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2.2 Gesamtbiblisch zurückfragen
ОглавлениеAus der Perspektive einer solchen erweiterten Fragerichtung ergibt sich ganz von selbst, dass eine biblische Grundlegung nur durch Rückgriff auf den ganzen Kanon, also auf die Zeugnisse des Neuen und des Alten Testaments erfolgen kann. Alles andere wäre willkürlich und theologisch einseitig.20
In der weithin üblichen Fokussierung auf die neutestamentlich-jesuanischen Grundlagen diakonischen Handelns spiegelt sich eine lange Tradition bedenklicher Überheblichkeit des Christentums gegenüber dem Judentum, die sich als fruchtbarer Nährboden für Antijudaismus und Antisemitismus erwiesen hat. Krass kommt das in Gerhard Uhlhorns Standardwerk über «Die Christliche Liebesthätigkeit» (1896) zum Ausdruck. Der erste Band wird mit der vielzitierten These eröffnet: «Die Welt vor Christo ist eine Welt ohne Liebe.»21 Angesichts der unbestreitbaren Tatsache, dass das Judentum schon vor Christus eine breite Tradition der Fürsorge |33| und Wohltätigkeit kannte,22 behauptete Uhlhorn etwa im Blick auf das karitative Engagement der Pharisäer schlicht: «Die Pharisäer geben Almosen, aber ohne Liebe.»23 Solche extremen Urteile scheinen uns heute abstrus. Dennoch sollte man sich nicht darüber hinwegtäuschen, dass die dahinterliegende Vorstellung tiefe Spuren hinterlassen hat. Anders wäre kaum zu erklären, was Frank Crüsemann noch 1990 zu Recht beklagte, dass nämlich «eine solche Sicht bis heute nachwirkt und in der nahezu ausschliesslich neutestamentlich bestimmten theologischen Grundlage von Diakonie nachhaltig zum Vorschein tritt».24 Wie nachhaltig diese neutestamentlich-christologische Engführung auch bei modernen diakoniewissenschaftlichen Ansätzen wirkt, wird vor allem in Kap. 5 noch ausführlich zu zeigen sein.25
Ausdruck solcher einseitigen Spuren sind die einleitenden Sätzen des Diakonielehrbuchs von Reinhard Turre, wenn er zwar zugibt, dass «zur biblischen Grundlegung (der Diakonie) auch die alttestamentliche, besonders die prophetische Mahnung gehört, dass der Glaube an Gott sich zu bewähren habe in der Hilfe für die Schwachen und Kranken», dann aber sogleich die Behauptung anfügt, dass «erst im Neuen Testament eine neue Qualität des Dienstes beschrieben und verlangt wird», weshalb es nach seiner Ansicht durchaus legitim und sinnvoll ist, den biblischen Rückbezug auf eine Darstellung der Diakonie im Neuen Testament zu beschränken.26
Ein solcher einseitiger Bezug auf die biblischen Grundlagen muss, wie noch zu zeigen sein wird, unweigerlich zu einem in wesentlichen Punkten defizitären Diakonieverständnis führen. In unserem Fragen nach einer |34| angemessenen theologischen Deutung solidarischer Mitmenschlichkeit als Basis für ein heutiges Diakonieverständnis beziehen wir uns darum dezidiert auch auf Perspektiven des Alten Testaments, von denen sich zeigen wird, dass sie von einer «Qualität» und Weite sind, die teilweise sogar über das hinausgeht, was das Neue Testament in diesen Fragen zu sagen hat. Klaus Müllers Hinweis gilt es jedenfalls zu beherzigen: «Diakonia – ohne Zweifel ein griechisches Wort – atmet hebräisches Denken!»27 Es scheint allerdings, dass in den letzten Jahren an diesem Punkt ein positives Umdenken eingesetzt hat, was sich etwa an der breiten Darstellung alttestamentlicher Grundlagen der Diakonie im Lehrbuch von Herbert Haslinger zeigt.28