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3.2.6 Gegenseitigkeit als Strukturprinzip des Helfens

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Das wechselseitige Annehmen und das gegenseitige Anteilgeben und Sich-Unterstützen, das in eine relativ enge Lebensgemeinschaft mündet, die mindestens ein Stück weit auch das Teilen ökonomischer Ressourcen einschliesst, sind von Beginn an zentrale soziale Gestaltungskräfte der christlichen Gemeinden.123 Daraus entwickelten sich relativ unhierarchische, solidarische Gemeinschaftsformen unter Menschen aus mehrheitlich niedrigen sozialen Schichten, die das Zusammenleben als ‹Leib Christi› in einem Geist der Gegenseitigkeit und Geschwisterlichkeit zum Ausdruck brachten.124 Dabei wurden bewusst Positionsbezeichnungen vermieden, die einzelne Mitglieder der Gemeinschaft über andere erhoben hätten.125 Männer taten sich bisweilen mit dieser antihierarchischen Struktur schwer (Mk 10,35–45). Verbunden mit dem Abbau der ungleichen Beziehungsstrukturen war der Aufbau solidarischer Gemeinschaftsformen von unten, die auf gegenseitige Unterstützung und Teilen in geistlichen wie materiellen Belangen Wert legten. Klassisch dafür sind etwa die zwei Summarien, in denen Lukas die Lebenssituation der Jerusalemer Urgemeinde beschreibt:

|74| Alle Glaubenden hielten zusammen und hatten alles gemeinsam; Güter und Besitz verkauften sie und gaben von dem Erlös jedem so viel, wie er nötig hatte. (Apg 2,44 f.)

Die ganze Gemeinde war ein Herz und eine Seele, und nicht einer nannte etwas von dem, was er besass, sein Eigentum, sondern sie hatten alles gemeinsam. […] Ja, es gab niemanden unter ihnen, der Not litt, denn die, welche Land oder Häuser besassen, verkauften, was sie hatten, und brachten den Erlös des Verkauften und legten ihn den Aposteln zu Füssen und es wurde einem jeden zuteil, was er nötigt hatte. (Apg 4,32–35)

Mit dieser sicher idealisierend überzeichneten, aber sich dennoch auf eine historische Realität stützenden126 Charakterisierung des Lebens der Urgemeinde wollte Lukas bei gebildeten griechischen Lesern seines Werks wohl bewusst Erinnerungen an eine verbreitete Vorstellung antiker Philosophie von der idealen, gerechten Gesellschaftsform hervorrufen und so die Attraktivität des christlichen Lebensentwurfs ins rechte Licht rücken. Immerhin weist Gerd Theissen darauf hin, dass das Urchristentum gerade wegen seiner karitativen Leistungen und solidarischen Gemeinschaftsstruktur grosse Anziehungskraft auf seine Umwelt ausübte und dass «in einer Welt mit schwach entwickelten sozialen Sicherungssystemen der soziale Bedarfsausgleich in den Gemeinden Schutz gegen die Grundrisiken des Lebens bot».127 Theissen hat aufgezeigt, dass im Unterschied zur griechischen Antike, in der Wohltätigkeit primär ein aristokratisches Phänomen war und im sozialen Gefälle von oben nach unten praktiziert wurde, urchristliche Hilfe «im wesentlichen horizontale Solidarität war – eine Intensivierung der Hilfe unter Gleichgestellten.»128 Indem einfache Menschen die aristokratische Spendermentalität übernahmen (vgl. das von Paulus zitierte Jesuswort: «Geben ist seliger als nehmen», Apg 20,35), vollzogen sie selbstbewusst so etwas wie eine «Demokratisierung aristokratischer Wohltätermentalität».129 Kleine Leute nehmen auf einmal die Möglichkeit wahr, zu Wohltätern füreinander zu werden.130

|75| Damit bekommt helfendes, solidarisches Handeln einen stärker egalitären, auf Gegenseitigkeit tendierenden Zug. Das deckt sich auch mit der exegetischen Beobachtung von Gerhard Lohfink, wonach in den Aufforderungen zu prosozialem Verhalten in der neutestamentlichen Briefliteratur das Reziprokpronomen «einander» (allēlōn) eine wichtige Rolle spielt: So werden die Christen aufgefordert, einander Ehre zu erweisen (Röm 12,10), einander anzunehmen (Röm 15,7), einander zurechtzuweisen (Röm 15,14), füreinander zu sorgen (1Kor 12,25), einander zu trösten (1Thess 5,11), einander Gutes zu tun (1Thess 5,15), einander Gastfreundschaft zu erweisen (1Petr 4,9) usw.131

Ein ähnliches Phänomen zeigt sich bei der sogenannten ökumenischen Kollekte, die Paulus im Einflussbereich der von ihm gegründeten heidenchristlichen Gemeinden sammelt, um mit ihrer Hilfe die materiell verarmte Jerusalemer Urgemeinde finanziell zu unterstützen. Sie zeigt deutlich, wie Paulus christliche Gemeinschaft auch zwischen entfernten Gemeinden als einen Ausgleich des Nehmens und Gebens versteht. Hilfe ergeht nicht unidirektional von den Starken/Reichen zu den Schwachen/Armen, sondern in Gegenseitigkeit: Die jetzt verarmte Jerusalemer Urgemeinde, von der das Evangelium ausging, gab den griechischen, heidenchristlichen Gemeinden Anteil an ihrem geistlichen Reichtum; entsprechend ist es nichts als recht, wenn die heidenchristlichen Gemeinden den Jerusalemern nun ihrerseits etwas von ihrem materiellen Reichtum geben (Röm 15,26 f.). Ziel der Spendensammlung für die Jerusalemer Gemeinde ist nach Paulus das Herstellen eines Ausgleichs: «Im jetzigen Zeitpunkt möge euer Überfluss ihren Mangel aufwiegen, damit auch ihr Überfluss euren Mangel aufwiege, so dass es zu einem Ausgleich kommt» (2Kor 8,14). Für das hier sich zeigende Verständnis von Hilfe ist beides zentral: der Gedanke des Ausgleichs und der Gesichtspunkt der Gegenseitigkeit, denn darin spiegelt sich nach Paulus der egalitäre Grundzug christlicher Geschwisterlichkeit.132

Dieser Ansatz der Gegenseitigkeit (Mutualität) wurde in den letzten Jahrzehnten von der feministischen Theologie aufgenommen. In der exegetischen Arbeit am Begriff diakonein entfaltete Elisabeth Schüssler |76| Fiorenza den Begriff der «Gleichheit von unten»,133 und in Bezug auf die Sozialarbeit entwirft Ina Praetorius die Grundsätze einer Ethik der Gegenseitigkeit, in der «Freiheit und Dienst gegenseitig gewährt und geleistet werden».134 Nur so ist gutes Überleben für alle möglich. Eine menschenfreundliche Kultur des Helfens im Sinne von helfen und Hilfe erhalten trägt in sich die gegenseitige Bezogenheit von Bedürfnis und Möglichkeit. Das diakonische Handeln gründet sich in diesem vor allem in der paulinischen Literatur für das Kirchenbild prägenden Ansatz der gegenseitigen Anteilnahme und Erbauung.

Diakonie - eine Einführung

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