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3.2.2 Das Gebot der Nächstenliebe

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Dieses Gebot in seiner Gestalt als Doppelgebot der Gottes- und der Nächstenliebe kommt in allen drei synoptischen Evangelien vor (Mt 22,34–40; Mk 12,28–34; Lk 10,25–28).98 Seine zentrale Bedeutung zeigt sich schon daran, dass es im Matthäusevangelium als höchstes Gebot und zugleich als Quintessenz von Gesetz und Propheten, also des ganzen Alten Testaments bezeichnet wird (Mt 22,38 f.).99 In seiner lukanischen Variante lautet es: |64| «Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit all deiner Kraft und mit deinem ganzen Verstand, und deinen Nächsten wie dich selbst» (Lk 10,27). Es wird im Kontext extra darauf hingewiesen, dass dies keine neue, jesuanische oder christliche Sicht sei, sondern alte israelitische Tradition, die Jesus bestätigt: «Tu das, und du wirst leben» (10,28).

Die Bedeutung dieses Gebots lässt sich in Anlehnung an Herbert Haslinger100 in den folgenden fünf Punkten zusammenfassen:

 Die dem Nächsten gegenüber geforderte Liebe hat nicht viel mit unserem modernen, stark von der Romantik geprägten Verständnis von Liebe zu tun. Man muss den Nächsten nicht mögen, nicht sympathisch finden, um ihn zu lieben. Nicht um eine emotionale Verbundenheit geht es, sondern sehr viel nüchterner um die Bereitschaft zu konkretem, solidarischem Handeln angesichts einer bestimmten Notsituation, in der sich ein Mitmensch befindet.101

 Das Gebot ist ganz allgemein formuliert: Es fokussiert auf den Mitmenschen schlechthin, ob er jetzt Nahestehender oder Fremder ist, Freund oder Feind. Die Ausrichtung ist also universal, meint aber vor allem den notleidenden Mitmenschen.

 Diese universale Stossrichtung bringt es mit sich, dass Nächstenliebe im Extremfall auch die Feindesliebe mit einschliesst, von der Mt 5,43–48 in der Bergpredigt Jesu bzw. Lk 6,27 f.32–36 in Jesu Feldrede sprechen. Auch hier gilt: Nächstenliebe dem Feind gegenüber heisst nicht, ihn zum Freund zu gewinnen. Er bleibt ein Feind, ein Gegner, ein Konfliktpartner. Aber er soll auch als Feind fair, human behandelt werden: als Nächster oder Mitmensch eben.

 Die ganz irdisch-profane Nächstenliebe, also das solidarische, hilfsbereite Verhalten zum Mitmenschen in einer konkreten Notsituation, wird aufs Engste mit der religiösen Gottesliebe verbunden. Gott lässt sich nicht am helfenden Handeln gegenüber notleidenden Menschen vorbei lieben. Christliche Spiritualität kann es nicht geben ohne Solidarität |65| in sozialem Engagement.102 Herbert Haslinger pointiert: «Das Handeln dessen, der Nächstenliebe praktiziert, hat in sich und aus sich heraus – und nicht erst durch einen separaten ‹religiösen› Akt – die Qualität eines Handelns gemäss dem Willen Gottes.»103

 Nächstenliebe, wie sie in Jesu Gebot gefordert wird, setzt Selbstliebe voraus. Es geht nicht darum, den Nächsten anstatt oder auf Kosten meiner selbst zu lieben, sondern «wie mich selbst». Dahinter wird man die fundamentale menschliche Erfahrung und Erkenntnis vermuten dürfen, dass die Fähigkeit zur Liebe nur wächst, wenn jemand sowohl frei ist zu sich selbst als auch von sich selbst und dadurch für den Nächsten.

Diakonie - eine Einführung

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