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3.1.1 Hilfe als soziales Handeln im Kontext von Sippensolidarität

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Hilfe kommt im Alten Testament vor allem als Lebenshilfe im Rahmen der Familien- bzw. Sippensolidarität in den Blick. Solidarisches Handeln kam in diesem gesellschaftlichen Kontext ohne spezielle Institutionen und Expertenwissen aus. Die Sippe war in vorstaatlicher wie auch in staatlicher Zeit lange der einzige Bezugsrahmen, der Leben und Überleben ermöglichte. Beispiele solch gelebter Solidarität sind etwa die sogenannte Schwager- oder Leviratsehe (Dtn 25,5–10), also die Verpflichtung eines Mannes, beim vorzeitigen Tod seines Bruders dessen verwitwete Frau zu heiraten, damit deren soziale Einbindung und materielle Absicherung gewährleistet blieb; oder das Gebot, Vater und Mutter zu ehren (Ex 20,12), was konkret deren materielle Unterstützung und soziale Würdigung im Alter meint.

In den alttestamentlichen Texten kommen immer wieder typische existenzielle Notsituationen zur Sprache, zu deren Behebung Menschen auf die unmittelbare Hilfe anderer angewiesen waren. So zeigt etwa die Rut-Novelle in der Person von Rut sehr schön, wie im Horizont der Sippensolidarität die Probleme der Witwenschaft, der Kinderlosigkeit und des drohenden Hungers gelöst wurden: Ruth wurde ermöglicht, bei ihrem Verwandten Boas Ähren auf dem Feld zu sammeln (Rut 2,3 ff.), um so sich und ihre ebenfalls |46| verwitwete Schwiegermutter Noomi zu ernähren. Zugleich verhalf Boas Rut zu einer neuen (Schwager-)Ehe und zeugte mit ihr einen Sohn (Rut 3,1–17). Dadurch war sie bis an ihr Lebensende rechtlich, sozial und materiell abgesichert.

Für helfendes Handeln erweist sich das Ethos der selbstverständlichen Gastfreundschaft immer wieder als massgebend. Die Gastfreundschaft, insbesondere gegenüber Fremden, gehört zur allgemeinen altorientalischen Kultur und kommt in der Szene des Besuchs der drei Fremden beim Erzvater Abraham und seiner Frau Sara exemplarisch zum Ausdruck (Gen 18,1 ff.). Helfen heisst, Fremde als Gäste aufnehmen, sie mit Höflichkeit und Respekt behandeln, ihnen Schutz, Obdach und Speise gewähren. Die eigene Erfahrung von Fremdsein und Angewiesensein auf die Gastlichkeit Einheimischer prägt dabei die ganze Geschichte der Erzväter (Abraham: Gen 17,8; 23,4; Isaak: Gen 26,3; Jakob: Gen 28,4) sowie die Exodus-Tradition (Ex 6,4).

Exemplarisch für Notsituationen, die zu helfendem Handeln herausfordern, werden einerseits immer wieder Menschengruppen genannt, die ihre fundamentalen Lebensbedürfnisse nicht selbst abdecken können: Hungrige etwa, die darauf angewiesen sind, dass jemand ihnen Nahrung gibt, oder Nackte, die der Kleidung bedürfen (Ez 18,7). Andererseits kommen stereotyp Menschen in den Blick, die selbst nicht rechtsfähig und darum besonders leicht zu manipulieren und zu unterdrücken sind: Fremde, Witwen und Waisen (Jer 7,6).51

Die Funktion des Helfens im Blick auf in Not geratene Menschen wird nicht nur als selbstverständliche Pflicht jedes Israeliten verstanden. Beispielhaft dafür stehen weise Frauen oder Ratgeberinnen. Neben Prophetinnen kennt die alttestamentliche Tradition «weise» Frauen, die sich in politischen Notsituationen hilfreich einmischen und sich so massgeblich für die Rettung von Menschenleben einsetzen (vgl. 2Sam 14,1 ff.; 20,14 ff.). Explizit wird erwähnt, dass Frauen bei der Geburt helfen (Ex 1,15–22), Fluchthilfe betreiben (Jos 2), diplomatische Verhandlungen führen und durch weise Vermittlungsarbeit Konflikte für das ganze städtische Gemeinwesen schlichten (1Sam 25; 2Sam 20,14–22) sowie Fremde aufnehmen (1Kön 17).52

|47| Der explizite Auftrag des Helfens wird jedoch auch exemplarisch der Funktion des Königs zugeschrieben. In Psalm 72 wird das Idealbild eines Königs entworfen und von ihm erwartet, dass er «Recht schaffe den Elenden des Volkes, helfe den Armen und zermalme die Unterdrücker. […] Denn er rettet den Armen, der um Hilfe schreit, den Elenden, dem keiner hilft. Er erbarmt sich des Schwachen und Armen, das Leben der Armen rettet er. Aus Bedrückung und Gewalttat erlöst er ihr Leben» (Ps 72,4.12–14). Die Ausübung von Herrschaft wird an der Hilfekultur und Sorge im Blick auf die Armen gemessen.53 Die Kategorie Arme umfasst dabei sehr weit verstanden Menschen in irgendwelchen Situationen von Not und Bedrängnis.

Diakonie - eine Einführung

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