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1.3 Die Frage nach der Identität von Diakonie: die zweifache Falle

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Die erste Form von Diakonie, die individuelle, spontane Praxis von Mitmenschlichkeit, bedurfte und bedarf auch heute in der Regel keiner differenzierten Begründung. Hier wird getan, was aus einer konkreten Notsituation heraus als unmittelbar gefordert und entsprechend evident erscheint. Man hilft einem Verunfallten, unterstützt jemand Bedürftigen, besucht eine einsame Person. Man tut, was Nächstenliebe immer schon zu allen Zeiten und in allen Kulturen selbstverständlich getan hat. Dabei spielen ganz elementare Motivationsfaktoren eine Rolle, in unserem Kulturkreis etwa das biblische Gebot der Nächstenliebe. Mehr war und ist nicht nötig. Dass man zu tätiger Hilfe herausgefordert ist, steht kaum zur Debatte, und die grundsätzliche Frage nach dem Wie des Helfens erübrigt sich in der Regel auch. |23| Man hilft so, wie man es kann und wie es die Situation erfordert. Daran hat sich bis heute nicht viel geändert.8

Komplexer ist die Situation bei den beiden anderen Grundformen von Diakonie, dem kirchlichen Diakonat und der Anstaltsdiakonie. Im Blick auf die Diakonie als Tätigkeitsbereich eines kirchlichen Amtes hat sich im Verlauf der Kirchengeschichte immer wieder die Frage gestellt, wie dieses Amt auszugestalten, wofür es zuständig und von wem es auszuüben sei. Der kirchliche Diakonat wurde hineingezogen in die zum Teil heftigen Auseinandersetzungen um das angemessene Amtsverständnis der Kirche, obwohl sich die heiklen, zum Beispiel ökumenisch kontroversen Fragen gar nicht um das diakonische Amt drehen, sondern um das priesterliche resp. pastorale Amt sowie um das Amt der Kirchenleitung. In der deutschsprachigen reformierten Tradition, die seit Zwingli und Bullinger eine stark pfarrerzentrierte Amtsstruktur aufwies, kam es erst im 20. Jahrhundert zu einer Neuentdeckung des diakonischen Amtes, und dessen Stellung im Gegenüber zum nach wie vor dominanten Pfarramt bleibt bis heute eine viel diskutierte Frage, die nicht nur mit Theologie, sondern auch mit Macht und Einfluss von Berufsständen zu tun hat.9 Die Frage nach der Identität von Diakonie entwickelte sich hier also als Frage nach der Begründung von Diakonie als eigenständiges kirchliches Amt einerseits und nach seiner Zuordnung zu den anderen Ämtern und Diensten innerhalb der Kirche andererseits.10

Anders entwickelte sich die Frage nach der Identität der Diakonie in der Tradition der sogenannten Anstaltsdiakonie, also in den freien, mit der Kirche nur indirekt verbundenen diakonischen Werken. Hier waren es einerseits der Rückgang der einstmals grossen Zahl von Diakonissen und die |24| Übernahme mancher früher von ihnen wahrgenommenen Funktionen durch kirchlich nicht gebundene, säkulare Mitarbeitende, die die Frage aufkommen liessen, ob diakonische Werke damit ihren diakonischen Charakter bzw. ihr religiöses Mandat verlören. Andererseits stellte sich die Frage ganz ähnlich durch den Ausbau des modernen, weltlichen Sozialstaats, der zahlreiche soziale Dienste, die zuvor von freien diakonischen Werken geleistet worden waren, übernahm. Ja, manche ehemals diakonischen Einrichtungen gingen ganz in die Trägerschaft der öffentlichen Hand über. Änderte sich dadurch etwas an der konkreten Dienstleistung, die in den entsprechenden Institutionen erbracht wurde? Und wenn ja: War das zu begrüssen oder zu bedauern? Viele diakonische Werke sind heute umgetrieben von der Frage nach ihrer Identität, nach dem, was sie gegenüber anderen, nicht religiös fundierten sozialen Institutionen auszeichnet. Die Frage nach dem diakonischen Proprium, also nach dem Besonderen der Diakonie gegenüber säkularer Sozialarbeit, Pädagogik, Pflege oder Betreuung, füllt inzwischen eine ganze Bibliothek.11

Mit der gesellschaftlichen Säkularisierung, die die reformierten Volkskirchen wie die meisten grossen Diakoniewerke in beträchtlichem Ausmass als eine innere Selbstsäkularisierung nachvollzogen haben,12 und mit dem zunehmenden kirchlichen Identifikationsdefizit der Mehrheit der Kirchenmitglieder hat sich eine analoge Frage auch im Blick auf das diakonische Amt in der Kirche gestellt: Wie viel kirchliche Identifikation und wie viel theologische Grundkenntnisse müssen Sozialdiakoninnen und Sozialdiakone aufweisen, um angestellt werden und ihren Auftrag sachgemäss erfüllen zu können? Auch von hierher stellt sich heute die Frage nach der Identität der Diakonie im Sinne des kirchlichen Diakonats.

Bei solchem heutigen Fragen nach der Identität von Diakonie gibt es eine doppelte «Falle», in die manche Diskussionen geraten. Die eine «Falle» zeigt sich vornehmlich als Problem des volkskirchlichen Amtes der Gemeindediakonie: In den vergangenen Jahrzehnten haben sich immer wieder ausgebildete Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter von Kirchen als Gemeindehelferinnen und Gemeindehelfer oder als kirchliche Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter anstellen lassen, ohne ihre berufliche Aufgabe aber als spezifisch kirchliches, diakonisches Amt verstehen zu wollen. Das zeigte sich mitunter darin, dass in der Diskussion um die Ordination zum Diakonat gerade die als Sozialarbeiter ausgebildeten Berufstätigen sich zum Teil dezidiert weigerten, sich ordinieren zu lassen. Darin zeigt sich eine innere Distanz |25| zum theologisch expliziten Auftrag und Kirchesein der Kirche, die letztlich mit einem diffusen, inhaltlich nicht geklärten Bezug zum eigenen beruflichen Auftraggeber einhergeht. Hier kommt es zu einem Verlust des ekklesialen Bezugsrahmens und zu einer kirchlichen Identitätsdiffusion von Sozialdiakoninnen und Sozialdiakonen, die um des Zeugnisses und der Identität der Kirche willen der Klärung bedarf.

Die andere, entgegengesetzte, «Falle» zeigt sich bei Diakoniewerken in einem manchmal geradezu zwanghaft anmutenden Versuch, sich in den eigenen sozialen Dienstleistungen von anderen, nicht religiös fundierten Institutionen abzugrenzen. Diakonie wird dann als «Sozialarbeit plus» verstanden und die eigene Daseinsberechtigung davon abhängig gemacht, dass man eben anders sei als andere. In diesem «anders» schwingt – oft unbewusst, zuweilen bestritten, aber von vielen doch spürbar wahrgenommen! – ein «besser» mit. Das Anderssein wird als Auftrag empfunden und zur Forderung an Mitarbeitende erhoben. Hier geschieht ein Stück theologische Überhöhung sozialen Handelns, die nicht hilfreich ist, sondern für manche Mitarbeitende Probleme schafft und deshalb ebenfalls einer Klärung bedarf.

Geht es also bei der ersten «Falle» um ein theologisches Defizit in der diakonischen Identität von kirchlichen Mitarbeitenden, so bei der zweiten «Falle» um eine problematische theologische Überhöhung helfenden Handelns in diakonischen Institutionen.

Diakonie - eine Einführung

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