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3.1.4 Die Erweiterung individuellen Helfens zu Ansprüchen kodifizierten Rechts
ОглавлениеIn der Tradition des Alten Testaments liegen neben vielfältigen ethischen Handlungsprinzipien vor allem ausformulierte Grundsätze sozialen Rechts vor. Silvia Schroer weist auf «die drei grossen Säulen der israelitischen Religion und Theologie» hin: Gesetz, Propheten und Schriften. «Alle drei Traditionskreise haben sich mit den Grundrechten von Menschen befasst, vorab mit den Grundrechten von freien israelitischen Männern, aber auch mit denen von verarmten und verschuldeten IsraelitInnen, mit denen der Fremden, der GastarbeiterInnen im Land oder der KriegssklavInnen.»58 Mit den Grundrechten ist nicht die auf dem westlich-abendländischen Menschenbild |50| fussende Rechts- und Gesellschaftsordnung gemeint. «So gab es unseren Begriff von Eigentum, der individuelle freie Verfügung beinhaltet, nicht. Es ging vielmehr um Nutzungsrechte Einzelner, aber zugunsten einer ganzen Sippe. […] Innerhalb der patriarchalen Herrschaftspyramide gibt es ein erschreckendes Ausmass von Verfügungsgewalt von Vätern über den Körper ihrer Töchter, von Männern über ihre Frauen. Der damalige Staat bemühte sich um die Schaffung eines für alle verbindlichen Rechts, hatte aber noch wenig Möglichkeiten, Rechtsbrüche zu kontrollieren und zu sanktionieren. Er blieb darin abhängig vom engmaschigen Netz der Sippenkontrolle. Trotz allem ist es eine ungeheure Arroganz, wenn wir deshalb meinen, dass altorientalische Kulturen kein Rechtsempfinden oder keine Utopie von Gerechtigkeit gehabt hätten.»59
Die Inhalte der alttestamentlichen Sozialgesetze, die Gottes Liebe in klare Solidaritätsregeln gegenüber den sozial Schwachen und Benachteiligten giessen, erweitern das individuelle und soziale Helfen erheblich. Die Ausrichtung auf rechtliche Regelungen für das Helfen leistet an und für sich schon einen wichtigen Beitrag zu einer Hilfekultur.60 Frank Crüsemann hat in zwei grundlegenden Aufsätzen die Grundlinien alttestamentlicher Hilfekultur als Beitrag zu einem angemessenen Verständnis von Diakonie dargelegt.61 Sie sind auch für unsere Ausführungen wegleitend. Crüsemann ist überzeugt, dass die Diakonie vom alttestamentlichen Befund her dem «ausdrücklichen Bezug auf die den sozial Schwachen zustehenden Rechte und ihre deswegen anzuerkennenden Ansprüche»62 ein stärkeres Gewicht beimessen müsste.
Der Schutz des Fremden ist eine der zentralsten Pflichten aller alttestamentlichen Rechtssammlungen.63 Die älteste Sammlung aus dem 8. Jh. v. Chr. hält in einer Zeit grösserer Flüchtlingsströme nach Juda und Jerusalem, die von der aggressiven Deportationspolitik der Assyrer ausgelöst wurden, sozusagen als Grundregel fest: «Einen Fremden sollst du nicht bedrängen und nicht quälen, seid ihr doch selbst Fremde gewesen im Land Ägypten» |51| (Ex 22,20; 23,9). Darin eingebettet werden die Rechte der Witwen und Waisen (Ex 22,21–23) sowie der Armen (Ex 22,24–26). Diese vier Sozialgruppen werden exemplarisch für die chronische Gefährdung bestimmter Menschen eingeführt, eine Typologie, die später durch die prophetische und deuteronomistische Tradition aufgenommen wurde, die gegen die Unterdrückung dieser sozial schwachen Gruppen ankämpfen.
Der Schutz der Fremden wird radikal zugespitzt: «Ein und dasselbe Recht gilt für euch, für den Fremden wie für den Einheimischen» (Lev 24,22). Dieser Rechtssatz wird in Verbindung mit dem Gebot der Nächstenliebe (Lev 19,18) nun zum Gebot der Fremdenliebe: «Wie ein Einheimischer soll euch der Fremde gelten, der bei euch lebt. Und du sollst ihn lieben wie dich selbst, denn ihr seid selbst Fremde gewesen im Land Ägypten; ich bin der HERR, euer Gott» (Lev 19,34). Die Evidenz des hier postulierten Rechts des Fremden auf Schutz liegt in der Erfahrung eigenen Fremdseins und dadurch gegebener Lebensbedrohung. Mit der Erinnerung an eigene Erfahrung des Fremdseins in Ägypten wird das Engagement für die Fremden, die nun dieselbe Erfahrung in Israel machen, gefordert. Dieser Motivationszusammenhang von eigener Erfahrung und Schicksal fremder Menschen wird zur ethischen Begründung eines der fundamentalsten Rechtssätze in Israel. Und schliesslich wird dieses Gebot im autoritativen Zuspruch Gottes begründet: «Ich bin der HERR, euer Gott». In der ganz weltlich-praktischen Solidarität gegenüber dem Nächsten und dem Fremden erweist sich nach israelitischem Glauben nichts weniger als die Anerkennung des Gottseins Gottes und die Respektierung seines Willens.