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Kapitel 5
ОглавлениеO Gott, o Gott – was für ein Alptraum! – es ist nicht wahr – Gottfried ist nicht weg – er ist im Unterricht – aber die Schule hat angerufen – er ist nicht gekommen – der Mann von der Notrufzentrale – Gottfried vermisst melden – auf dem Polizeirevier Nord – wie komm ich zur Furtwänglerstraße? – Dossenheimer Landstraße, dann Berliner Straße – dann links abbiegen – darf man dort abbiegen? – ich bin völlig durcheinander – kann ich überhaupt fahren? – das gab es noch nie – in all den Jahren – mein Gottfried war da – immer – hat mir geholfen – für alles gesorgt – wenn ich nicht weiter konnte – wenn alles schwarz war – wenn ich ihn vor mir sah – diesen Scheißkerl – hat mein Leben ruiniert – vierzehn Jahre ist das her – und immer noch Panik – er steht plötzlich vor mir – obwohl er weit weg ist – hoffentlich tot – und jetzt ist auch Gottfried weg – einfach weg – das kann nicht sein – er lässt mich nicht im Stich – wenn ihm was zugestoßen ist – das ist das Ende – allein kann ich nicht – – wo ist der verdammte Autoschlüssel? – durch die ganze Wohnung bin ich gerannt – er ist nirgends – – gestern Abend – alles wie immer – wieder seine Kopfschmerzen – wie so oft – er ist in den Wald – den er so liebt – dann geht es ihm besser – – da hängt er ja – wo er hingehört – so durcheinander – ich schaffe es nicht - die einfachsten Dinge – – er ist nicht nach Hause gekommen – so war es ja oft – hab gar nichts gemerkt – nichts Böses gedacht – – und dann ruft die Schule an – er ist nicht gekommen – und jetzt zur Polizei – hoffentlich finde ich die – der Mann in der Notrufzentrale – ein unfreundlicher Kerl …
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Elvira Wolters, eine unscheinbare kleine Frau von einundvierzig Jahren, verließ völlig konfus ihre Wohnung in der Mühltalstraße 150 und schlug die Wohnungstür hinter sich zu, ohne abzuschließen. Ihr Wagen, ein dunkelblauer VW-Golf, stand vor der Haustür. Ihre Hände zitterten so sehr, dass sie nur mit Mühe die Wagentür aufschließen konnte. Sie setzte sich hinter das Steuer ohne sich anzuschnallen, und es gelang ihr erst nach mehreren Versuchen, den Zündschlüssel in das Schlüsselloch zu stecken und das Auto zu starten. Viel zu schnell fuhr sie in Richtung Handschuhsheim27 Zentrum.
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Warum muss ich da hin? – konnten die keinen schicken? – wenn ich so durcheinander bin – es passiert noch ein Unfall – ich muss mich beruhigen – auf den Verkehr achten – das kann gar nicht wahr sein – alles ganz harmlos – nicht immer die Nerven verlieren – jetzt nach rechts zur Tiefburg28 – wenn er nicht ehrlich ist? – wenn er nicht im Wald schläft? – irgendwas anderes macht? – das darf ich nicht denken – er ist immer gut zu mir – und zu den Kindern – sein Ein und Alles – er ist ehrlich – doch, doch, ganz bestimmt – aber das glaubt mir kein Mensch – das Nachts-im-Wald-Schlafen – die halten mich für verrückt – mit einer anderen ist er durchgegangen – die nicht so spinnt – werden sie denken – die Polizei überzeugen? – aber wie? – er ist ein so guter Mensch – das müssen die glauben – wenn doch was passiert ist? – das darf ich nicht denken – Gedanken werden wahr – was wird aus den Kindern? – vor allem Sebastian – der Papa ist sein Gott – wie kann ich ihn schützen? – lieber Gott, hilf – sag mir, dass nichts – – –
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In diesem Moment gab es einen lauten Knall. Sie war ohne auf die rote Ampel zu achten viel zu schnell in die Kreuzung zur B 3 hineingefahren, und dabei prallte ein Motorrad mit hoher Geschwindigkeit gegen ihr linkes Vorderrad, schleuderte über ihren Kühler, überschlug sich mehrmals und zertrümmerte krachend einen Metallzaun, der die Fahrbahn vom Gehsteig abgrenzte. Der Fahrer schlug mit dem Rücken auf der Fahrbahn auf, rutschte auf dem Asphalt weiter und wurde erst von der Bordsteinkante gestoppt. Elvira Wolters in ihrem Golf drehte sich zweimal um ihre eigene Achse, donnerte mit der Fahrerseite unter lautem Klirren der berstenden Fensterscheiben gegen einen Oberleitungsmast in der Mitte der Straße und drehte sich weiter auf die Straßenbahngleise, wo eine im gleichen Moment aus nördlicher Richtung heranfahrende Bahn trotz kreischender Bremsen nicht mehr zum Stehen kommen konnte, den Golf im Heck traf und ihn weiter auf die Gegenfahrbahn schob. Dort krachte ihm ein weißer Audi, dem durch die Straßenbahn die Sicht auf den Unfall versperrt war, fast ungebremst in die rechte Flanke, stellte sich quer zur Fahrbahn und ein hellblauer Renault Twingo, der dem Audi zu dicht gefolgt war, konnte nicht mehr rechtzeitig bremsen und fuhr seinem Vordermann auf Höhe der Fahrertür in die Seite. Weitere Fahrzeuge kamen mit quietschenden Bremsen noch rechtzeitig zum Stehen.
Für einen kleinen Moment war es völlig still. Dann hörte man Schreien und Rufen. Viele Menschen, die an der nahen Haltestelle auf die Straßenbahn warteten oder die am Hans-Thoma-Platz und den benachbarten Straßen zu Fuß unterwegs waren, liefen zur Unfallstelle um zu sehen, was da genau passiert war. Schnell wuchs die Zahl der Gaffer, aber es machten sich sofort auch einige Passanten daran, den Verletzten zu helfen.
Ein junger Mann eilte zu dem Motorradfahrer, der reglos am Boden lag, und sprach ihn an. Als der nicht reagierte, öffnete er die Bindung des Sturzhelms, fasste an die Halsschlagader und konnte sich überzeugen, dass er zumindest noch lebte. Er lief zu einem dunkelroten Ford Escort, der in der Dossenheimer Landstraße gleich hinter Elvira Wolters gefahren war, und fragte nach einer Decke. Der Fahrer, der den Schreck über den schweren Unfall noch nicht verdaut hatte, suchte eine Weile verwirrt in seinem Kofferraum und konnte dann eine finden. Der junge Mann nahm sie dankend an, ging zum Motorradfahrer zurück, brachte ihn mit kundigen Griffen auf der Decke in stabile Seitenlage und deckte ihn zu. Mehr konnte er im Moment nicht für ihn tun.
Einige bemühten sich um Frau Wolters. Sie konnten sehen, dass sie aus einer Platzwunde am Kopf stark blutete, aber sie konnten nicht zu ihr gelangen, weil sich an dem völlig ramponierten Golf keine Tür mehr öffnen ließ. Da aber die Glasscheibe der Fahrertür beim Aufprall gegen den Oberleitungsmast gänzlich herausgeflogen war, versuchte eine Frau wenigstens, die Verletzte anzusprechen, aber sie reagierte nicht, obwohl sie nicht wirklich bewusstlos zu sein schien. Dennoch blieb die Frau bei ihr und griff durch das Fenster nach ihrer Hand, um sie in ihrer Not nicht alleine zu lassen.
Die Fahrer der beiden zuletzt in den Unfall verwickelten Fahrzeuge waren dank Airbag unverletzt geblieben. Sie waren ausgestiegen und sich sofort lautstark in die Haare darüber geraten, wer den Unfall verschuldet hatte. Es drohte handgreiflich zu werden, bis die Beifahrerin aus dem Renault die Streithähne mühsam trennen konnte und dabei auch noch versuchen musste, ihren kleinen Sohn zu trösten, der sich wohl sehr weh getan hatte oder zumindest fürchterlich erschrocken war.
Mittlerweile hatte auch der vom Schock kreidebleiche Fahrer der verunglückten Straßenbahn die Türen geöffnet. Langsam stiegen die Fahrgäste teils ziemlich benommen aus. Einige waren wohl leichter verletzt. Jemand rief um Hilfe, weil im hinteren Teil des Zuges eine alte Frau schwer gestürzt war und nicht mehr aufstehen konnte.
Unter den vielen passiv am Rande stehenden Zuschauern entspannen sich heftige Diskussionen über den Unfallhergang. Jeder glaubte genau gesehen zu haben, wie es passiert war, nur – fast jeder hatte etwas anderes gesehen. Da hörte man aus der Berliner Straße das Martinshorn von mehreren Fahrzeugen. Sekunden später trafen ein Notarzt- und zwei Krankenwagen ein.
Der Arzt verschaffte sich einen Überblick über die Lage. Drei Schwerverletzte mussten möglichst schnell in die Klinik transportiert werden. Also forderte er noch zwei weitere Krankenwagen an und kümmerte sich dann als Erstes um den Motorradfahrer. Als er sah, dass dieser schon ersthelferisch versorgt war, fühlte er kurz seinen Puls. Sein Kreislauf schien einigermaßen stabil zu sein, und so konnte er direkt in einen der Krankenwagen getragen und zur Klinik gefahren werden. Die Sanitäter hatten währenddessen schon nach den anderen Verletzten gesehen und vergeblich versucht, Frau Wolters mit einem Brecheisen aus ihrem Auto zu befreien. Sie mussten die Feuerwehr zu Hilfe rufen. Der Notarzt versorgte dann durch das offene Seitenfenster wenigstens notdürftig die stark blutende Kopfwunde durch einen Druckverband. Dabei versuchte er auch, die Verletzte anzusprechen, und fragte laut, aber sehr ruhig: „Können Sie mich verstehen?“
Frau Wolters antwortete stammelnd und bruchstückhaft: „Wer sind …? Wo … ich? Wie … hergekommen?“
„Sie hatten einen Unfall und sind schwer verletzt. Ich bin Arzt und versuche, Ihnen zu helfen, bis der Rettungswagen kommt und Sie in die Klinik bringt. Das müsste bald sein. Können Sie mir sagen, wie Sie heißen?“
„Ich … weiß … nicht … heißen … mein Mann … verschwunden … was … die Kinder.“ Sie stand offenbar so unter Schock, dass sie keinen klaren Gedanken fassen konnte. Er bat die Frau, die sich schon um Frau Wolters gekümmert hatte, bei ihr zu bleiben, bis weitere Hilfe käme.
Da er hier nichts weiter machen konnte, ging er zur Straßenbahn, um nach der gestürzten alten Frau im Wagen zu sehen. Sie lag auf dem Boden und wimmerte leise vor sich hin.
„Was ist mit Ihnen passiert?“, fragte der Arzt.
„Ich weiß nicht genau. Es ging alles so schnell, und plötzlich lag ich am Boden. Und jetzt tut mein Bein so weh und ich kann es nicht mehr bewegen.“
„Wo genau tut es denn weh?“
Sie zeigte auf ihren rechten Oberschenkel. „Das könnte ein Oberschenkelhalsbruch sein“, vermutete der Arzt. „Ich gebe Ihnen jetzt erst einmal eine Beruhigungsspritze, damit Sie sich etwas entspannen können. Und dann werden wir Sie ins Krankenhaus bringen.“
„Ist es denn wirklich so schlimm?“
„Ich fürchte, ja“, sagte der Arzt. „Genau untersucht werden muss die Sache auf jeden Fall.“
„Aber meine Tochter wartet doch auf mich, ich habe ihr versprochen, auf die beiden Enkelkinder aufzupassen, während sie zur Arbeit geht.“
„Also, ich fürchte, daraus wird jetzt nichts. Haben Sie ein Handy, um Ihre Tochter anzurufen?“
„Nein, nein! Mit dem neumodischen Zeug komme ich nicht mehr zurecht.“
„Da weiß ich jetzt auch keinen Rat. Wir bringen Sie auf jeden Fall erst einmal in den Rettungswagen. Die Sanitäter dort können Ihnen sicher helfen, mit Ihrer Tochter Kontakt aufzunehmen.“
Er wies die Sanitäter des zweiten Rettungswagens an, die alte Frau in die Chirurgie zu befördern. Inzwischen waren die weiteren Krankenwagen eingetroffen. Notarzt und Sanitäter kümmerten sich um die Leichtverletzten. Fünf wurden zur weiteren ambulanten Behandlung mit einem weiteren Rettungswagen in die Klinik gebracht.
Auch die Verkehrspolizei war in der Zwischenzeit vor Ort. Die Beamten sahen sofort, dass es Stunden dauern würde, bis die Kreuzung wieder für den Verkehr freigegeben werden könnte, und verständigten ihre Zentrale, damit eine weiträumige Umleitung organisiert würde. Denn durch die Sperrung der Unfallkreuzung war die Verbindung von Heidelberg zur Bergstraße blockiert. Entsprechend lange Schlangen hatten sich auch schon in alle Richtungen gebildet, und hier musste dringend etwas geschehen.
Während sie begannen, den Unfall aufzunehmen, kam die Feuerwehr. Ihren Spezialisten gelang es schnell auch ohne den Einsatz eines Schneidbrenners, Frau Wolters aus dem Autowrack zu befreien. Und so konnte auch sie endlich in den letzten Krankenwagen gebracht und in die Chirurgie gefahren werden.
Die Polizei brauchte mehrere Stunden, um alle Spuren zu sichern, die Zeugen zu befragen und die Personalien aufzunehmen. Dabei konnte die Schuldfrage eindeutig geklärt werden. Danach erst wurden die Unfallfahrzeuge abgeschleppt. Es war schon lange nach 13 Uhr, als die Kreuzung endlich wieder freigegeben werden konnte und der Verkehr, der sich zwischenzeitlich durch die engen Straßen des alten Handschuhsheim quälen musste, wieder flüssig rollte. Besondere Schwierigkeiten ergaben sich, die Verursacherin des Unfalls zu identifizieren. Sie war ohne alle Papiere losgefahren und das Auto war geleast, so dass das Kennzeichen nur zu der Leasingfirma führte, und dort ging niemand ans Telefon. Also musste man sich gedulden, bis die Frau entweder wieder ansprechbar oder als vermisst gemeldet wurde bzw. sich jemand von der Leasingfirma meldete.