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Viertes Kapitel

Frankreich – Romainville – Fort de Noisy – Hauptquartier der Division Action des französischen Geheimdienstes DGSE

Christiane Près kippte den gallenbitteren, dick eingekochten Kaffee angewidert in die schwer geprüfte Topfpflanze neben dem Schreibtisch. Ihr Magen rebellierte, denn Madame le Juge hatte während der letzten zweiundsiebzig Stunden außer einer großen Dose Schokokekse nichts Vernünftiges gegessen. Und sie hatte nicht geschlafen. Mit einer ungeduldigen Handbewegung strich sich die Chefin der Division Action und der Spezialeinsatzkräfte des französischen Geheimdienstes eine Haarsträhne aus dem Gesicht, stand auf und massierte sich den Nacken. Dann öffnete sie das Fenster, um in tiefen Zügen die kühle, frische Morgenluft einzuatmen. Der Blick auf die Uhr ließ sie kurz zögern. Es war nicht nur erst sechs Uhr morgens, es war auch Sonntag. Trotzdem wählte sie die Nummer von Bertrand Morillon, dem General, der zur Zeit das Commandement des Opérations Spéciales befehligte.

× × ×

Das Hauptquartier des COS befand sich auf der anderen Seite von Paris, auf der Base Aerienne 921 in Taverny. Doch während der frühmorgendlichen Stunde war der Pariser Außenstadtring wie leergefegt gewesen, und sein Fahrer hatte nach dem Anruf von Madame le Juge nur knappe dreißig Minuten benötigt, um die Strecke nach Romainville zurückzulegen.

Der General seufzte leise, schob die Detailvergrößerungen der Aufnahmen des Helios 2A zurück über den Arbeitstisch und fragte sich insgeheim, welche anderen bösen Überraschungen die Chefin von Frankreichs geheimster Dienststelle an diesem Herbstmorgen noch für ihn bereithielt. Christiane Près war berüchtigt dafür, die Geheimniskrämerei zu einer wahren Kunst stilisiert zu haben.

Der Verlust von sechs weiteren Männern war für die in Afghanistan stationierten, französischen Spezialeinsatzkräfte und für das COS ein weiterer, harter Schlag. Zusammen mit den acht anderen Männern, von denen seit Wochen jede Spur fehlte, hatten sie in knapp sechs Monaten insgesamt fünf Prozent ihrer Gesamtstärke vor Ort eingebüßt. Dazu kamen noch die ganz normalen Verluste: ein tödlicher Unfall, zwei Tote durch IEDs – unkonventionelle Spreng- und Brandvorrichtungen – und ein Soldat, der seinen Schussverletzungen erlegen war, bevor man ihn aus der Kampfzone evakuieren konnte. Nicht etwa, dass das COS mit seinen Verlustlisten hausieren ging oder diese in der französischen Tagespresse wiedergekäut und beredet wurden wie die Verluste der ISAF. Aber er hatte eben nur insgesamt zweitausend Mann unter seinem Kommando und so viele Missionen an allen Ecken und Enden der Welt. Das COS pfiff aus dem letzten Loch, und er selbst war kurz davor, den Überblick zu verlieren. Am Schlimmsten waren diese Endlos-Missionen im Tschad und an der Elfenbeinküste: die Operationen »Épervier« und »Licorne« und natürlich die verflixte KFOR im Kosovo. Die versammelten UN-Operationen, deren sonderbare Akronyme er sich einfach nicht merken konnte, waren die nächste Dauerbelastung für seine Truppe. Dazu gesellten sich noch die Ausbildungsgruppen in Saudi-Arabien, in Jordanien und in Tunesien und jene Missionen und Operationen, die nur Frankreich selbst etwas angingen, und von denen die breite Weltöffentlichkeit genauso wenig erfuhr wie die eigenen Landsleute. Und wenn der Service Action der DGSE irgendeine tiefschwarze Operation in den tiefsten Abgründen der Hölle plante, klauten die ihm auch noch Leute, ohne zu fragen, ob er das Personal entbehren konnte. Es war ein Trauerspiel, denn da war natürlich auch noch die Operation »Arès« in Afghanistan: »Arès« hatte den COS gleich zweihundert Mann auf einen Streich gekostet, nachdem Jacques Chirac sich im Juni 2003 im Rahmen des G-8-Gipfels in Evian in einem Anfall von Bündnistreue und transatlantischer Solidarität dazu verpflichtete gefühlt hatte, bei der US-amerikanischen Terroristenjagd Operation Enduring Freedom OEF mitzumachen. Und es ging das Gerücht um, dass der neue französische Präsident Louis Poniatowski gleich noch einen Schwung drauflegte und zum Jahresende zusätzliche Truppen, inklusive Spezialkräften, als Weihnachtspräsent für seinen amerikanischen Amtskollegen George W. Bush losschicken wollte.

»Was halten Sie von dieser ganzen Geschichte, Madame le Juge?«, fragte der General die Geheimdienstfrau frustriert. Der brandneue Spionagesatellit Helios, der mit einer Auflösung von unter dreißig Zentimetern und Sensoren im optischen und IR-Spektrum fotografierte, hatte ihnen außergewöhnliche Informationen übermittelt. Auf einer der Aufnahmen erkannte man neben dem Wrack des abgeschossenen Rettungshubschraubers zwei Tote und einen Überlebenden. Christiane Près deutete mit dem Finger auf ihn.

»Mein Agent ist noch im Rennen, Morillon«, sagte sie kämpferisch. Nachdem sie den General angerufen hatte, hatte sie sich eine Dusche gegönnt. Eine halbe Stunde Normalität, das heiße Wasser, der Luxus von Lavendelöl, handgefertigte Marseille-Seife, frische Kleider, ein Hauch von Make-up und der kleine Spritzer Eau de Parfum Hermès 24 Faubourg hatten sie wieder lebhaft und angriffslustig gemacht. Ihre Selbstzweifel und die Frustrationen der letzten Nacht waren wie weggeblasen, die Magenschmerzen, der verkochte Kaffee und die vermaledeiten Schokokekse nur noch Geschichte. Sie war wieder ruhig und aufgeräumt und konnte sich auf ihre eigentliche Aufgabe fokussieren.

Morillon betrachtete die Aufnahme und dann die Ausschnittvergrößerung, die ein bärtiges, abgekämpftes Gesicht und müde dunkle Augen zeigte.

»Ich wusste nicht einmal, dass sie einen Agenten ins Rennen geschickt haben, Madame le Juge?«

Er fühlte sich von Christiane Près überrumpelt. Das war zwar nicht neu, aber es machte ihm jedes Mal wieder bewusst, wo er und das COS in der Hackordnung der französischen Geheimpolitik wirklich standen – nämlich ganz unten: Sie durften die durchtriebenen Ideen und Einfälle ihrer Hochoberen ausführen, den Kopf hinhalten und schweigen.

Christiane lächelte den General entschuldigend aus smaragdgrünen Augen an und hob die schmalen Schultern in einer mädchenhaft anmutenden Geste. Unter normalen Umständen hätte sie sich wohl dazu durchgerungen, mit offenen Karten zu spielen. Üblicherweise sagte sie Bertrand Morillon sogar Bescheid, wenn sie für irgendeine ihrer obskuren Nacht-und-Nebel-Operationen ein paar seiner Leute ausborgte.

»Ich hatte keine Lust, ewig mit den Leuten auf der Bagram-Airbase herumzudiskutieren, General. Wir mussten uns erst einmal selbst Klarheit verschaffen«, erklärte sie. »Ihre acht verschwundenen Kommandosoldaten waren ebenfalls ein Problem. Mein Agent wollte sicher sein, dass sie nicht nur irgendeiner Taliban-Gruppe der Gegend in die Hände gefallen waren und festsaßen, um dann im geeigneten Augenblick als Faustpfand oder als Hauptdarsteller für ein grausiges Spektakel vor laufender Kamera hervorgeholt zu werden.«

Sie verschwieg bewusst die beiden Hunter-Killer-Drohnen der EADS, die ihr eigener Dienst in der Provinz Zabul diskret einem Test unter realen Einsatzbedingungen unterzogen hatte.

Nur wegen ein paar verschwundener Special Forces hätte sie Kérmorvan nicht losgeschickt. Die Geräte, französische Weiterentwicklungen der israelischen MALE-Drohne Heron TP, waren ihrer Dienststelle unter der Hand von der Entwicklungsabteilung der bekannten europäischen Rüstungsfirma anvertraut worden. Sie existierten offiziell noch gar nicht. Die deutschen Partner wollten zurzeit noch gar nicht über diese brandneuen Hightech-Spielzeuge Bescheid wissen, denn sie hatten beschlossen, erst einmal die Ergebnisse des französischen Feldversuches abzuwarten. Die Division Action der DGSE verfügte über Sondermodelle, die ein paar nette kleine Extras aufwiesen, die allerdings unter Gesichtspunkten des Völkerrechts zweifelhafter Natur waren. Diese erklären zu müssen, würde zu peinlichen diplomatischen Irritationen mit gewissen transatlantischen Bündnispartnern führen. Insbesondere die Frage, wie der Service Action verschiedene elektronische Komponenten beschafft hatte, wollte Christiane nicht unbedingt beantworten. Denn hierbei handelte es sich um eine ganz besondere Fachkompetenz ihrer Dienststelle. Und sicher wäre es auch für ihre guten Freunde in der Rüstungsindustrie unangenehm, wenn die Existenz dieses speziellen Drohnenpärchens publik würde.

Bertrand Morillon brauchte diese Details ebenfalls nicht zu kennen, auch wenn er als Chef des COS grundsätzlich Zugang zu Informationen der entsprechenden Sicherheitsebene hatte. Aber er war ein braver und ehrlicher Soldat und sollte es auch bleiben.

Es war auch nicht notwendig, dass der Chef der französischen Spezialeinsatzkräfte über ihren Mann vor Ort in Afghanistan erfuhr. Das würde wieder nur zu bösem Blut führen. Christiane schanghaite nämlich mit schöner Regelmäßigkeit die besten Männer der französischen Spezialeinheiten des COS und verpflichtete sie dann zum Dienst im Service Action ihrer Division Action. Die Spinner, die sich freiwillig meldeten oder sie mit pathetischen Bewerbungsschreiben bombardierten, konnte sie nicht gebrauchen. Die wirklich guten Männer meldeten sich niemals freiwillig. Kérmorvan war da keine Ausnahme gewesen. Man hatte ihr zugetragen, dass es einen Mann mit einem außergewöhnlichen und nützlichen Profil gab, der seine überragenden Fähigkeiten als Fernspäher in einer klassischen Kampfschwimmereinheit bei gewöhnlichen Kommandooperationen verschwendete. Nach sorgfältigem Studium seiner Personalakte, intensiver Zusatzüberprüfung und Durchleuchtung, ein paar sehr diskreten Gesprächen mit Vorgesetzten und Kameraden sowie ein paar Tagen persönlicher Beobachtung während des Trainings hatte sie sich ihn aus dem Commando de Penfentenyo geschnappt. Selbstverständlich ohne ihn zuvor höflich zu fragen, ob er auch Lust hätte, eine berufliche Karriere im französischen Auslandsgeheimdienst zu machen. Das war ihre übliche Verfahrensweise. Für gewöhnlich fügten sich ihre Opfer, sobald sie die Schlinge der Division Action um ihren Hals spürten, brav in ihr Schicksal. Nur ihr sturer Bretone nörgelte nach fast fünf Jahren im Service Action immer noch, wie ein schlecht gelaunter Kater, sobald sie ihm die geringste Gelegenheit dazu gab.

»Und?«, fragte der General endlich neugierig.

»Ihre Kommandosoldaten sind tot, Morillon – alle!«, antwortete Christiane Près ohne den Hauch einer Gefühlsregung. »Allerdings haben die Taliban als solche ausnahmsweise einmal nichts mit der ganzen Sache zu tun.«

Sie bedeutete ihm, seine Aufmerksamkeit auf den großen Plasmabildschirm an der Wand ihres Büros zu richten. »Sehen Sie selbst, und vor allem – hören Sie gut zu.« Sie klickte die Enter-Taste ihres PCs.

× × ×

»Das ist ein Witz«, empörte sich der General eine knappe Stunde später. Er hatte das Gefühl, soeben einen Ausschnitt aus einem US-Action-Thriller gesehen zu haben. Das Szenario erinnerte ihn an eine Story von Tom Clancy. Christiane schüttelte den Kopf. Ihre erste Reaktion war ähnlich gewesen.

»Leider nicht, mein Freund.«

»Wer zum Teufel ist dort unten in diesem fast menschenleeren Grenzgebiet in der Lage, gezielt die Burst Transmissions der Satellitenkommunikation der Special Forces zu jammen? Wieso kennen diese verdammten Kerle die Frequenzen, auf denen die SOF funkt?

Wo haben die den OPLAN und die Q-Comms her? Und wo zum Teufel finden die unsere Mistral-Boden-Luft-Raketen und den Rest dieser Hightech-Ausrüstung?«

Morillon hatte die französische Boden-Luft-Rakete Mistral, die von der Rüstungsfirma Safran hergestellt wurde, natürlich sofort erkannt. Diese außergewöhnliche Waffe konnte man sich nicht einfach einmal schnell bei seinem bewährten Waffenschieber um die Ecke besorgen, auch nicht in der etwas älteren Variante, wie sie diese Gruppe unbekannter finsterer Gestalten selbstbewusst durch die afghanische Bergwelt trug.

Christiane hatte sich während der letzten achtundvierzig Stunden genau die gleichen Fragen gestellt. Das Mistral-MANPADS hatte sie dabei natürlich weitaus weniger schockiert als die Satellitenfrequenzen und die Tatsache, dass Kérmorvan zusammen mit seinem sonderbaren und unkonventionellen Notruf noch einen ganz speziellen CSAR-Code-Satz übermittelt hatte. Übersetzt lautete die Nachricht, dass die Situation unkontrollierbar geworden war und es möglicherweise irgendwo in ihren eigenen Reihen eine undichte Stelle gab.

Wer ausreichende finanzielle Mittel und die richtigen Kontakte hatte, der konnte sich die französische Boden-Luft-Rakete auf dem grauen und schwarzen Markt besorgen. Mitte der Neunzigerjahre, während der IFOR-Operation Joint Endeavour in Bosnien unweit von Mostar, waren ein Dutzend Mistrals der ersten Generation gestohlen worden. Damals war es dem französischen Journalisten Pierre Besson allerdings gelungen, Diebe und Diebesgut heimlich abzulichten. Pierre Besson war ein altbewährter Honorable Correspondant der DGSE, ein inoffizieller Mitarbeiter, der aus Patriotismus und Überzeugung handelte. Dank seiner Informationen hatten sie sich über die Jahre etwas mehr als zwei Drittel dieser Boden-Luft-Raketen wieder zurückholen können. Inzwischen hatte auch Pakistan aus einem legalen, zwischenstaatlichen Waffengeschäft unter der Hand die Mistrals heimlich an gewisse Kreise aus den Golfstaaten durchgereicht. Die Saudis wollten islamistische Terroristengruppen, die sie unterstützten, mit diesen Waffen ausrüsten.

Um allerdings Hand an den Annex Q-Comms und den OPLAN zu legen, reichte es nicht, ein paar bösartige und finanzstarke Freunde irgendwo auf der arabischen Halbinsel zu haben. Dazu brauchte man immer noch entweder einen korrupten und völlig skrupellosen Insider aus dem CENTCOM in Bagram, oder, besser noch, irgendeinen korrupten und völlig skrupellosen Schweinehund im amerikanischen Hauptquartier des US CENTCOM in Tampa, Florida. Nicht etwa, dass es bei den Amerikanern an skrupellosen Typen und hinterhältigen Schweinehunden fehlte – alleine in der Gruppe Offizieller aus der US-Geheimdienst-Community, mit denen sie regelmäßig zu tun hatte, konnte Christiane ohne Probleme ein Dutzend aufzählen, denen sie nicht einmal das Kleingeld für den Bäcker anvertrauen würde. Doch ohne eine direkte Verbindung zu Kérmorvan konnte sie in diesem Moment keine Antworten auf Morillons Fragen geben und nur spekulieren. »Ich verfüge leider nur über reine IMINT-Bildaufklärung«, erwiderte sie frustriert.

Die Gewinnung von Informationen aus abgehörten Funk- signalen – COMINT – und die Erfassung anderer elektronischer Signale und deren Auswertung – ELINT – waren seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges bei den zivilen und militärischen Geheimdiensten der Welt in Mode gekommen. Die allgemeine Unverfänglichkeit und Anonymität der technologischen Schnüffelei machte diese Form der Nachrichtengewinnung bei Politikern, und bei den Geheimdienstlern selbst, ausgesprochen beliebt und hatte über Jahrzehnte zu drastischen Einschnitten im Bereich der klassischen HUMINT-Spionagetätigkeit mithilfe menschlicher Quellen geführt. Dann waren am 9. September 2001 ein paar Passagierflugzeuge in die Towers des World Trade Centers und ins Pentagon geknallt, und plötzlich hatten sie – allen voran die Amerikaner – gemerkt, wie unzureichend all ihre Hightech doch war. Glücklicherweise hatte Frankreich nie über die geradezu unerschöpflichen Geldquellen der USA verfügt und sich immer mit bescheideneren Mitteln zufrieden geben müssen. Aus diesem Grund favorisierten sie im Bereich der Nachrichtengewinnung die billigere menschliche Version.

Wenn man einmal davon absah, dass ihre preisgünstige menschliche Variante sich in diesem Augenblick am anderen Ende der Welt befand und ein gewaltiges Kommunikationsproblem hatte! Kérmorvans cleveres kleines Smartphone war natürlich zusammen mit dem MedEvac der ISAF abgesoffen. Murphy’s Law! Was schiefgehen kann, geht schief! Die Leute in der Versuchsabteilung von Astrium würden nicht gerade begeistert sein. Sie hatten ihm den Prototypen eigentlich nur zum Ausprobieren anvertraut und erwarteten eigentlich, das Ding und seinen User-Kommentar zurückzubekommen.

»Diese Leute sind nicht nur in der Lage, Burst Transmissions zu detektieren und unsere Verschlüsselungen zu knacken. Sie haben darüber hinaus die notwendigen Informationen für gezieltes Uplink-Jamming der SATCOMs – die Frequenzen, die Modulation und weiß der Himmel was sonst noch.«

Christiane zischte erbost wie eine übel gelaunte Schlange. Ihre Smaragdaugen funkelten.

Morillon schmunzelte. Madame le Juge hatte zwar noch ihren »Mann« im Rennen, aber sie hatte keine Möglichkeit mehr, ihn zu kontaktieren. Oder er sie. Peinlich!

»Aus diesem Grund haben Sie auch die Experten von der Direction du Renseignement Militaire in Creil diskret gebeten, die Augen von Helios noch eine Weile auf die Gegend zu richten?«

Christiane nickte. Das war eine Notlösung gewesen, aber immerhin hatte diese Notlösung ihnen einige höchst interessante Informationen gebracht. Eigentlich war das Aufklärungssystem für diese Aufgabe nicht wirklich gerüstet.

»Der Rettungshubschrauber?«, fragte Morillon. Er hatte das dumpfe Gefühl, dass er an diesem Sonntagmorgen zu nachtschlafender Zeit nicht nach Romainville beordert worden war, um tief empfundenes Mitgefühl über den Verlust seiner sechs Männer ausgesprochen zu bekommen. Madame le Juge stand nicht gerade im Ruf, eine besonders mitfühlende Seele zu sein. Bevor sie fünf Jahre zuvor als erste Frau an die Spitze der Spezialeinsatzkräfte der DGSE berufen worden war, war Christiane einer der acht auf Terrorismus und Angriffe gegen den Staat spezialisierten Untersuchungsrichter in der Quatrième Section der Staatsanwaltschaft am Oberlandesgericht von Paris gewesen. Sie hatte sich bereits in den ersten Jahren ihrer Karriere als junge Staatsanwältin Mitte der Neunzigerjahre, während der blutigen Anschläge der algerischen Terrorgruppe GIA, einen Namen als Expertin für islamischen Fundamentalismus gemacht.

»Das mit dem Hubschrauber müssen wir vorerst auf sich beruhen lassen, Morillon. Die ISAF wird vermuten, dass der Med-Evac entweder in einen Berg geknallt ist oder bei der Bergung der Verletzten Sand in die Turbinen bekommen hat. Selbst wenn sie intensiv suchen – dieses Wrack aufzuspüren, würde an ein Wunder grenzen.«

Christiane wusste nur, wo die Absturzstelle war, weil Kérmorvans experimenteller »personal digital assistant« zusammen mit dem Wrack im Wasser des wilden Gebirgsflusses lag. Doch das änderte nichts. Nur ein knappes Drittel aller Helikopterverluste wurde durch feindliches Feuer verursacht. Der Rest waren ganz banale technische Defekte, Materialverschleiß, menschliche Fehler, miserables Wetter oder einfach Sand im Getriebe. Sie bedauerte persönlich zutiefst, dass die unglückliche Besatzung von der ISAF Medical Task Force Kandahār in ihre seltsame Geschichte mit hineingezogen worden war, doch es half nichts: So, wie sie Kérmorvan kannte, würde der jetzt erst recht nicht aufgeben, sondern sich verbeißen.

Sie hatte beschlossen, ihm ein bisschen Zeit zu geben. Wenn sie im Verlauf der nächsten vierzehn Tage nichts von ihm hörte, dann würde sie eine glaubhafte Geschichte zusammenstricken, ein bisschen an den Satellitenaufnahmen herumbasteln und dann alles den Leuten in Kandahār zuspielen. Damit wäre wenigstens für die Angehörigen und die ISAF das Schicksal der Besatzungsmitglieder des unglücklichen Rettungshubschraubers aufgeklärt und zu einem Abschluss gebracht.

»Morillon«, sagte sie eindringlich, »niemand im Basislager von Spin Boldak wird im Augenblick Fragen stellen oder diese Männer vermissen. Die sind gerade einmal seit zehn Tagen auf Tour. Es gibt Gruppen, die zwei, drei Monate keinen Kontakt aufnehmen und kein Lebenszeichen geben, weil sie irgendeine heiße Spur verfolgen.«

Der General seufzte und nickte. Er hatte verstanden, was Christiane Près von ihm verlangte. Absolute Funkstille.

»Und die Familien meiner Männer?«

»… können auch nichts mehr daran ändern. Welchen Unterschied macht es, ob sie es heute oder in vierzehn Tagen erfahren?«

Christianes smaragdgrüne Augen blickten kalt. Sie konnte nichts ungeschehen machen. Sie konnte nur noch aussitzen, abwarten, abhören, beobachten und hoffen, dass wenigstens Kérmorvan lebend nach Hause zurückkehrte und irgendetwas mitbrachte, das diese Opfer wert gewesen war. Es gab Augenblicke, in denen sie ihren Job und sich selbst hasste.

»Geben Sie mir Zeit, Morillon«, flüsterte sie und senkte dabei den Kopf, um dem General nicht in die Augen sehen zu müssen.

»Geben Sie meinem Mann eine Chance.«

»Werden Sie mir irgendwann einmal die ganze Geschichte erzählen, Madame le Juge?«, fragte der alte Haudegen zynisch. Christiane erhob sich graziös aus ihrem Sessel, strich die Falten ihrer dunkelgrauen Kaschmirhose glatt und überprüfte mit der Hand den Sitz ihrer Hochsteckfrisur.

»Kommen Sie, Morrillon«, sagte sie aufgeräumt, »ich lade Sie zu einem vernünftigen und gesunden Frühstück ein. Meine Kantine ist um Klassen besser, als Ihre Kebab-Bude in Taverny.«

Natürlich würde sie dem General niemals die ganze Wahrheit erzählen können. Die Testserie mit dem Hunter-Killer-Drohnensystem war alles andere als absichtslos gewesen. Sie hatten zuerst ein bisschen gewildert. Das Drohnenpärchen hatte in den pakistanischen Stammesgebieten erfolgreich zwei berüchtigte, französische Dschihadisten aus dem Verkehr gezogen – final – und ohne dabei so große Kollateralschäden zu verursachen wie das vergleichbare amerikanische System. Erst der anschließende Ausflug über die Grenze nach Afghanistan war der Testlauf gewesen, den der Service Action dem Rüstungsunternehmen versprochen hatte.

Pakistan – Provinz Khyber Pakhtunkhwa – Kohat – Pakistan Air Force (PAF) Base Kohat

Die in eleganten Grautönen lackierte Cessna 182 Skylane Turbo startete nur wenige Minuten nach einer brandneuen und knallbunten Cessna 172. Für die Zuschauer, die von der von Kletterpflanzen überrankten schattenspendenden Terrasse des Offiziersclubs der Kohat-Airbase das fliegerische Wochenendspektakel betrachteten, war die handliche, kleine, viersitzige Maschine nur eine unter vielen, mit denen sich Offiziere der pakistanischen Luftwaffe und privilegierte zivile Mitglieder des Kohat Flying Club amüsierten.

Jones hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, seine geschäftlichen Verpflichtungen immer so zu legen, dass er von den Wochenendaktivitäten der zahlreichen Hobbypiloten der Gegend profitieren konnte, um unauffällig über die afghanische Grenze ein- und auszufliegen.

Die Cessna hatte sich als diskretes, schnelles und sicheres Transportmittel bewährt. Dank ihres leistungsstarken Motors konnte sie auf kürzesten Strecken starten und landen, und mit einer maximalen Flughöhe von etwas mehr als sechstausend Metern war sie bestens an die geografischen und klimatischen Bedingungen am Hindukusch angepasst. Wenn er allein flog, konnte sie darüber hinaus auch ein paar Hundert Kilo Fracht transportieren.

Von Kohat folgten sie im Sichtflug der Straße N 55, die Peshāwar mit Quetta verband. Die Strecke war sicher und unverfänglich. Jones vermied es weitgehend, längere Strecken auf der afghanischen Seite der Grenze zu fliegen. Die Luftraumüberwachung durch die Amerikaner und die ISAF war zwar nicht der Rede wert, und die Chancen gering, dass eine kleine, tieffliegende Maschine auffallen würde, doch das Risiko, vom Boden beschossen zu werden, war hoch. Auch wenn die Taliban oder ihre arabischen Verbündeten von al-Qaida der NATO mangels entsprechender Waffensysteme nicht die Lufthoheit streitig machen konnten, so wie seinerzeit die von der CIA mit Stinger-Raketen ausgerüsteten Mudschaheddin der 40. Armee der Sowjetunion, reichten bei einer kleinen, leichten Maschine wie der Cessna bereits banale Schnellfeuergewehre aus, um einen Absturz zu verursachen. Trotz des Umwegs betrug die Flugzeit nur knappe drei Stunden. Jones setzte seine Cessna 182 geschickt auf der Sandpiste auf, die entlang des Ghar Sang von Korum Kalay nach Rustam Kalay führte.

Der große, von Lehmmauern umgebene Wehrhof von Dadullahs Cousin Borjahn war vor zwei Jahren um ein langgestrecktes Gebäude erweitert worden, in dem das Flugzeug diskret verborgen werden konnte. Noch bevor Jones den Motor abstellte, eilten schon mehrere kräftige, bärtige Männer in Landestracht herbei und schoben die Cessna in ihr Versteck.

× × ×

Rustam Kalay war sogar für den hartgesottenen Söldner Jones ein Schock gewesen. Das vormals friedliche und malerische Bauerndorf ähnelte Beirut während der schlimmsten Tage des Bürgerkriegs. Natürlich verstand er kaum ein Wort der heftigen Diskussion zwischen Dadullahs Cousin Borjahn, dem Dorfältesten, dem greisen Mullah des Kaffs und dem Boss. Die vier Männer debattierten im örtlichen Dialekt und viel zu schnell für seine eigenen Kenntnisse der Landessprache.

Der süße Duft der Aprikosen- und Orangenbäume, der üblicherweise das Dorf erfüllte, war vom Gestank nach Brand und Verwesung überlagert. Die meisten Häuser waren stark beschädigt, der Marktplatz und die Moschee komplett zerstört. Zwei ausgebrannte

Pick-ups rauchten noch vor sich hin. Es bedurfte allerdings keines Übersetzers, um zu verstehen, was der weißbärtige schmächtige Mullah, Dadullahs Cousin Borjahn und dem Boss mitzuteilen hatte. In seinem zerfurchten Gesicht spiegelten sich Abscheu und Zorn. Kaskaden von Verwünschungen entsprangen seinem Mund mit den schmalen, fast farblosen Lippen. Jones konnte dem Alten die Flüche nicht einmal übelnehmen, denn der Deal besagte, dass sie diese Leute hier beschützten.

Der Boss hatte anfänglich geschwiegen, zugehört und die Verwüstungen betrachtet. Nur ganz wenige Häuser waren verschont geblieben. Die Überlebenden hatten sich gemäß den Gesetzen des Islams umgehend um ihre Toten gekümmert. Die Leichen von Matveev, seinen SpezNas und drei Unbekannten lagen immer noch unberührt dort, wo sie vor kaum vierundzwanzig Stunden gefallen waren. Jones bekam mit, wie Borjahn und der alte Mullah sich heftig über den Bestattungsritus für die eigenen Toten stritten: Borjahn rief zu Ruhe und Besonnenheit auf. Er zitierte eine Passage aus dem Koran und versuchte, dem Alten begreiflich zu machen, dass seine Leute shahid – Märtyrer – waren und aus diesem Grund umgehend in ihren Kleidern und in ihrem Blut beigesetzt werden sollten. Der greise Mullah sah die Sache natürlich anders. Jones schüttelte den Kopf und überließ die vier Männer ihrer Debatte. Er wusste genau, wie es am Ende ausgehen würde: Dadullahs Cousin Borjahn würde den Dorfältesten und den Mullah entsprechend unter Druck setzen und sie an ihre Verpflichtungen Dadullah gegenüber erinnern. Der Boss würde ein saftiges Blutgeld bezahlen, und in drei Wochen sprach niemand mehr über den leidigen Vorfall. Er bedeutete den beiden Männern aus O’Shaughnessys Contractor-Gruppe, die ihn in Rustam Kalay erwartet hatten, die Leichen von Arkadij Matveev und den russischen Contractors auf den Pick-up zu laden und sie ein paar Kilometer vom Dorf entfernt diskret zu entsorgen. Die einfachste, schnellste und sauberste Lösung war Sprengstoff. Dann beugte er sich über den ersten der drei Unbekannten. Er hatte natürlich nicht erwartet, einen ID-Tag oder irgendeinen anderen, greifbaren Hinweis auf die Identität des Mannes zu finden. Doch manchmal gab es kleine Details, spezielle Militäruhren, Tätowierungen oder besondere Kampfmessertypen, die zumindest Rückschlüsse auf Nationalität oder Regimentszugehörigkeit erlaubten.

Das Sturmgewehr neben dem Toten und die kompakte Pistole waren so gebräuchlich, dass sie keine Hilfe bei der Identifizierung darstellten. Am Handgelenk hatte er eine qualitativ hochwertige, aber sehr weit verbreitete Militäruhr. Allerdings sprang Jones das Muster der Tarnkleidung ins Auge. »Multicam« war eine Neuentwicklung der US-amerikanischen Firma Crye Precision. Multicam war entwickelt worden, um in verschiedenen Terrains, zu unterschiedlichen Jahreszeiten und Lichteinwirkungen sowie unter Infrarotsuchgeräten die Konturen des Soldaten zu verwischen. Nur eine Handvoll regulärer Einheiten trugen zurzeit diese Hightech-Tarnkleidung. Die meisten von ihnen gehörten zum US Special Operations Command, ein paar zur Special Activities Division der CIA. Doch ansonsten waren es hauptsächlich private Militär- und Sicherheitsfirmen, die – auf Prestige und Publicity bedacht – ihre Mitarbeiter mit dieser sündhaft teuren Tarnkleidung ausstatteten.

Das war natürlich eine mögliche Erklärung. Irgendwelche Freelance-Kämpfer, auf der Jagd nach einer der lukrativen US-Abschussprämien für die obere und mittlere Führungsriege der Taliban oder al-Qaida, hatten in Eigeninitiative in ihrem Gebiet marodiert, in der Hoffnung, den berüchtigten Terror-Banker Ahmad Jan, der immer noch als »Schatten-Gouverneur« der Provinz galt, zu schnappen oder vielleicht sogar Dadullah zu erwischen. Der war Washington zwar nicht die satte Million als Abschussprämie wert, die es für Ahmad Jan gab. Aber auch er war auf dem Weg in die Top 100 der internationalen Terroristenliste von George W. Bush. Es gab durchaus ein paar private Militärdienstleister, die sich darauf spezialisiert hatten, Kopfgelder zu jagen, wenn sie nicht gerade von der CIA in irgendwelchen tiefschwarzen Geheimoperationen beschäftigt wurden, so wie seine Truppe jetzt gerade im Augenblick. Fünfhunderttausend Dollar bar auf die Hand, das war für ehemalige Berufssoldaten aus egal welchem NATO-Mitgliedsstaat sehr viel Geld.

Jones betrachtete den zweiten Toten. Auch er trug das Multicam-Tarnmuster. Doch anstelle eines amerikanischen Schnellfeuergewehrs und einer italienischen Pistole Beretta hatte er eine deutsche Maschinenpistole vom Typ Heckler & Koch und eine SIG-Sauer-Pistole vom Typ 226 im Kaliber 9mm. Er überließ den Boss, Borjahn, den Dorfältesten und den greisen Mullah ihrer Streiterei und ging zu dem Wehrhof hinüber, in dem die Unbekannten sich drei Tage lang verschanzt hatten. Er war neugierig, was bei der Untersuchung ihres Marschgepäcks herauskommen würde. Jones hoffte, dass sie sich nicht versehentlich mit dem CIA-Outlet im FOB Sweeney in die Quere gekommen waren.

Rund fünf Stunden Fahrt von Qalat und kurz vor der Distriktgrenze nach Ghazni operierten seit 2003 Männer der Special Activities Division zusammen mit den Special Forces Operational Detachments Alpha 326 und Alpha 311. Sie jagten al-Qaida-Operatives und andere große Namen der Terrorliste in den von Pakistan verwalteten Stammesgebieten, und der sehr strategische Bergrücken in rund dreitausend Meter Höhe und in Sichtweite der Grenze war ihr sicheres Rückzugsgebiet.

× × ×

Der Boss atmete erleichtert auf, als er endlich wieder in dem gepanzerten Chevrolet saß. Zumindest das Problem mit den Leuten aus dem Dorf war geregelt. Für die Abwicklung würde Borjahn sorgen. Sie hatten zusammen mit Jones eine Reihe dringender Termine in Kohat und in Peshāwar, und er selbst musste spätestens Ende der Woche wieder in Karatschi sein. Die Jacht war schnell, die Überfahrt kurz und sein alter Freund Saif konnte nicht ewig auf ihn warten, ohne aufzufallen.

Die Tatsache, dass Matveev und seine Männer den Zusammenstoß mit den Unbekannten nicht überlebt hatten, war ein Vorteil. Weder der Malik noch der Mullah suchten Vergeltung. Das Blutgeld für die Opfer, sein persönliches Versprechen, für jedes getötete Nutztier den dreifachen Wert zu bezahlen und die Aussicht auf einen großen Dieselgenerator und eine nagelneue Moschee erledigten den Rest. Paschtunwali, dem Ehrenkodex der Paschtunen, war Genüge getan. Außerdem hatten alle in der Gegend eine Heidenangst vor Dadullah, die sie beschönigend lieber Respekt nannten. Dadullah galt als brutal und gnadenlos. Und vor zwei Jahren war er einmal so grausam gegen einen Stützpunkt der afghanischen Nationalarmee in der ostafghanischen Provinz Nuristan unweit von Kunar vorgegangen, dass Mullah Omar ihn vorübergehend seines Kommandos entheben musste. Seither hatten sich Dadullahs öffentliche Umgangsformen eher noch verschlechtert: Er hatte enormen Geschmack daran gefunden, reihenweise all jenen, die er für Verräter hielt, den Kopf abzuschlagen – selbstverständlich vor laufender Kamera. Gelegentlich nahm er sich auch irgendwelche »Ungläubige« vor und säbelte drauflos, um beim Sender Al-Jazeera in der Primetime zu landen und makabre Werbung zu machen. Sein Freund war ein begabter Showman. Der letzte Dadullah-Scoop hatte irgendeinem aus Südkorea stammenden Baptisten-Prediger das Leben gekostet, den Kämpfer aus Borjahns Truppe beim Missionieren in den Bergen erwischt hatten.

Natürlich hatte der Boss seinem Freund immer wieder geraten, sich etwas zu mäßigen, doch er konnte Dadullahs Argumente nicht ganz vom Tisch weisen: Innerhalb der Quetta Shura wurde mit harten Bandagen gekämpft, und es war klar, dass Dadullah im Rat Mullah Omars Parteigänger unterbuttern musste, wenn sie weiterhin ungestört ihre eigenen Pläne verfolgen wollten. Natürlich funktionierte das am besten, solange die Mehrheit der Mitglieder der Quetta Shura, Mullah Omar eingeschlossen, vor Dadullah, seiner Brutalität und seiner gefährlichen Unberechenbarkeit eine Heidenangst hatten und sich darum lieber nicht einmischten, wenn er irgendwelche eigenen Operationen unternahm.

»Wir können davon ausgehen, dass sowohl der Dorfälteste als auch der Mullah es vorziehen, ihre Köpfe vorläufig noch auf den Schultern zu behalten und auch weiterhin von den positiven Seiten unserer Anwesenheit zu profitieren«, sagte der Boss ruhig. Leiser Spott lag in seiner Stimme. Der Materialschaden ließ sich schnell beheben. Die Toten waren bedauerlich, doch in Afghanistan waren Menschenleben billig. Selbst die betroffenen Familien würden sich nicht übermäßig mit den Gedanken an die Opfer des Gemetzels aufhalten. Die meisten von ihnen hatten während der letzten Jahrzehnte so viele Familienangehörige verloren, dass sie emotional völlig abgestumpft waren.

Jones nickte. Der Boss hatte die Situation in kurze Worte gefasst. Gute Beziehungen zum Top-Kommandeur der Taliban der Gegend brachten Vorteile. Trotzdem störte der Zwischenfall den erfahrenen Kriegsdienstleister und ehemaligen Söldner. Wenn er mit seiner Einschätzung Recht hatte, dann war es möglich, dass sich diese unkontrollierbare Form der Bedrohung wiederholte, trotz der Informationen, über die sie verfügten. Sie hatten Zugriff auf sämtliche Quellen der amerikanischen Geheimdienst-Community und des US CENTCOM in Tampa, auf die Combined Joint Special Operations Task Force und über die NATO sogar auf die ISAF.

»Das ganze Desaster hätte verhindert werden können, wenn Arkadij sich nicht auf einen Häuserkampf mit diesen Unbekannten eingelassen hätte«, erwiderte Jones frustriert.

Er hatte nicht nur zwei Dutzend hochprofessioneller Männer verloren, sondern auch einen seiner besten Freunde. In seinem Geschäft waren echte Freunde ein seltenes Gut, das man hegte und pflegte. Natürlich musste der Mann, der sie alle besoldete und ihm seit 1982 gutbezahlte Vollbeschäftigung garantierte, dieses besondere Detail nicht erfahren. Sie schätzten einander, aber sie waren keine Freunde. Sie waren Geschäftspartner und er war der Junior, der höllisch aufpassen musste, nicht als Sündenbock benutzt zu werden und am Ende die Rechnung zu bezahlen.

Der Boss zuckte die Schultern. Der Russe Matveev hatte seine Fehler mit dem Leben bezahlt. Jones musste jetzt schnell und diskret zwei Dutzend neuer Männer von seiner unerschöpflichen Expertenliste anheuern – vielleicht dieses Mal lieber keine Russen. Die schienen zu temperamentvoll für den Job, den sie hier machen sollten. Eher emotionslose, kaltblütige Angelsachsen, die es gewohnt waren, keine Fragen zu stellen und taten, was man ihnen auftrug.

»Haben Sie herausgefunden, mit wem wir es zu tun hatten?«, fragte Dr. Marshall B. Kingsley den Mann, den er nur unter dem Namen Jones kannte, neugierig. Ihm war nicht entgangen, dass der zum Kriegsdienstleister mutierte Söldnerführer die unbekannten Toten genauer unter die Lupe genommen hatte.

»Diese Typen waren keine Spezialeinheit der OEF, Boss«, erwiderte Jones bedächtig, »denn sie trugen keine regulären Uniformen. Sie hatten keine Dog Tags am Hals und die Tarnanzüge waren sündhaft teurer Multicam von Crye. Die Überreste der Ausrüstung, die ich finden konnte, waren genauso bunt zusammengewürfelt wie das Outfit und von ausgezeichneter Qualität. Die hatten richtig investiert: amerikanische M-16, brandneue österreichische Glocks und deutsche HKs, erstklassige französische Feldrationen. Das waren sehr gut organisierte und hochtrainierte Freelancer – Ehemalige irgendwelcher Eliteeinheiten, die entweder von einer der spezialisierten PMCs losgeschickt worden waren oder als autonome Gruppe arbeiteten. Ich glaube, dass ihr eigentliches Ziel Ahmad Jan war, oder vielleicht sogar Dadullah. Die attraktiven amerikanischen Kopfgelder für Führungskader der afghanischen Taliban-Bewegung sind das Risiko durchaus wert.«

»Eine interessante These, Jones«, antwortete Dr. Marshall B. Kingsley dem Kriegsdienstleister. »Ich weiß, für Ahmad Jan gibt es eine runde Million Dollar und für meinen guten Freund Dadullah immerhin schon die Hälfte – und die sogar in bar, wenn man ihn im Stil des klassischen Western der Sechzigerjahre auf der nächsten FOB abliefert, auf dem sich amerikanische Militärs befinden. Ich möchte, dass Sie in nächster Zeit ganz besonders auf meinen alten Freund achtgeben, wenn er sich hier in Zabul herumtreibt. Wenn es sein muss, schützen Sie ihn auch vor sich selbst. Ich möchte ihn nicht verlieren. Und jetzt erklären Sie mir noch, wie diese angeblichen Freelancer es fertiggebracht haben, einfach, schnell und unkompliziert einen ISAF-Rettungshubschrauber zu bestellen?«

Der Boss schmunzelte, nahm sich aber vor, dieses Rätsel zu lösen, sobald er wieder in Europa war.

Jones blies Luft wie ein alter Pottwal und verdrehte die Augen: Er hatte in seiner langen Karriere schon Pferde kotzen sehen. Es gab ein paar durchaus ehrbare westliche Nationen, die berüchtigt waren. Sie tendierten dazu, erst einmal eine Handvoll Söldner ohne Netz und doppelten Boden loszuschicken, bevor dann die offiziellen Spezialeinheiten in Uniform nachfolgten. Am Schlimmsten waren in dieser Beziehung die Briten und die Franzosen. Die Franzosen waren ein ganz besonderer Haufen. Bei ihnen konnte man sich nie sicher sein, für wen sie wirklich arbeiteten. Im Tschad hatte er 1983 miterlebt, wie ein Söldner sich plötzlich in einen Regulären verwandelte, die Helikopter rief und die Operation Manta auslöste. Der Typ hatte zum Service Action der DGSE gehört, der berüchtigten paramilitärischen Spezialeinheit des französischen Geheimdienstes. Männer mit einer echten Lizenz zum Töten.

Vielleicht wollten ja die intriganten »Schlapphüte« vom Pariser Boulevard Mortier unverbindlich ausloten, ob es möglich war, diskret und unerkannt bei den Amerikanern eine Million US-Dollar abzuzocken und dabei gleichzeitig einen aufstrebenden Führungskader der Taliban abzuschießen. Damit war allen gedient, und sie konnten sich Bargeld, von dem die Buchhalter der Republik nichts wussten, für irgendwelche tiefschwarzen Geheimoperationen zur Seite legen. Zuzutrauen war es den Frenchies. Jones hob die Hände in einer hilflosen Geste.

»Keine Ahnung, Boss. Aber O’Shaughnessy hat einen Überlebenden des Absturzes erwischt. Er bringt ihn gerade zur Grabungsstätte. Wir werden den Dreckskerl ausquetschen, bevor wir ihn umlegen.«

Afghanistan Provinz Zabul – unweit des Kashani-Passes

Bei Sonnenaufgang hatten die Männer sich auf einem kleinen Gaskocher Kaffee gebraut, in aller Seelenruhe gefrühstückt und dabei über belangloses Zeug geredet. Rossi hatte den frischen Kaffee bis hinauf in ihr Versteck gerochen und außer den Vornamen der meisten Anwesenden schnappte sie noch auf, dass die südafrikanische Nationalmannschaft am nächsten Abend im Rugby gegen die Fidschi-Inseln antreten würde. Es war eine Vorrunde im Weltcup. Zwei der Männer freuten sich bereits darauf, nach getaner Arbeit gemütlich das Spiel anzusehen und sich dabei ein paar kühle Bier zu gönnen.

Die Kaltblütigkeit der Kerle, die ja immerhin sieben Menschen auf dem Gewissen hatten, schockierte sie. Aber Rossi stellte sich vor allem die Frage, wo man hier am Ende der Welt im afghanischen Niemandsland und mitten in den Bergen Filtertüten, Bohnenkaffee, kühles Bier, eine Satellitenschüssel, Strom und ein Fernsehgerät auftreiben konnte, um den Südafrikanern und den Fidschis beim Rugby-Match zuzuschauen? Die einzige Antwort, die sie darauf fand, war: In einem gut organisierten, modern ausgestatteten Camp, das nicht allzu weit von der Absturzstelle ihres Helikopters entfernt liegen konnte!

Rossi war zutiefst erleichtert gewesen, dass der gefangene Special-Forces-Soldat die lange, eiskalte Nacht überstanden hatte. Natürlich hatten die Kerle ihm weder frisch gebrühten Bohnenkaffee noch ein leckeres Frühstück angeboten. Sie hatten sich nicht einmal dazu aufgerafft, ihm wenigstens ein bisschen Wasser zu geben. Er lehnte immer noch an Händen und Füßen gefesselt gegen seinen Felsbrocken. Sie beobachtete ihn eine Weile durch das kleine Fernglas, das sie bei seiner Ausrüstung gefunden hatte. Er schien bis auf die Knochen durchgefroren, aber er war nicht am Rande des Todes. Und er wirkte eher trotzig und verbissen, als resigniert oder niedergeschlagen.

Als die Lichtverhältnisse es zuließen, schoss der Anführer der Gruppe ein paar Fotos vom Hubschrauber-Wrack und von den Leichen am Ufer. Dann brachen sie das Lager ab. Die geschwätzigen Rugbyfans Rowan und Erin luden sich die übriggebliebene Boden-Luft-Rakete auf. Unterdessen umstellten ihre drei Kumpel mit entsicherten Waffen den Gefangenen, während der Anführer ihn – die eigene Handfeuerwaffe im Anschlag – von seinen Fußfesseln befreite, an die Leine legte und durch einen kräftigen Tritt ins Kreuz zum Aufstehen bewegte. Die Typen schienen einen Heidenrespekt vor dem Gefangenen zu haben. Der war entweder steif oder immer noch unkooperativ, vielleicht auch beides, denn es dauerte eine Weile, bis er sich stolpernd und schwankend in Bewegung setzte.

Rossi schüttelte den Kopf. Der Mann tat ihr leid. Sie fühlte sich mitschuldig an seiner Misere. Als sie zur Medical Task Force nach Kandahār versetzt worden war, hatte sie ein sogenanntes SERE-Training bekommen. Alle Ärzte, die Rettungseinsätze flogen, erhielten solch einen Schnellkurs in Flucht und Überleben hinter feindlichen Linien. Das erste Kapitel war damals gewesen: »Abhauen! Nichts wie weg von der Absturzstelle. Da sucht der Feind immer zuerst.«

Wenn der Special-Forces-Soldat sie nicht gerettet und in Sicherheit gebracht und medizinisch versorgt hätte, dann wäre er bereits über alle Berge und vielleicht sogar schon mit Verstärkung auf dem Rückweg, um diesen Kerlen das Handwerk zu legen. Rossi gab der Gruppe Zeit, aus ihrem Blickfeld zu verschwinden. Sie verdrängte die Vorstellung, wie es ihr ergangen wäre, wenn Rowan, Erin, Mickie, Frankie, Jack und der Chef mit dem Satellitentelefon sie anstelle des Mannes in die Finger bekommen hätten. Vermutlich hätten die Schurken sich nicht damit zufriedengegeben, sie nur zu verprügeln …

Rossi hatte den Absturz und den heftigen Schlag auf den Kopf aufgrund der besonderen Umstände schnell weggesteckt. Sie fühlte sich trotz der durchwachten Nacht und der emotionalen Achterbahn zwischen Leben und Tod weder müde noch kalt oder hungrig. Sie schämte sich nur ein bisschen, weil sie zum Frühstück außer den süßen Keksen und dem Energiedrink aus der Vierundzwanzig-Stunden-Kampfration des Special-Forces-Soldaten auch noch eine der Go-Pills eingeworfen hatte. Als Ärztin wusste sie natürlich, wie gefährlich diese Dinger waren. Trotzdem konnte sie sich nicht dazu durchringen, den homöopathischen Mittelchen Vertrauen zu schenken, auf die der Mann selbst zu setzen schien.

Zum Glück machte die Truppe mit ihrem widerspenstigen Gefangenen keine Anstalten, den Fluss zu überqueren, sondern sie begaben sich auf einen Maultierpfad. Rossi wartete, bis der letzte Rucksack hinter einem Felsen verschwunden war. Sie wollte unten am Fluss zuerst noch ihre Wasserreserven aufstocken. Unter den Gadgets, die der unglückliche Special-Forces-Soldat bei ihr zurückgelassen hatte, gab es ein sogenanntes »Camelbak«, einen in die Interventionsweste integrierten Trinkrucksack, der rund drei Liter Flüssigkeit fasste. Flüssigkeit war sowohl bei Hitze als auch bei Kälte überlebensnotwendig. Man konnte es lange aushalten, ohne zu essen, doch ohne Wasser…

Rossi wusste, dass sie eine außergewöhnlich robuste Konstitution hatte: In Schönau am Königssee, im Herzen der Berchtesgadener Alpen zur Welt gekommen, in den Bergen in einer Familie passionierter Skifahrer und Kletterer großgeworden, machte ihr der Abstieg keine Angst. Sie hatte Freeclimbing als Freizeitvergnügen betrieben. Zu Hause in ihrer Bergsteiger-Clique war es große Mode gewesen, die steilsten Strecken ohne Seil und nur mit Geschick und Körperkraft zu überwinden. Frauen hatten hier durch die Gelenkigkeit des Beckens und ihre Fähigkeit zu einem regelrechten Spagat im Felsen einen gewaltigen Vorteil, obwohl Männer für gewöhnlich über mehr Kraft in den Armen verfügten. Rossi hoffte nur, dass die sperrige und schwere taktische Weste mit Verpflegung, Medizin, der Munition, der Pistole und das ganze andere Equipment, das der Special-Forces-Soldat mit sich herumgeschleppt hatte, sie nicht bei der Kletterei behindern würde. Sie hatte sich einen Moment lang überlegt, Teile seiner Ausrüstung zurückzulassen. Besonders der altertümliche Alutrinkbecher mit einem halben Liter Kapazität und die Trinkflasche aus Alu schienen ihr neben dem praktischen Camelbak fast überflüssig. Dann hatte sie aber die Idee verworfen. Sie konnte in diesem Augenblick nicht abschätzen, ob sie das Zeug vielleicht doch brauchen würde … auch wenn sie eher bezweifelte, dass ein alter Alubecher oder Plastiksprengstoff bei ihrem Vorhaben eine Schlüsselrolle spielen würden.

Codename Corvus Thriller

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