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Teil 1

Erstes Kapitel

Afghanistan – südwestlich von Kandahār – Bergdorf Rustam Kalay

Der als MedEvac umgerüstete Black-Hawk-Hubschrauber war die Strecke von Kandahār in die Provinz Zabul in Rekordzeit geflogen. Erst während der letzten zehn Minuten hatten die Piloten Gas weggenommen und sie manövrierten im Tiefflug durch die bergige Landschaft.

Oberstabsarzt Carla Rossi spürte die Spannung im Inneren des Helikopters. De Ruijters, der holländische Militärarzt, hatte den MP3-Player weggelegt. Er starrte neben ihr gebannt durch die Seitentür. Die Bordschützen hingen vornübergebeugt in ihren Sicherungsgurten, die Maschinengewehre im Anschlag. Jason Higgins versteckte sich immer noch in der hintersten Ecke des Hubschraubers. Der kanadische Sanitäter war leichenblass. Als das rote Alarmlicht in der Kabine losging, übertönten die Abschüsse der Flare Dispensers den Lärm der Rotoren. Der MedEvac kippte zur Seite, beschleunigte und ging tiefer. Rossis rechte Hand umklammerte den Metallrahmen einer Pritsche. Sie kämpfte gegen den brutalen Druck der Gs, die sie in den Boden zu rammen drohten. Für einen kurzen Augenblick schloss die Bundeswehrärztin die Augen, als sie das unverkennbare Zischen eines MANPADS registrierte. Knapp neben dem Hubschrauber explodierte eine gegnerische Boden-Luft-Rakete. Rossi atmete auf und rappelte sich hoch.

Mechanisch überprüfte ihre linke Hand die Einsatzweste und den Sitz des Helms, während die rechte nach der Tasche mit der Notausrüstung griff. Dann streckte sie den Daumen in die Luft und bedeutete de Ruijters, dass sie bereit war. Der holländische Militärarzt schien zumindest äußerlich genauso gelassen, wie sie selbst. Er machte eine abfällige Handbewegung in Richtung des kanadischen Rettungssanitäters, der sich immer tiefer in seinem Versteck verkroch. Sie würden die Situation auch ohne den dritten Mann in den Griff bekommen. Plötzlich fluchte einer der beiden Bordschützen und hämmerte eine Salve nach unten. Im gleichen Augenblick zogen die beiden amerikanischen Piloten den Rettungshubschrauber noch einmal kurz hoch. Dann sank er in einer gigantischen Staubwolke zu Boden.

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Die beiden Bordschützen hatten in einer einzigen Bewegung ihre Sicherheitsgurte gelöst und waren, ihre Schnellfeuerwaffen im Anschlag, nach draußen gesprungen. Die Rotorblätter beruhigten sich. Durch die Staubwolke erkannte das Rettungsteam von der ISAF Medical Task Force Kandahār, dass der Kampf auf der anderen Seite der Mauer tobte. Obwohl die von Aprikosen- und Granatapfelbäumen gesäumte Landezone sicher schien, war es riskant, den Hubschrauber vollständig zum Stillstand zu bringen. Mehrere Granaten explodierten in kurzer Folge. Mit einem gewaltigen Krachen flog im Hintergrund etwas Großes in die Luft und knallte wieder zu Boden. Rossi versuchte, das aufgeregte Geschrei auszublenden und klare Sicht zu bekommen. Ihr holländischer Kollege war bereits aus der Seitentür gesprungen, bevor die Kufen des MedEvac Bodenkontakt hatten. Der durchtrainierte breitschultrige Endvierziger konnte mit vielen jüngeren Berufssoldaten problemlos mithalten. Rossi, ihre Ausrüstung in der Rechten und eine Stoffrolle mit fertig aufgezogenen Morphin-Spritzen in der Linken, wollte ihm nachfolgen. Doch de Ruijters, der einen deutlichen Vorsprung auf die Mauer hatte, schien etwas wahrzunehmen, das ihr noch entging. Mit einer knappen Handbewegung bedeutete er ihr, am Helikopter zu bleiben. Dann sah sie es auch: Jemand legte dem holländischen Militärarzt vor der Kulisse eines Infernos aus Feuer und Rauch etwas Dunkles und Schlaffes auf die Schulter. De Ruijters sprintete zum Helikopter zurück.

Die beiden Schwerstverletzten lagen nicht auf Tragebahren geschnallt zur Evakuierung bereit, sondern direkt neben einer kaum sichtbaren Pforte in der Mauer auf dem blanken Boden. Ein Kamerad, der offensichtlich auch verletzt, aber noch auf den Beinen war, hatte de Ruijters dabei geholfen, den ersten Mann aufzuladen. Jetzt hievte er sich mühsam den zweiten über die Schultern und folgte deutlich langsamer nach. Es schien ihn seine letzte Körperkraft und Willensstärke zu kosten. Er humpelte zum Erbarmen.

De Ruijters schmiss seine Last wie einen nassen Sack auf die erste Pritsche. Rossi bemerkte nicht, dass der Holländer noch einmal ausstieg, um dem humpelnden Soldaten seinen Kameraden abzunehmen. Als erfahrener Notfallmediziner handelte sie instinktiv, tat, was getan werden musste: Der Mann war bewusstlos, der Druckverband über seinem Brustkorb durchgeblutet, eine etwas tiefer liegende Thoraxverletzung war ordentlich mit einem Bolin Seal abgedichtet. Rossi fixierte eine Sauerstoffmaske über Mund und Nase des Verletzten. Seine Atmung besserte sich. Das dumpfe Rasseln hörte auf. Sie schnitt den Ärmel der Kampfjacke auf und suchte die Vene. Es dauerte nur Sekunden, bis das Plasma begann, den Blutverlust des Mannes auszugleichen. Neben ihr kümmerte sich de Ruijters um den anderen Verletzten. Higgins hatte sich aufgerappelt und ging ihm zur Hand. Der Holländer fluchte leise, zischte dem Kanadier zu. »Scheiße! Adrenalin! Schnell!« De Ruijters stach direkt ins Herz. Der Soldat fuhr kurz hoch, ein gurgelnder Laut entwich seiner Kehle. Der leichter verletzte dritte Soldat diskutierte noch mit den amerikanischen Piloten und den kanadischen Bordschützen. Rossi hatte das Gefühl, dass es sich bei den Geretteten nicht um gewöhnliche Soldaten handelte, sondern um Mit- glieder einer obskuren Special-Forces-Einheit. Sie waren nicht einheitlich gekleidet, und ihre Uniformen hatten ein seltsames Tarnmuster. Es waren keine Hoheits- oder Rangabzeichen aufgenäht, und der schwerverletzte Soldat, den sie stabilisierte, trug keinen Dog Tag am Hals. Noch bevor Rossi sich die Frage stellen konnte, warum solche geheimnisvollen Typen ausgerechnet einen auffälligen MedEvac bei der ISAF Medical Task Force Kandahār bestellen, anstatt ihren eigenen, diskreten OEF-CSAR-Helikopter herbeizufunken, hatte auch schon einer der Bordschützen den Leichtverletzten mit der Beinwunde in den Helikopter bugsiert, und sie hoben in einer gewaltigen Staubwolke ab.

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Als der Agent sah, dass der MedEvac langsam anstieg, hob er die Panzerfaust auf die Schulter. Es war eine russische RPG-7, in sechsstelligen Stückzahlen produziert und auf der ganzen Welt verbreitet. Er hatte sich die beiden Brandstoff-Granaten bis zuletzt aufgehoben. Um dieses verdammte Drecksnest am Ende der Welt lebend zu verlassen, brauchen wir jetzt einen ganz gewaltigen Knall, ging es ihm durch den Kopf. Die beiden feindlichen Boden-Luft-Raketen vom Typ Stinger – steinalter und verlotterter Kriegsschrott aus den Tagen von US-Senator Charlie Wilsons Privatkrieg gegen die Sowjetunion – hatten den ISAF-Rettungshubschrauber im Landeanflug nur knapp verfehlt. Dank der geradezu unglaublichen Reaktion der Piloten waren alle heil dem Schlamassel entkommen, aber der MedEvac hatte dabei seinen gesamten Vorrat an Abwehrmaßnahmen verpulvert. Jetzt war er schutzlos, und die Russen, die sich hinter den Mauern der kleinen Moschee in der Dorfmitte verschanzt hatten, waren erfahren, knallhart, gut ausgebildet und sehr nervenstark. Profis, die genau wussten, was sie taten. Sie verfügten über eine exzellente Bewaffnung und spielten nicht nach den offiziellen Regeln. Es waren eindeutig SpezNaz. Der Auftrag der Russen war es, um jeden Preis zu verhindern, dass der Agent und die Soldaten aus der französischen Spezialeinheit das Dorf lebend verließen. Die, die sie achtundvierzig Stunden lang heimlich beobachtet hatten, bevor eine Ziege und ein Hirtenjunge ihnen zum Verhängnis wurden, würden Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um das finstere Geheimnis zu wahren.

Nach dreitägigem Kampf ähnelte alles einer Ruinenlandschaft: Zwischen reglosen Körpern in afghanischer Landestracht und zerfetzten Nutztieren – Kollateralschäden – lagen Leichen in Uniform. Drei trugen einen Mix aus Hightech-Tarnanzügen und lokalen Kleidungsstücken, die anderen Camouflage-Uniformen mit dem BDU MARPAT Desert Pattern der Amerikaner. Ein paar streunende Hunde, die sich von dem Feuergefecht nicht stören ließen, steckten ihre Schnauzen bis zum Anschlag in die blutigen Wunden der toten Körper. Knapp fünfzig Meter vor dem Tor des Anwesens erkannte der Agent die brennenden Reste zweier Geländewagen. Seine Augen fanden, wonach sie gesucht hatten. Er zielte ruhig. Sekunden später explodierte die erste Brandgranate direkt im Eingang der Moschee. Er lud nach und feuerte die zweite Granate ab. Lebende Fackeln stürzten in kopfloser Panik aus dem Gotteshaus auf den Dorfplatz, wo sie inmitten der anderen Opfer des blutigen Kampfes zusammenbrachen. Er atmete tief ein, ließ die Panzerfaust fallen und sprintete bis zu einer Stelle, von der aus er auf das flache Dach des Wohngebäudes springen konnte. Der MedEvac dümpelte im Standflug. Die Piloten waren wirklich gut. Sie verstanden genau, was er vorhatte. Das Kabel der Winde baumelte in Griffhöhe. Er packte es, vollführte einen unmöglichen Klimmzug und schob einen Fuß in die Schlinge. Ein kurzer Ruck. Einer der Bordschützen hielt das Kabel mit der Hand auf Abstand, warf dann die Seilwinde an und zog den Agenten nach oben. Der Helikopter senkte die Nase und nahm Fahrt auf. Er drehte sich einmal um die eigene Achse und schoss auf die Berge zu.

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Commandant Gwénaël Kérmorvan knallte schmerzhaft mit der linken Schulter gegen die Kufe, anschließend mit der Hüfte. Noch ehe der Einsatzagent des Service Action der DGSE reagieren konnte, packten ihn zwei kräftige Hände und zerrten ihn in den Hubschrauber. Kérmorvan schnappte ein paar Sekunden nach Luft. Sein Herz hämmerte wild gegen die gepanzerte Bodenplatte. Schwarze und goldene Sterne flimmerten vor seinen Augen. Seine behandschuhte Rechte ertastete die Spitze eines Kampfstiefels, während die Linke in einer abrupten Bewegung die Maschinenpistole wegschob, die ihn in Brust und Magen drückte. Als Kérmorvan endlich wieder Luft bekam, rollte er sich auf den Rücken. Der leichtverletzte Special-Forces-Mann Peret hockte wie ein Untoter blutbefleckt und mit teilnahmslosen Augen neben einer Bahre. Seine Hand hielt eine andere blutige Hand umklammert, die unter einer grauen Decke hervorlugte. Es schien Durand. Er hing am Tropf und schlief. Gegenüber waren drei Gestalten um eine zweite Bahre versammelt und sprachen leise miteinander. Kérmorvan sah Schläuche herunterhängen. Am Boden lagen die beiden Thoraxpflaster und der Notverband, den er selbst kaum eineinhalb Stunden zuvor angelegt hatte, hoffend, dass der Soldat LeGoff nicht erstickte oder verblutete. Kérmorvan nickte dem kanadischen Bordschützen zu, der ihn in den Helikopter gezogen hatte. Dann verkroch er sich mit seiner Waffe in eine Ecke des Hubschraubers. Kérmorvan empfand nichts als Leere: keine Trauer um die drei toten Soldaten aus der Spezialeinheit, die er auf dem Dorfplatz zurücklassen musste, keine Erleichterung, dass wenigstens drei der Männer mit ihm zusammen das Drecknest im Distrikt Shinkay lebend verlassen hatten. Nicht einmal die dumpfen Schmerzen in seiner linken Schulter und Hüfte nahm er wahr.

Afghanistan – Provinz Zabul – Bergdorf Rustam Kalay – nordöstlich von Qalat

Tolja Zabelev verfolgte den Rettungshubschrauber mit seinem Fernglas, bis er hinter einem Hügel verschwand. Sie hatten versagt! Diese verdammten Kerle hatten es geschafft, sie auszutricksen. Mindestens drei der Männer waren entkommen. Einen hatte er gerade bei seiner spektakulären Flucht beobachtet. Er zögerte einen Augenblick, dann zog er das Funkgerät aus der Tasche. Die kleine Gruppe, die Matveev am Pass von Kashani zurückgelassen hatte, um den Eindringlingen den Rückzug abzuschneiden, würde den Helikopter vielleicht noch erwischen. Rowan und Erin hatten die französische Boden-Luft-Rakete dabei, die ihr Auftraggeber Mr. Jones einem serbischen Mittelsmann in Damaskus abgekauft hatte. Mistral war eine der besten Boden-Luft-Raketen der Welt. Sobald man sie auf ein Ziel abschoss, war die Sache gelaufen. Fire and Forget!

Tolja Zabelev bezweifelte natürlich, dass Matveevs Partner wirklich »Jones« hieß. Dafür hatte er zu viel Bares in der Tasche und zu viele Möglichkeiten, schnell und unproblematisch an Ausrüstung heranzukommen, von der normale Söldner nur träumen konnten. Nach dem Geiseldrama im Moskauer Dubrowka-Theater hatten sie alle die Schnauze vollgehabt: von den verdammten Tschetschenen, von Wladimir Putin und von ihrer eigenen, russischen Armee, die mit dem erbärmlichen Sold auch noch monatelang im Rückstand war. Ihr Vorgesetzter Major Arkadij Alexewitsch Matveev hatte sein gesamtes SpezNas-Team überredet, auszusteigen und sich zusammen freelance meistbietend zu verkaufen. Nach 9/11 war das Geschäft der privaten Kriegsdienstleistungen richtig angelaufen, denn der amerikanische Präsident hatte dem internationalen Terrorismus den Krieg erklärt. Die Welt wurde gefährlicher, und es gab überall gut bezahlte Contractor-Jobs, wo Männer wie er zwischen sechshundert und achthundert Dollar am Tag verdienen konnten. Man übernahm den bewaffneten Personenschutz für Wirtschaftsbosse oder bewachte Unternehmen im Ausland. Unglücklicherweise hatte es ihre ganze Truppe am Ende genau dorthin verschlagen, wo keiner von ihnen jemals wieder hingewollt hatte: nach Afghanistan!

Tolja sprach kurz mit Richard O’Shaughnessy, dem Anführer der Gruppe am Pass. Abschließend gab er die Flughöhe und Flugrichtung des Helikopters an Rowan und Erin durch, die das Mistral bedienten. Daraufhin schmiss der Russe das Funkgerät auf den Boden und zertrümmerte es mit einem gezielten Tritt seines Kampfstiefels. Er hatte sich entschieden. Major Matveev konnte ihn nicht mehr davon abhalten, alles hinzuschmeißen. Den fraßen nämlich gerade die halbwilden afghanischen Straßenköter in der Dorfmitte von Rustam Kalay auf. Gegrilltes Frischfleisch war rar in dieser Gegend. Seine anderen Kameraden waren entweder bereits tot oder würden im Lauf der nächsten Stunden erbärmlich krepieren. Im Gegensatz zu ihren Gegnern, die es fertiggebracht hatten, trotz intensivster elektronischer Störmaßnahmen einen Rettungshubschrauber anzufordern, konnten sie niemanden zu Hilfe rufen, und er hatte nicht den Mut, ihnen den erlösenden Gnadenschuss zu geben. Tolja trat unbarmherzig nach einem Köter, der sich an den Eingeweiden eines Mannes labte, den er noch vor Kurzem seinen Freund genannt hatte. Das räudige Vieh quietschte, wich ein paar Meter zurück und legte sich auf den Boden. Mit hochgezogenen Lefzen und boshaft glänzenden bernsteingelben Augen beobachtete es den Russen aufmerksam.

Petja würde seine gefüllten Magazine, die taktische Weste mit Feldration, Wasser und Thermodecke und die Pistole nie wieder brauchen. Eines ihrer Fahrzeuge hatte das Wüten der nicht identifizierten Special-Forces-Einheit, mit der sie sich drei Tage herumgeprügelt hatten, verhältnismäßig unbeschadet überstanden. Nach Qalat waren es querfeldein nur etwa sechzig Kilometer. Das waren zwei Tage Fahrt, doch mit ein bisschen Glück konnte er sich von dort aus auf der Ring Road nach Kabul durchschlagen und dann irgendwie diskret aus Afghanistan verschwinden. Tolja hatte genug. Er pfiff auf das Geld, das Jones ihm noch schuldete. Er hatte genug.

Das Geschäft wurde einfach zu gefährlich. Dieser blutige Kampf war nicht ihre erste Begegnung mit Soldaten von der Operation Enduring Freedom gewesen. Doch all die anderen Male hatte man sie rechtzeitig gewarnt. Sie hatten im Hinterhalt gelegen, ihre Gegner überrascht und waren dabei immer ohne eigene Verluste davongekommen. Abgesehen von der widerlichen Drecksarbeit, hinterher die Leichen der Opfer mithilfe von Explosivstoffen endgültig aus der Welt zu schaffen, waren diese Einsätze ein absolutes Kinderspiel gewesen und hatten mit ehrlichem Kampf Mann gegen Mann nichts zu tun gehabt. Doch dieses eine Mal war alles ganz anders gelaufen … Er fluchte und zwang sich, den Geruch nach brennendem Fleisch zu verdrängen.

Codename Corvus Thriller

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