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3.1.3 Theologisierung sozialer Forderungen
ОглавлениеIm Verlauf der Reflexion und Verschriftung der mündlichen Tradition wurden die vorerst einmal einfach als weise erfahrenen und ethisch evidenten Forderungen an ein humanes Zusammenleben theologisiert, d. h. als in Gottes Willen und im göttlichen Gebot begründet interpretiert. «Es ist nicht zufällig, dass das biblische Liebesgebot der krönende Abschluss einer Reihe von Schutzbestimmungen für die Armen, die Fremdlinge, die Tagelöhner, die Tauben und die Blinden ist (Lev 19,9–18); und es ist auch nicht zufällig, dass biblische Rechtssetzungen und Gebote im Laufe der Entwicklung immer deutlicher religiös verstanden wurden, nämlich als Entsprechungen zum Handeln Gottes. Der barmherzige und gnädige Gott (Ex 34,6; Ps 103,8 etc.) selbst verschafft den Waisen und Witwen ihr Recht, liebt die Fremden und gibt ihnen Nahrung und Kleidung (Dtn 10,18). Er ist Vater der Waisen und Anwalt der Witwen (Ps 68,6). Sein Verhalten gilt es nachzuahmen.»56
Helfen beinhaltet Handlungen, die die Tendenz zeigen, die individuelle bzw. die Sippenmoral zu überschreiten. Das in der israelitischen Gesellschaft sich manifestierende Gefälle zwischen reich und arm wurde zuerst einmal durch den moralischen Appell an die Wohltätigkeit der Reichen zu lindern versucht: «Denn es wird immer Arme geben im Land, darum gebiete ich dir: Du sollst deine Hand willig auftun für deinen bedürftigen und armen Bruder in deinem Land» (Dtn 15,11).
|49| Weisheitliche Texte begründen die Evidenz der den Armen geschuldeten Hilfe schon früh in der Königszeit mit der Einbettung allen Lebens in den Schöpfungszusammenhang: «Reiche und Arme begegnen sich, erschaffen hat sie alle der Herr» (Spr 22,2). Es ist fundamental mit dem Menschsein gegeben, dass einer, der dem Armen das kärgliche Brot vorenthält, ein Blutsauger ist (Sir 34,25). Wer dem Mitmenschen den Unterhalt wegnimmt, ist ein Mörder (Sir 34,26). Und wer dem Arbeiter den Lohn vorenthält, vergiesst Blut (Sir 34,27 f.). Helfen gehört fundamental zum Menschensein, hat in der Sippe seinen Ort und wird von ausgewiesenen Personen oder dem König vermehrt erwartet. Mit Manfred Oeming ist allerdings auch festzuhalten: «Sozialhilfe in Form von Mildtätigkeit für die Unterschicht ist nichts Spezifisches für Israel, eher allgemein altorientalisch, besonders im Kontext der Königsideologie, ja, allgemein menschlich. Die diakonischen Ansätze sind in den gesellschaftlichen Verhältnissen nur bescheiden entwickelt; Israel war eine hierarchische, auch ökonomisch elitär organisierte Agrargesellschaft, in die kaum demokratische Strukturen oder ein gesicherter Mittelstand implantiert waren. Vieles, ja alles wird vom König oder vom kommenden Messias erwartet, statt klare Programme zu entwickeln.»57