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DER ERSTE TAG Kapitel 3

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Es war Montagmorgen kurz nach sieben Uhr. Das Büro der Mordkommission in der Polizeidirektion Heidelberg lag noch verwaist in der Wochenendruhe. Im Morgengrauen drang wenig Licht durch die Glasfront an der Längsseite des zweckmäßig eingerichteten Raumes. Gegenüber der Fensterfront waren die ganze Wand entlang mehrere Aktenschränke aus dunkelbraunem Holz und silbern glänzenden Edelstahlstützen aufgereiht. Wenn man durch die Tür in der Mitte der Stirnwand hereinkam, schaute man links vor den Aktenschränken auf den Schreibtisch der Sekretärin Frau Siebert, die auch für technische Recherchen zuständig war. Auf der rechten Seite stand vor der Fensterfront ein runder Tisch mit fünf Stühlen, der zu Gesprächen verschiedenster Art diente. In der Mitte des Raumes hatten Oberkommissar Michael Brombach und Oberkommissarin Martina Lange ihre Arbeitsplätze, die einander gegenüberlagen, damit man bei der Arbeit problemlos Kontakt miteinander aufnehmen konnte. Vor der Rückwand dann der groß dimensionierte Chefschreibtisch, von dem aus man leicht den ganzen Raum überblicken konnte. Er war leer geräumt, weil der langjährige Leiter der Mordkommission, Eduard Bamberger, am vergangenen Freitag in seinen wohlverdienten Ruhestand verabschiedet worden war. Heute sollte sein Nachfolger Joseph Travniczek seinen Dienst antreten. Auf die Idee, den Raum durch Zimmerpflanzen oder Bilder an den Wänden etwas freundlicher zu gestalten, war bisher wohl noch niemand gekommen.

Wie fast jeden Tag kam auch heute die Sekretärin Melissa Siebert schon deutlich vor dem eigentlichen Dienstbeginn ins Büro. Die etwas rundliche, recht kleingewachsene Endfünfzigerin konnte sich nur mühsam fortbewegen, denn sie hatte drei große Blumensträuße und mehrere Plastiktüten voll mit Backwerk mitgebracht. Für den Einstand des neuen Chefs wollte sie das sonst eher sterile Büro freundlicher, lebendiger und wärmer erscheinen lassen. Sie nahm aus dem untersten Fach eines Aktenschrankes drei Vasen, füllte sie mit Wasser, stellte die Sträuße hinein und arrangierte sie sorgfältig. Dann ließ sie ihre stets freundlichen, hellblauen Augen durch den großen Büroraum schweifen, um zu entscheiden, wo die Blumen ihre größte Wirkung entfalten könnten. Sie stellte dann einen Strauß von zwanzig roten Rosen auf den Besprechungstisch, Sonnenblumen vor den Arbeitsplatz von Brombach und Frau Lange und einen bunten Herbstblumenstrauß direkt auf den Chefschreibtisch.

Sie hielt nochmals inne, um sich mit prüfendem Blick davon zu überzeugen, dass ihre Wahl gut war, und wandte sich dann der Kaffeemaschine zu. Es war ein tägliches Morgenritual. Mindestens zwei Löffel Kaffeepulver mehr als normal musste sie in den Filter schütten, weil sie wusste, dass das Team ohne ständigen Nachschub an starkem Kaffee nicht wirklich arbeitsfähig war und deshalb sämtliche Mörder im Großraum Heidelberg weiter unbehelligt frei herumlaufen würden. Als das Wasser durch die Maschine zu laufen begann, öffnete sich schwungvoll die Tür und Kommissar Michael Brombach trat ein, Enddreißiger, groß gewachsen, forscher Blick, erkennbar stolz auf seine durchtrainierte sportliche Figur, seine fast schwarzen Haare und die sonnengebräunte Haut. Er trug sehr enge, schwarze Jeans, ein ebenso eng anliegendes, schwarzweiß gestreiftes, oben offenes Hemd und graue Sportschuhe.

„Guten Morgen, Kommissar“, begrüßte ihn Melissa Siebert.

„Morgen“, entgegnete Brombach und nahm mit spöttischem Lächeln den Blumenschmuck zur Kenntnis. „Der gute Melissengeist hat mal wieder für Leben in der tristen Bude hier gesorgt. Schlechte Zeiten für Heidelbergs Mörder. Die fangen wir jetzt doppelt so schnell.“

„Ach, Brombach, wenn du meinst, ich hätte die Blumen für euch Ignoranten besorgt, so irrst du gewaltig. Hast du vergessen, dass heute ein besonderer Tag ist?“

„Das fällt mir jetzt grade nicht ein.“

„Aber heute kommt doch unser neuer Chef! Und der soll doch gleich einen guten Eindruck von uns bekommen. Du weißt doch: Der erste Eindruck ist immer der wichtigste.“

„Ach, jetzt versteh ich. Du willst dich bei dem Neuen, Tawizik, oder wie der heißt, einschleimen!“

„Jetzt red doch keinen Quatsch! Wir haben hier eine Reihe von Jahren gut zusammengearbeitet und – “

„Eben“, unterbrach Brombach.

„Was heißt eben?“

„Eben heißt eben! Wir haben hier in der Tat seit fast zehn Jahren mit dem alten Bamberger blendend zusammengearbeitet, haben anerkanntermaßen sehr gute Arbeit geleistet. Wir hatten mehrere Jahre hintereinander landesweit die höchste Aufklärungsrate. Dann verabschiedet sich der Bamberger in den Ruhestand. Zur Abschiedsfeier kommt sogar der Innenminister, labert hier herum, überschüttet uns, die Heidelberger Mordkommission, mit Lobeshymnen und was dann? Sie setzen uns diesen Tschechen oder Slowaken vor die Nase!“

„Also, Kommissar Brombach, bitte keine fremdenfeindlichen Ressentiments! Du hast wohl im Geschichtsunterricht geschlafen. Es gab vor dem Zweiten Weltkrieg das Sudetenland, aus dem nach Kriegsende über drei Millionen Deutsche vertrieben worden sind, von denen viele tschechisch klingende Namen hatten. Und übrigens, der Mann heißt Travniczek.“

„Das mag ja alles sein und ich habe gegen den Mann auch nichts persönlich. Ich bin nur sauer auf diese hochherrschaftlichen Verwaltungsfuzzis. Nach dem, was wir hier geleistet haben, hätte ich, oder meinetwegen auch Martina, die Leitung der Mordkommission übernehmen müssen.“

„Da gebe ich dir natürlich recht. Aber du weißt ja – “

Da klingelte das Telefon.

„Aha, die Arbeit ruft“, meinte Brombach wenig erfreut, während die Sekretärin den Hörer abnahm und dem Anrufer eine Weile zuhörte. Melissa Siebert verdeckte das Mikro des Hörers mit der Hand und wandte sich an Brombach.

„Kommissar, die Pforte ruft an. Sie hätten dort einen Herrn Meyer-Hampel oder so ähnlich, der unbedingt mit jemandem von der Mordkommission sprechen will. Er wollte auch keine Andeutungen machen, um was es geht.“

„Dann sollen die uns diesen Hampelmann hochschicken. Wahrscheinlich wieder so ein üblicher Wichtigtuer, dem angeblich zwei Mörder durch den Vorgarten gelaufen sind. Und wenn man nachprüft, dann waren’s nur zwei Katzen. In der Regel Zeitverschwendung.“

Das Gespräch zwischen Brombach und der Sekretärin über den neuen Chef und die Ungerechtigkeit dieser Personalentscheidung wurde bald durch leises Klopfen an der Tür unterbrochen.

„Ja, bitte!“, rief Brombach in barschem Ton. Die Tür öffnete sich zögerlich zunächst nur einen Spalt. Es erschien ein ziemlich großer Kopf, der aber einem recht kleinen Mann gehören musste. Zwei verschmitzt lächelnde, recht weit auseinander stehende blaue Augen überflogen prüfend den Raum. Über buschigen Augenbrauen erhob sich eine leicht fliehende Stirn mit tiefen Geheimratsecken. Das hellbraune, schon etwas schüttere Haar war nach hinten gekämmt. Die Backenknochen standen leicht vor, der Mund war breit mit dicken Lippen und einem etwas struppigen Oberlippenbart. Im Zentrum prangte gleich einem Leuchtturm auf einer Insel eine große Adlernase.

„Hm, Entschuldigung, wenn ich störe. Bin ich hier richtig bei der Mordkommission?“

„Da sind Sie goldrichtig“, erwiderte Kommissar Brombach etwas ungeduldig. „Treten Sie bitte näher!“

Die Tür öffnete sich und gab den Blick frei auf die ganze Gestalt. Der große Kopf saß auf einem kurzen dicken Hals und einem im Verhältnis zum Kopf zu klein geratenen, aber doch sehr kräftigen Körper. Er trug eine hellbraune Lederjacke, ziemlich abgewetzt und wohl schon lange in Gebrauch, über einem lila Hemd, dessen zwei obere Knöpfe offen waren und den Blick auf eine dichtbehaarte Brust freigaben. Dazu trug er graue Leinenhosen, deren Bügelfalten ihren Namen nicht mehr verdienten, und dunkelbraune Schuhe, die offenbar schon länger mit keiner Schuhbürste mehr in Berührung gekommen waren.

„Darf ich Platz nehmen?“, fragte der Besucher.

„Aber gewiss doch“, antwortete Brombach und zeigte auf einen der Stühle an dem Tisch neben dem Eingang, auf dem Melissa Siebert den Rosenstrauß platziert hatte.

„Rote Rosen bei der Polizei! Damit hätte ich jetzt nicht gerechnet.“

„Sehen Sie“, gab Brombach lächelnd zurück, „die Polizei ist gar nicht so schlimm wie ihr Ruf. Aber zunächst einmal: Mit wem habe ich das Vergnügen?“

„O je, wie ungeschickt von mir! Ich hätte mich gleich vorstellen müssen. Das gehört sich ja eigentlich so. Aber Sie müssen entschuldigen, ich bin etwas nervös, Sie müssen nämlich wissen, ich hatte mein Lebtag noch nie mit der Polizei zu tun, und da ist man beim ersten Mal schon, ja, Sie wissen sicher …“

„Also, da machen Sie sich mal keine Sorgen. Angst haben müssen vor uns nur die Spitzbuben, und die richtig, aber für alle anderen sind wir – Sie kennen den Spruch – Freund und Helfer. – Aber jetzt zur Sache. Sie sind?“

„Meyer-Hampel, Wilfried.“

„Wohnhaft?“

„In München, Schwanenthalerstraße 14.“

„Sie wollen uns etwas mitteilen. Also bitte.“

„Ja, entschuldigen Sie, aber das ist nicht so einfach, ich weiß nicht so recht, wo ich anfangen soll.“

„Vorne am besten.“

„Ich will Ihnen natürlich nicht Ihre sicher sehr kostbare Zeit rauben. Aber um mich verständlich zu machen, muss ich etwas weiter ausholen.“

Während des Gesprächs war Melissa Siebert an den Tisch getreten, sah den Besucher freundlich lächelnd an und fragte: „Darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee anbieten?“

„Ach, ganz herzlichen Dank.“

„Aber ich warne Sie. Bei der Polizei trinkt man sehr starken Kaffee.“

„Dann vielleicht doch nicht. Wissen Sie, das Herz … ist nicht mehr ganz so, wie es sein sollte. Aber vielleicht ein Glas Wasser?“

„Aber selbstverständlich! Einen Augenblick.“

Brombach sah sie strafend an wegen ihrer, wie er fand, völlig überflüssigen Freundlichkeit und weil sie ihm keinen Kaffee angeboten hatte. Zu Meyer-Hampel gewandt: „Das ist hier unsere gute Seele. Ohne sie wäre es hier gar nicht auszuhalten. Aber jetzt endlich zur Sache. Was haben Sie zu sagen?“

„Entschuldigen Sie, aber eine Frage noch: Sind Sie hier der Chef?“

„Das nicht. Der hat gerade woanders zu tun. Aber Sie können sich ruhig mir anvertrauen. Also, jetzt endlich, schießen Sie los!“

„Na so was, bei der Polizei schießt man gleich. Aber Spaß beiseite. Also, das ist so. Ich habe vor Jahrzehnten hier in Heidelberg gelebt und habe neun Jahre im altehrwürdigen Kurfürst-Friedrich-Gymnasium16 verbracht und da 1974 Abitur gemacht. Dann ging ich nach München zum Studieren und habe dann dort eine Familie gegründet und mich beruflich etabliert. Meine Eltern starben früh, und so ist mein Kontakt zu Heidelberg abgerissen, da ich keine anderen Verwandten hier hatte.“

„Sie sind doch sicher nicht hergekommen, um uns das zu erzählen“, warf Brombach mit zunehmender Ungeduld ein.

„Natürlich nicht! Natürlich nicht! Aber Sie müssen entschuldigen, die Sache ist sonst nicht zu verstehen. Also – jetzt habe ich den Faden verloren – wo war ich stehengeblieben? Ach ja! Ich hatte, wie gesagt, den Kontakt zu Heidelberg verloren, es kamen Kinder, drei Mädchen, hinreißend süß waren sie, als sie klein waren. Ich müsste noch irgendwo Bilder aus dieser frühen Zeit haben. Aber das brauchen wir vielleicht wirklich nicht. Sie sind übrigens mittlerweile alle drei aus dem Haus, zwei sind verheiratet und haben selbst Kinder, ja die Enkelchen, das ist wirklich wunderschön mit ihnen. Aber entschuldigen Sie, ich schweife jetzt doch etwas ab. Also, um es kurzzumachen. Es ist jetzt ungefähr ein halbes Jahr her, da traf ich am Viktualienmarkt – Sie kennen den Viktualienmarkt? Einer der schönsten Plätze auf der Welt, wie ich finde …“

„Nein, kenne ich nicht, hatte noch nicht das Vergnügen, in München zu lustwandeln.“

„Das ist aber ein Fehler! Wissen Sie, München ist eine der schönsten Städte der Welt, die muss man gesehen haben!“

„Da haben Sie sicher recht, aber wir haben eben hier eine ganze Menge zu tun, und deswegen wäre ich Ihnen jetzt wirklich sehr dankbar, wenn Sie endlich zur Sache kämen!“

Inzwischen hatte auch Kommissarin Martina Lange das Büro betreten und Melissa Siebert zu verstehen gegeben, dass sie wieder einmal auf der Ziegelhäuser Landstraße im Stau gestanden hatte. Sie setzte sich neben Brombach an den Tisch.

„Darf ich vorstellen: meine Kollegin Lange.“

„Oh, sehr erfreut, sehr erfreut, aber mir fällt gerade auf, ich habe wohl Ihren Namen vergessen, oder – haben Sie ihn gar nicht genannt?“

„Jetzt muss ich mich entschuldigen: Kommissar Brombach.“

„Oh, sehr erfreut, Herr Kommissar. Ach, wo war ich denn stehengeblieben? Ach ja, bei den Enkelchen, aber ich wollte ja die Sache abkürzen, nein richtig, ich war ja schon einen Schritt weiter, am Viktualienmarkt. Wirklich wunderschön dort, das müssen Sie mir glauben. Also, dort traf ich, wie gesagt, vor etwa einem halben Jahr ganz zufällig einen alten Klassenkameraden. Wir kamen ins Gespräch über die vergangenen Zeiten, über die vielfältigen Schönheiten von Heidelberg. Natürlich auch die Mädchen, ja, damals waren wir noch jung. Das waren Zeiten. Wir erinnerten uns, dass wir gerne miteinander Schach gespielt hatten. Kurz und gut, nachdem wir unsere Adressen ausgetauscht hatten und ich merkte, dass er gar nicht – “

„Zur Sache bitte, unsere Zeit ist begrenzt und unsere Geduld nicht unendlich.“

„Ja, entschuldigen Sie, die Sache ist eben doch kompliziert und das Problem nicht so leicht zu verstehen. Also, wo war ich nochmal stehengeblieben? Ach ja, also, wir trafen uns, froh, uns wiedergefunden zu haben, seitdem regelmäßig zum Schach und zum Erzählen über alte Zeiten, und dann hatte mein Schulkamerad schließlich die wirklich hervorragende Idee, unsere Erinnerungen an Ort und Stelle aufzufrischen und eine gemeinsame Reise nach Heidelberg zu unternehmen, ohne Familien, nur wir zwei, um in die alten Zeiten einzutauchen.“

Er nahm einen genussvollen Schluck aus dem Glas Wasser, das ihm die Sekretärin inzwischen hingestellt hatte. Brombach und Lange warfen sich gequälte Blicke zu und nur Melissa Siebert bemerkte, dass die Augen des merkwürdigen Besuchers immer listiger und spöttischer blinzelten. Ihr schien, dass er sich ausgesprochen wohl fühlte und sich glänzend amüsierte. Sie hatte mehr und mehr das Gefühl, dass hier irgendetwas nicht stimmte. Er fuhr fort: „Also, wir kamen dann vor drei Tagen hier in Heidelberg an. Wir haben keine Kosten gescheut und sind im Hotel Ritter17 abgestiegen – Sie kennen doch sicher das Hotel Ritter, ist doch sehr berühmt, oder?“

Brombach wurde jetzt erkennbar zornig: „Natürlich kenne ich das Hotel Ritter, ich bin schließlich gebürtiger Heidelberger und habe noch nie in einer anderen Stadt gelebt. Aber jetzt bitte weiter und endlich zur Sache!“

„Ja, ja, wir sind ja schon am Punkt“, setzte Meyer-Hampel seine Ausführungen fort, unterbrach sich aber noch einmal, um einen weiteren genüsslichen Schluck aus dem Wasserglas zu nehmen. Inzwischen war auch Kommissarin Lange der eigenartige Gesichtsausdruck ihres Gastes aufgefallen. Irgendetwas schien auch ihr nicht zu stimmen.

„Also“, fuhr Meyer-Hampel endlich fort, „gestern Abend, nachdem wir einen sehr unterhaltsamen Tag in Heidelberg verbracht hatten, nach einigen Gläsern köstlichen Pfälzer Rotweins, sagte mein Klassenkamerad ziemlich überraschend, er wolle noch vor dem Schlafengehen kurz an die Luft. Und dann, Sie werden es nicht glauben, kam er einfach nicht wieder, blieb verschwunden.“

„Aber dann“, unterbrach ihn Brombach, „sind Sie bei uns völlig falsch. Ich nehme an, Sie wollen eine Vermisstenanzeige aufgeben, aber dafür sind andere zuständig. Wir sind die Mordkommission und geben uns mit solchen Lappalien nicht ab.“

„Nein, nein, von wegen Lappalie. Wissen Sie, ich kenne meinen alten Schulkameraden gut genug, um sicher, vollkommen sicher zu sein, dass hier etwas Schlimmes passiert sein muss. Und ich habe schon Erkundigungen eingezogen. Ein Unfall mit Personenschaden ist gestern Abend, nachdem er mich verlassen hat, nicht geschehen. Er muss, verstehen Sie, er muss einem Verbrechen zum Opfer gefallen sein.“

Brombach blickte zu seiner Kollegin Lange, sah sie fragend an und sie schüttelte kaum merklich den Kopf. Zu Meyer-Hampel gewandt, sagte Brombach: „Also, wissen Sie, ich verstehe ja Ihre Aufregung. Aber sie ist wahrscheinlich völlig unbegründet. In den meisten Fällen, bei denen wir hören, jemand müsse umgebracht worden sein, taucht derjenige kurze Zeit später kerngesund wieder auf, und für die ganze Geschichte gibt es irgendeine völlig banale Erklärung. Also, ich würde Ihnen jetzt raten, gehen Sie in Ihr Hotel zurück und warten Sie noch bis mindestens heute Abend, Ihr Schulfreund wird mit ziemlicher Sicherheit wieder auftauchen. Aber wenn Sie ihn unbedingt jetzt schon als vermisst melden wollen, begeben Sie sich bitte einen Stock tiefer in Raum 141, dort finden Sie einen dafür zuständigen Kollegen. Ich betrachte unser Gespräch jetzt als beendet. Wir haben hier wahrlich jede Menge zu tun und können uns mit dieser Angelegenheit nicht weiter befassen.“

Herr Meyer-Hampel erhob sich und nahm plötzlich eine völlig andere, sehr selbstbewusst wirkende Körperhaltung an, sein Blick wurde durchdringend und er fuhr Brombach mit einer auf einmal sehr kräftigen, sonoren Stimme an: „So geht das nicht, Herr Kommissar! Ich lasse mich von Ihnen nicht wie einen dummen Jungen abweisen. Ich bin sicher, dass hier ein Verbrechen geschehen ist, und ich bestehe darauf, dass Sie in der Sache aktiv werden.“

Brombach und Martina Lange sahen sich verdutzt an. Diese Wendung kam überraschend. Allerdings war bei der Kommissarin der Verdacht, dass dieser Besucher irgendein merkwürdiges Spiel mit ihnen trieb, in den letzten Minuten immer größer geworden. Ohne Brombach zu fragen, ergriff sie daher die Initiative.

„Also, Herr Meyer-Hampel, jetzt regen Sie sich bitte nicht zu sehr auf. Wenn Sie sich Ihrer Sache so sicher sind, können wir Folgendes tun. Wir nehmen Ihre Aussage zu Protokoll und sehen dann, was wir unternehmen können. – Folgen Sie mir bitte zu meinem Schreibtisch!“

Meyer-Hampel folgte ihr, nahm unaufgefordert neben ihrem Schreibtisch Platz, verschränkte die Arme vor der Brust, schlug die Beine übereinander und blickte überlegen lächelnd, aber doch freundlich in die Runde.

Martina Lange wandte sich wieder an ihn: „Sie müssen sich noch einen Moment gedulden, bis der Computer hochgefahren ist.“

Im Hintergrund flüsterte Brombach zu Siebert: „So ein komischer Kauz ist mir noch nie vorgekommen. Irgendwie kann ich mir da keinen rechten Reim drauf machen. Auf jeden Fall bin ich froh, dass der neue Chef nicht ausgerechnet während dieses Gesprächs hereingekommen ist.“

„Warten wir’s ab“, entgegnete Frau Siebert wissend lächelnd, „ich hab da so einen ganz bestimmten Verdacht.“

„Was meinst du?“

„Abwarten!“

Inzwischen war der Computer auf Martina Langes Schreibtisch startklar. Sie wandte sich betont freundlich an Meyer-Hampel: „Also, Herr Meyer-Hampel. Wir wären so weit, Sie können loslegen. Vielleicht zuerst die technischen Dinge. Geben Sie mir bitte Name und Adresse des Vermissten!“

„Sein Name ist Joseph Travniczek.“

„Wie bitte?“, fragte Martina Lange etwas verwirrt, während Melissa Siebert auflachte und Brombach einen triumphierenden Blick zuwarf.

„Zugegebenermaßen für die Zeitgenossen etwas schwer zu schreiben. Das war in meiner Jugend noch anders. Also ich buchstabiere: Theodor – Rudolf – Anton – Victor – Nordpol – Ida – Cäsar – Zeisig – Emil – Karl. Vorname: Joseph, bitte mit „ph“, darauf hat er immer Wert gelegt.“

Martina Lange tippte den Namen in den Computer, verschrieb sich aber dreimal, da ihr allmählich schwante, was hier gespielt wurde. Sie fragte weiter: „Und was ist Herr Travniczek von Beruf?“

„Polizist!“ – Martina Lange suchte vergebens den Blickkontakt zu ihrem Kollegen, der mit offenem Mund völlig entgeistert in die Leere starrte.

„Welcher Dienstgrad?“

„Hauptkommissar, er war bis vor kurzem Leiter der Münchner Mordkommission.“

Stille – man hätte eine Stecknadel fallen hören –, bis Melissa Siebert sich nicht mehr halten konnte und laut losprustete. Der vermeintliche Herr Meyer-Hampel erhob sich, blickte verschmitzt lächelnd in die Runde und sagte mit freundlicher, ruhiger Stimme: „Also, meine Herrschaften, wir können die Komödie jetzt beenden. Herrn Meyer-Hampel gibt es nicht. Ich habe ihn frei erfunden. Ich bin Joseph Travniczek, Ihr neuer Dienststellenleiter.“

Brombach und Lange standen verlegen mit langen Gesichtern im Raum. Vor allem Brombach hätte sich wohl gerne in eine Maus verwandelt, um das Terrain fluchtartig verlassen zu können. Nur Melissa Siebert schien sich köstlich zu amüsieren.

„Also“, fuhr der neue Chef fort, „vielleicht muss ich mich für diese kleine Komödie entschuldigen. Aber ich wollte möglichst schnell erfahren, wie Sie hier so arbeiten, und da schien mir dieser etwas unkonventionelle Einstieg ganz effektiv. Und außerdem hat Theaterspielen mir immer schon unheimlich viel Spaß gemacht.“

Martina Lange befreite sich als Erste aus der Verlegenheit und fragte: „Ein besonders gutes Bild haben wir da wohl gerade nicht abgegeben?“

„Nun“, entgegnete Travniczek beruhigend, „was mich sehr beeindruckt hat, unsere Sekretärin hat mein Spiel wohl als Erste durchschaut. Und es spricht immer sehr für eine Dienststelle, wenn auch, wenn ich so sagen darf, die niederen Dienstgrade konstruktiv mitdenken und zu Problemlösungen beitragen. Ansonsten – nun, ich habe es Ihnen nicht einfach gemacht und einen Trottel gegeben, wie es ihn in der Wirklichkeit kaum geben wird. Und so war es sicher eher schwierig, instinktiv auf die richtige Spur zu kommen. Aber, ohne jetzt auf Einzelheiten einzugehen, kann ich Ihnen gleich zu Beginn meine Philosophie des Dienstes bei der Kriminalpolizei vermitteln. Mir ist es wichtig, dass wir alle Menschen, mit denen wir zu tun haben, vorurteilslos ernst nehmen, ganz gleich, ob sie freundlich, garstig, intelligent, dumm, verlegen, schüchtern, arrogant, gutmütig oder abgrundtief böse sind. Wir dürfen nie urteilen, sondern immer nur beobachten, um aus unseren Beobachtungen Schlüsse zu ziehen. Und wir dürfen vor allem nie vergessen: Es handelt sich um Menschen, die immer das Recht haben, ernst genommen zu werden. Das klingt selbstverständlich, ist es aber nicht. Man müsste einmal eine Statistik erheben, wie viele Verbrechen nicht aufgeklärt oder nicht verhindert wurden, weil die Ermittler mit Vorurteilen, die sie selbst oft gar nicht kennen, an eine Sache herangegangen sind. Also, genug der Vorrede, setzen wir uns zusammen und klären einige technische Details.“

Alle vier nahmen an dem runden Besprechungstisch Platz, auf den Melissa Siebert schon Kaffeetassen und zwei Teller mit Keksen und anderem Gebäck gestellt hatte. Sie goss ein, und nach kurzer Pause begann Travniczek: „Nun, vorweg, was mich auch sehr gefreut hat, waren die drei wunderschönen Blumensträuße hier im Raum. Das bringt hier Leben hinein, wo so viel vom Tod die Rede ist. Ich weiß jetzt nicht, ob das eine Begrüßungszeremonie für mich war oder ob es bei Ihnen so üblich ist. Ich lege Wert darauf, dass es so bleibt. Ein paar dauerhafte Grünpflanzen wären sicher gut. Das heißt, meine erste Dienstanweisung in meiner neuen Position geht an Sie, Frau Siebert. Sie tragen ab sofort die Verantwortung dafür, dass es hier ein wenig lebendiger wird. Kosten spielen keine Rolle, da wird sich alles lösen lassen. Des Weiteren müssen wir klären – – “

Das Telefon auf Brombachs Schreibtisch klingelte und unterbrach den neuen Chef. „Das riecht nach Arbeit. Ich geh ran“, sagte Brombach etwas missmutig, eilte zu seinem Schreibtisch und nahm den Hörer ab. Eine Weile hörte er nur zu. Dann: „Wann? – Wo? – Ist schon jemand vor Ort? – O. k., wir kommen so schnell wie möglich. Ich denke, spätestens in einer halben Stunde sind wir da.“

Er legte den Hörer auf und wandte sich den anderen zu: „Die technischen Details müssen warten. Es gibt Arbeit. Die Heidelberger Kriminellen haben sich wohl auch einen Einstand für den neuen Chef der Mordkommission ausgedacht. Männliche Leiche im Schlossgarten, hinten beim Vater-Rhein-Brunnen12.“

Travniczek erhob sich sofort: „O. k., dann fahre ich da jetzt gleich hin. Frau Lange, begleiten Sie mich bitte. Herr Brombach, Sie halten hier die Stellung, um mögliche Hinweise entgegenzunehmen. Und sicher gibt es ja auch noch irgendwelchen Bürokram zu erledigen.“

„Herr Travniczek“, unterbrach ihn Brombach, „eine persönliche Frage: Haben Sie selbst, so wie Meyer-Hampel behauptet hat, am Kurfürst-Friedrich-Gymnasium Abitur gemacht oder war das auch frei erfunden?“

„Das war in der Tat auch frei erfunden. Ich war noch nie in Heidelberg, und da die Entscheidung, dass ich hier diese neue Stelle antrete, innerhalb von zwei Tagen fiel, hatte ich auch kaum die Möglichkeit, mich vorzubereiten. Es hat nur zum Erwerb eines Stadtplans und eines Reiseführers gereicht.“

„Na, dann haben Sie Glück“, schaltete sich Martina Lange in das Gespräch ein, „denn gleich Ihr erster Fall führt Sie an den berühmtesten Ort unserer Stadt: das Heidelberger Schloss.“

Schlag auf Schlag

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