismus findet sich bei denen, die sich für die dogmatische Wahrheit des Christentums nicht mehr interessierten, aber doch die Religion als Komponente des Nationalismus beibehalten wollten und das Christentum als einzig möglichen Garanten der privaten und öffentlichen Moral darstellten, oder die ihm aus anderen, nicht wirklich religiösen Gründen treu blieben.“ Und selbst diejenigen Antisemiten des späten 19. und 20. Jahrhunderts, die sich ausdrücklich von der christlichen Religion distanzierten, seien im Grunde doch deren judenfeindlichen Traditionen verhaftet geblieben. „Weithin erwies sich der moderne Antisemitismus also als eine Fortsetzung der vormodernen Ablehnung des Judentums durch das Christentum, selbst wenn er jede Verbindung damit bestritt oder sich sogar als feindlich zum Christentum bekannte. Der Wunsch, den Antisemitismus anders als in der jüdisch-christlichen Trennung zu begründen, blieb in Wahrheit nichts als eine Absichtserklärung. Kein Antisemit, selbst wenn er antichristlich war, verzichtete je auf den Gebrauch jener antijüdischen Argumente, die in der Ablehnung von Juden und Judentum durch frühere christliche Zeiten wurzelten“ (29, S. 320 – 322).
Überblicksdarstellungen
Andere Historiker sehen im kontinuierlichen christlichen Einfluss, sei es in direkter oder indirekter Form, ebenfalls die entscheidende Ursache des Antisemitismus bis in die Moderne. Häufig findet sich diese These in Überblicksdarstellungen, die einen relativ großen Zeitraum umspannen. Die Rolle der Religion dient dann nicht zuletzt als roter Faden, der vom Autor bemüht wird, wenn angesichts einer Vielzahl von Fakten und Varianten der Entwicklung vor lauter Bäumen der Wald aus dem Blick zu geraten droht (35; 55; 72). Die Kontinuität der Bedeutung von Religion wird auch hervorgehoben in Studien wie der von Rosemary Ruether, die sich auf die Entstehung von Antijudaismus im frühen Christentum konzentriert und die daraus gewonnenen Erkenntnisse dann auf spätere Epochen überträgt, ohne diese freilich ähnlich genau untersucht zu haben (76). Nicht zu Unrecht ist kritisiert worden, dass bei solcher Vorgehensweise tendenziell vorgefasste Meinungen die Auswahl der Belege beeinflussen (45, S. 134) – eine Gefahr, die umso größer wird, je umfangreicher der behandelte Zeitraum und die vorhandenen Quellen sind.
Religion und Antisemitismus im deutschen Kaiserreich
Kritik dieser Art lässt sich an der Studie von Katz weniger üben. Erst recht gilt das für Arbeiten, die sich auf ein einziges Land und das späte 19. Jahrhundert beschränken – die Zeit also, während der in Deutschland erstmals moderne antisemitische Parteien entstanden. Hermann Greive hat für das Deutsche Kaiserreich von 1871 die These aufgestellt, dass diese Parteibildung weniger vor dem Hintergrund einer Säkularisierung geschah. Vielmehr habe sie sich im Rahmen einer Rechristianisierung abgespielt (91; vgl. 22, S. 47 – 89). Zu ähnlichen Ergebnissen kommt Uriel Tal in einer Untersuchung, die wesentlich systematischer strukturiert und breiter in den Quellen fundiert ist. Nach Tal gab es im deutschen Kaiserreich zwei Strömungen der Judenfeindschaft. Die eine vertrat einen antichristlichen, rassistischen Antisemitismus. Diese Strömung bildete das Rückgrat der neuen antisemitischen Parteien. Sie verfügte aber über deutlich weniger Anhänger in der Bevölkerung als die zweite Strömung. Zu dieser gehörten große Teile der protestantisch-konservativen und katholischen Parteigruppen, die eine traditionelle, christlich geprägte Judenfeindschaft vertraten (51).
Nationalsozialismus und Religion
Tals Ergebnisse bestätigen und vertiefen am wichtigen Beispiel Deutschlands zwischen 1870 und 1914 die Thesen der geographisch und vom Zeitrahmen her wesentlich breiter angelegten Studie von Jacob Katz. Allerdings besteht die Feuerprobe für jede Antisemitismustheorie darin, dass sie auch den Nationalsozialismus plausibel in ihr Erklärungsmuster einordnen kann. Die meisten Interpretationen, die Religion als zentralen Faktor von Judenhass identifizieren, thematisieren jedoch nationalsozialistische Ideologie und Herrschaft nur sehr knapp – wenn überhaupt (18; 35; 55; 76). Auch Katz Studie konzentriert sich auf die Zeit bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Die Epoche von der Jahrhundertwende bis 1933 wird in einem einzigen von 27 Kapiteln abgehandelt; die nationalsozialistische Bewegung und ihre Ideologie auf gerade einmal dreieinhalb Seiten.
Wenn religiöse Erklärungsmuster des Antisemitismus systematisch auf den Nationalsozialismus angewandt werden, geschieht das meist im Rahmen des Konzepts der „politischen Religion“. Es wird dann auf Parallelen hingewiesen, die zwischen nationalsozialistischer Ideologie und insbesondere christlichem Weltbild bestünden, wie in der Erwartung einer apokalyptischen „Endzeit“, der Ideen von „Heil“, „Erlösung“ und Opfer, dem Verständnis von Gut und Böse und anderem mehr. Oder die nationalsozialistische Weltanschauung wird als direkte Weiterentwicklung christlicher Vorstellungen interpretiert – eine These, die sich durch ausdrückliche Bezüge prominenter Nationalsozialisten wie Goebbels und Hitler auf die Bibel untermauern lässt (81; 82; 72, S. 113 – 132; 73; 74).
Kritik
Kritik an solchen Interpretationen des Nationalsozialismus sieht darin unzulässige Kurzschlüsse: Die Verwendung biblischer Metaphern gehe nicht mit der Übernahme von deren eigentlichen Bedeutungsinhalten einher. Formen und Inhalte würden auch bei der Diagnose von vermeintlichen Parallelen zwischen Elementen christlicher und nationalsozialistischer Weltbilder verwechselt. Zudem bleibe der Prozess der Umwandlung christlicher Vorstellungen über verschiedene Zwischenstufen, auf denen auch ganz andere Einflüsse einwirkten, unterbelichtet. Ideen religiösen Ursprungs hätten in den Nationalsozialismus allenfalls in völlig entstellter Gestalt Eingang gefunden. Und schließlich sei vieles von dem, was als Wirkungsgeschichte interpretiert werde, tatsächlich aktive Instrumentalisierung im Sinne einer antisemitischen „Erfindung von Tradition“: Obwohl ein wirklicher Traditionszusammenhang weder objektiv bestanden habe noch von Nationalsozialisten wie Hitler und Goebbels gesehen worden sei, hätten diese sich propagandistisch auch auf christliche Judenfeindschaft berufen, um überzeugte Christen für ihre Politik zu gewinnen (69, S. 305f.; 19, S. 166 f.).
Den religiöse Faktoren hervorhebenden Interpretationen des Nationalsozialismus wie des modernen Antisemitismus allgemein wird gleichermaßen vorgeworfen, einen qualitativen Sprung der Judenfeindschaft durch die Entwicklung des Rassismus zu ignorieren. Jacob Katz erwähnt den Rassismus zwar, spielt seine Bedeutung aber herunter (29, S. 323 – 326). Auf diese Weise entstehe, so die von Christhard Hoffmann zusammengefassten Einwände, das Bild einer „ewigen Judenfeindschaft“. Ein solches Bild entspringt eher moralisch-theologischem als historischem Erkenntnisinteresse. Es steht in enger Verbindung mit Vorwürfen, die in öffentlichen Debatten an die christlichen Kirchen von außen herangetragen, aber gerade auch von innen als Selbstkritik geäußert werden. Dabei „geht es oft weniger um die Erklärung des Antisemitismus und seiner Entstehungsbedingungen an sich als um die Frage, inwieweit das Christentum für den Antisemitismus verantwortlich sei, mit welchem Selbstverständnis und wie traditionskritisch es dem Massenmord an den Juden gegenübersteht. Von daher wird die religiöse Komponente der Judenfeindschaft eher isoliert behandelt, und es findet sich eine gewisse Fixierung auf das Thema“ (69, S. 297).
Angesichts dieser Fixierung wird häufig übersehen, dass es „das“ Christentum zumindest in der Neuzeit gar nicht gegeben hat. Christen verschiedener Konfessionen haben in verschiedenen Ländern zu verschiedenen Zeiten ganz unterschiedliche Verhaltensweisen gegenüber Juden an den Tag gelegt. In der protestantischen Glaubensrichtung des Calvinismus zum Beispiel wurden traditionell negative Bilder vom Judentum durch die Vorstellung einer gemeinsamen Zukunft von Juden und Christen als „erwähltes Volk Gottes“ eingeschränkt, wenn nicht aufgehoben. Die Geschichte stark calvinistisch geprägter Länder wie die der Niederlande oder der Schweiz zeichnete sich in der Moderne durch ein Klima der relativen Toleranz gegenüber jüdischen Minderheiten aus. Jedenfalls spielte antijüdische Gewalt hier eine wesentlich geringere Rolle als in Nord- und Ostdeutschland, wo der lutheranische Glaube dominierte. Selbst innerhalb derselben christlichen Konfession konnte es beträchtliche Unterschiede in der Haltung gegenüber Juden geben. Das gilt sogar für die von einer beispiellos straffen Organisation unter zentraler Leitung zusammengehaltene katholische Kirche: Während das erzkatholische Polen sich über Jahrhunderte den Ruf einer Hochburg der Judenfeindschaft erwarb, konnte das nicht weniger katholische Italien als Hochburg der christlichen Toleranz gelten. Trotz identischer theologischer Vorgaben entwickelte sich das christlich-jüdische Verhältnis in verschiedenen nationalen Kontexten gänzlich verschieden (69, S. 312; 88; 110, S. XVI).
Christentum bedingte also nicht immer Antisemitismus, zumindest nicht in immer gleichem Ausmaß. Aus christlichen Wurzeln konnte unter anderen Umweltbedingungen ganz Verschiedenes erwachsen. Das relativiert schon die Bedeutung religiöser Faktoren für Antisemitismus. Zudem gibt es Antisemitismus nicht nur in Ländern mit christlich geprägter Kultur, sondern auch in Japan oder arabischen Staaten. Man kann zwar argumentieren, dass japanischer und arabischer Antisemitismus Importe aus dem christlichen Europa darstellen. Selbst wenn das zutrifft, bliebe aber der Befund, dass die hässliche Pflanze Judenhass auch in Kulturen mit ganz anderen religiösen Traditionen gedeiht, also nicht auf von christlichen Wurzeln durchzogenen Nährboden angewiesen ist (90 und vgl. Kapitel 7).
Andererseits entwerten solche Befunde Annahmen über die Relevanz religiöser Faktoren nicht vollständig. Die meisten Historiker stimmen sogar darin überein, dass Religion letzten Endes die Grundlage der meisten, wenn nicht sogar aller Formen von Judenhass bildet. Der Bezug auf religiöse Traditionen wie die des Christentums allein bietet aber keine hinreichende Erklärung für Judenfeindschaft. Selbst wenn man die Betrachtung auf das von christlicher Tradition geprägte Europa beschränkt, dann fehlt „ein Erklärungsmodell für die Tatsache, dass diese Tradition nur in gewissen historischen Situationen einflussreich war, in anderen jedoch nicht; dass sie nur von einigen gesellschaftlichen Gruppen übernommen wurde und dass sie sich nur in manchen Ländern zu einem rassistischen Antisemitismus transformierte und radikalisierte“ (69, S. 309).