Читать книгу 1000/24: Christoph Strasser und die Jagd nach dem perfekten Tag - Christoph Strasser - Страница 19
ОглавлениеEs ist noch ein knappes Jahr hin bis zum geplanten großen Tag, doch die Zwischenziele sind niedergeschrieben und, wie immer bei ihm, unumstößlich. Das liebt er und nichts ist ihm so verhasst wie das Vermeidbare. Erst recht jetzt, in dieser Phase seiner Karriere, da er alles gewonnen hat und nur mehr verlieren kann, wenn er nicht weiter gewinnt. Während er daheim die erste Stunde der Trainingsausfahrt zerstreut vergehen lässt, um sich für den schwierigen Teil der Übung warmzufahren, wäscht viele Tausend Kilometer weiter westlich ein nächtlicher Gewitterschauer den Staub vieler Wochen ohne ohrenbetäubende Spritfresser vom Pikes Peak International Raceway am Rande von Fountain, Colorado. Denver, die nächste größere Stadt, ist zu weit entfernt, als dass ihr Schein das Oval, das einmal die schnellste Meile der Welt, ganz sicher die schnellste der USA gewesen sein soll, in nächtliches Licht tauchen könnte.
In Colorado infizieren sich zu dieser Zeit täglich in etwa so viele Menschen mit Corona wie in Österreich; damit steht der Bundesstaat ähnlich da wie seine Nachbarn, aber wesentlich besser als die dichtbesiedelten Küstengebiete. Die Pandemie hat das Land der unbegrenzten Möglichkeiten – das Land, vielleicht das einzige, in dem man ein Oval wie den Pikes Peak International Raceway findet, auf einer Hochebene und ausgelegt auf nichts als Höchstgeschwindigkeit – fest im Griff. Und das noch auf unbestimmte Zeit.
Aber die Windkanaltests sprechen eine eindeutige Sprache: Ohne den Pikes Peak International Raceway oder einen sehr, sehr ähnlichen Kurs kann es den Rekord, den er sich wünscht, nicht geben. Als wäre es nicht genug, die irrwitzige Menge an Training abzuspulen, natürlich ohne die kleinste Verletzung, den kleinsten Infekt, muss Christoph Strasser sich dieser Tatsache stellen: Zum ersten Mal seit langer, langer Zeit sitzt ihm die Unplanbarkeit im Nacken. Außerdem ist da die Frage, ob ein solcher Rekord in Zeiten von Corona überhaupt von Belang wäre, zumindest für jemanden wie ihn, der den Zivildienst im Altersheim als eine seiner prägendsten Erfahrungen schildert.
Christoph Strasser ist nicht die Rampensau, Typ Porschefahrer, der seinen Erfolg wie selbstverständlich nach außen trägt. Die Frage nach dem Porsche stellt sich nicht – Ultracycling ist für Enthusiasten, verhält sich zu Fußball wie Jazz zu Stadionrock –, doch das spielt keine Rolle. Einer wie er, der monatelang ohne Lenkerband fährt, weil er das vom Sponsor gestellte voreilig verkauft hat, um die Kasse zu füllen, verlernt die Demut nicht in ein paar Jahren. Noch heute fällt ihm das Geldausgeben schwer, isst er am liebsten zu Hause, macht sich nichts aus VIP-Empfängen und kleinen Portionen bei großem Gerede. Nur wenn es um seinen Beruf geht, ist er scheinbar maßlos, nahezu gierig, als gälte es, alle denkbaren Ziele mit Haut und Haaren zu fressen. Schonungs- und rücksichtslos, vor allem den eigenen Ressourcen gegenüber, könnte man denken, doch hinter allem steckt, was ihn betrifft, nicht nur wohlüberlegtes Kalkül, sondern ein gänzlich anderes Selbstbild, eine grundlegend andere Motivation.
»Gierig sehe ich mich nicht, auch nicht unersättlich oder geil auf neue Erfolge und Rekorde. Es ist viel simpler, viel emotionaler: Auf Erreichtes zurückzublicken, macht dich nicht glücklich, das macht dich vielleicht stolz – was mir nichts gibt. Ich bin dankbar und froh, wie gut die Dinge bisher gelaufen sind, aber trotzdem setze ich mir gerne neue Ziele. Der Grund: Auf dem Weg zu neuen Zielen zu sein, die kleinen Schritte vorwärts zu machen, sich etwas zu erarbeiten, aus dem Nichts aufzubauen, macht dich glücklich und erfüllt dich als Mensch. Der Moment, wo du es vielleicht tatsächlich schaffst, ist schön, aber die viel längere Phase, in der du dich auf dem Weg befindest und ebenso schöne Momente sammelst, ist viel nachhaltiger.«
Auch das Weitermachen im Angesicht einer Welt in Unsicherheit ist letztlich nichts anderes. Er tut es, weil es ihn erfüllt. Christoph Strassers Versprechen an sich selbst, seine Fans und Sponsoren, ist simpel: bereit zu sein, falls – wenn! – die kleinste Chance sich bietet.
Selten war Ultracycling ein Geduldsspiel wie in diesem Jahr, denkt er, senkt den Kopf gegen den Wind und zählt im Stillen die selbst in der kühlen Herbstluft schweißtreibenden Intervalle. Nummer vier jetzt, noch sechs sollen folgen. Das Surren der Kette über die ölverschmierten Ritzel bringt ihn in den Tunnel. Als er zu Hause dem dicken, braunen Elixir beim Eintropfen in die vorgewärmte Tasse zusieht, zufrieden, dass er es für heute hinter sich hat, geht in Colorado langsam die Sonne auf. Die felsigen Gipfel der Rocky Mountains glimmen golden, die dicht bewachsenen Hänge sind rostig verfärbt vom Indian Summer. Ein neuer Tag; einer mehr, oder einer weniger, je nachdem, wen man fragt. Er grübelt über die – vermeintlichen – 99 Prozent Körper nach, die er heute ein kleines bisschen vorangebracht hat. Beim Blick auf die verlockende Tasse Kaffee, voller Vorfreude auf die kleine Belohnung, spielt die Prozentklauberei für den Moment keine Rolle. Er wird dazu bereit sein, tiefer in die eigenen Beweggründe einzutauchen. So tief wie nötig, auf der einjährigen Reise zum perfekten Tag.