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Eine neue Zeitrechnung

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Im Ziel des RAA beginnt eine neue Zeitrechnung. Er hält sich nicht lange damit auf, sich selbst zu gratulieren – das erledigen andere für ihn. Christoph Strasser wäre nicht der Champion, der er ist, würde für ihn hier eine verkorkste Saison vorzeitig ablaufen und nicht eine neue, wichtigere, verfrüht beginnen. Ein paar Tage Pause nur, darauf hat sich sein faules Fenster über die Jahre verkürzt, dann sitzt er wieder auf dem Rad und an den Plänen, die längst seinen engsten Kreis verlassen haben; und eigentlich wollten sie ihn, alle, bereits in diesem Herbst dort sehen, in Colorado, wie er sich am Unmöglichen versucht.

Christoph hat sich schon so an die Erwartungshaltung gewöhnt, dass sie ihn kaltlässt. Beinahe. Denn seine Existenz hängt nicht nur vom Erfolg, sondern vor allen Dingen vom Geschichtenerzählen ab und das ist, seit Ausbruch der Pandemie, nicht einfacher geworden. Vorträge verlangen konzipiert zu werden, Jahr für Jahr ausgeschmückt mit neuen, anderen Erfahrungen, die auch er nicht aus dem Ärmel schüttelt. Natürlich, er kann nicht klagen, aber ein kleiner Zweifel bleibt, ob denn alles wieder so werden wird wie vorher.


Sein Vorteil: Er kennt diese nagenden, bohrenden Quälgeister und weiß mit ihnen umzugehen. Denn auch wenn selbst seine treuesten Fans sich daran heute nicht mehr erinnern können, selbst wenn diese Phase seiner Karriere heute begraben ist unter Superlativen: Es gab eine Zeit, da flogen sie ihm um die Ohren, bis er sich gar nicht mehr sicher sein konnte, ob es sich um Zweifel oder den gesunden Menschenverstand handelte, der ihm empfahl, oder eher befahl, doch bitte, endlich, die Reißleine zu ziehen, noch rechtzeitig vor dem freien Fall ins Bodenlose.

Die offenen Krankenhausrechnungen – selbst um die Einreisegenehmigung in die USA musste er bangen deswegen – stotterte er brav ab. Er lebte auf Sparflamme, trotz seines Status als einer der Besten, den er längst innehatte. Immer im vollen Vertrauen darauf, dass das, was er am leidenschaftlichsten tat, schließlich auch Früchte tragen würde. Sollte er zurück an die Universität, oder gleich als Vertreter Fahrräder verkaufen, um hartes Geld zu verdienen? Keine ernsthaften Fragen für ihn.

Damals sagte man ihm nach, er könne nicht zu Ende fahren, er sei und bleibe das ewige Talent. Er habe einfach nicht die Härte, nicht den Kopf. »99 Prozent Kopf, 1 Prozent Körper« – einer dieser Heldenmythen seines Sports. Er hält das für ausgemachten Schwachsinn, hatte immer Vertrauen in sein Team, die Vorbereitung, und auch in seine Fähigkeit, aus Krisen mental stärker hervorzugehen.

Auch wenn ihm die Pandemie und ihre Begleiterscheinungen Kopfzerbrechen bereiten wie lange nicht, kann er gerade in solchen Zeiten auf den Schatz aus schwierigen Erfahrungen bauen. Wie damals nach 2009, als er sich das Race Across America, seinen Lebenstraum, längst nicht mehr leisten konnte und wenig Aussicht darauf bestand, es sich jemals wieder leisten zu können. Monatelang standen die Räder in der Ecke, ehe er, zwei Jahre nachdem man ihn in Pratt, Kansas, mit einem Lungenödem aus dem Rennen nehmen musste, das legendäre RAAM dann doch völlig unerwartet gewann – im zweiten Anlauf und mit Riesenvorsprung.

Im Nachhinein bewertet Christoph den großen Rückschlag 2009 als Segen:

»Wenn ich heute zurückblicke, tut das erste RAAM zwar immer noch etwas weh, aber mittlerweile glaube ich, dass es für mich wirklich gut und gewinnbringend war. Scheiterst du bei deinem ersten Anlauf, wirst du auf eine echte Probe gestellt. Will ich das wirklich? Habe ich die Entschlossenheit, mir das nochmals anzutun? Wie wichtig ist mir das eigentlich? Wäre das erste RAAM bereits ein Erfolg gewesen, ich wäre vielleicht abgehoben, mein Ego wäre befriedigt, der Hunger gestillt gewesen. Aber nach einem derartigen Rückschlag musst du dir ehrlich deine Schwächen eingestehen. Das Gute daran ist, dass dir klar aufgezeigt wird, woran du arbeiten musst, wo du dich verbessern musst. Mir selbst Fehler einzugestehen, anstatt einen Misserfolg auf andere zu schieben, das ist wohl eine meiner Stärken. Heute glaube ich, dass mich das erste RAAM geformt und geprägt hat, gerade weil ich es nicht zu Ende gefahren bin. Ich entschied mich dafür, mich der Herausforderung nochmals zu stellen und alles dafür zu tun, um es in Zukunft doch noch zu schaffen, anstatt es als misslungenen Versuch abzutun und mich abzuwenden

1000/24: Christoph Strasser und die Jagd nach dem perfekten Tag

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