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3.1.2 Das Gebot der Nächstenliebe
ОглавлениеZentral für das alttestamentliche Ethos ist das Gebot der Nächstenliebe in Lev 19,18: «Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.» Herbert Haslinger macht deutlich, dass dieses Gebot «nichts von der individualistischen Pflege eines harmlosen, diffusen Sympathiegefühls an sich hat, aber – wie an seiner Rückbindung an die eigene Person (‹wie dich selbst›) abzulesen ist – auch nichts von der Naivität einer altruistischen Aufopferungsideologie. Die unmittelbar vorausgehenden bzw. nachfolgenden Bestimmungen zur Armenfürsorge (Lev 19,9 f.), zum Verbot von Diebstahl und Meineid (Lev 19,11 f.), zum Verbot der Ausbeutung und Schädigung Schwacher (Lev 19,13 f.), zum Verzicht auf Parteilichkeit oder Verleumdung (Lev 19,15 f.), zum Respekt vor Alten (Lev 19,32), zur Fremdenliebe (Lev 19,33 f.) und zur Ehrlichkeit vor Gericht (Lev 19,35 f.) definieren die Qualität des Gebots der Nächstenliebe. Es ist eingebunden in das Bemühen um Gerechtigkeit speziell für sozial benachteiligte Menschen und zielt auf die Verwirklichung einer solidarischen, humanen Gesellschaft, die getragen ist von dem Bewusstsein, dass jedem Menschen gleiche Würde und gleicher Wert zukommen.»54 Meint der Begriff Nächster hier wohl primär den Volksgenossen (unter Einschluss der in Israel ansässig gewordenen Fremden), tendiert die geforderte Haltung solidarischer Liebe doch ganz entschieden |48| dazu, die engen Volksgrenzen zu sprengen, was sich daran zeigt, dass in Lev 19,34 das Gebot der Nächstenliebe mit der gleichen Redewendung zum Gebot, den Fremden zu lieben, erweitert wird: «Du sollst ihn (sic. den Fremden) lieben wie dich selbst.»
Diese Haltung von Lev 19 macht deutlich – v. a. wenn sie noch zusammen gesehen wird mit Dtn 6,5 («Du sollst den HERRN, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit deiner ganzen Kraft») –, dass die für das Diakonieverständnis verhängnisvolle Behauptung Gerhard Uhlhorns, das Liebesgebot sei eine christliche Neuerung, weil die Welt vor Christus eine Welt ohne Liebe gewesen sei,55 vollkommen verfehlt ist. Im Gegenteil erweist sich das sogenannte Doppelgebot der Liebe, das immer wieder als christliches Proprium gedeutet wurde, als eindeutiges Erbe des Alten Testaments.