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Zweites Kapitel

Afghanistan – Provinz Zabul

Rossi und de Ruijters hatten es sich in den Kopf gesetzt, ihre Patienten um jeden Preis lebend nach Kandahār zu bringen. Der leichtverletzte Mann mit dem kaputten Bein hatte sie weggewinkt und dabei mit einer flehenden Geste und verzweifelten Augen auf seine beiden Kameraden gedeutet. Dann hatte er seine Wunde selbst notdürftig versorgt und sich mit dem Autoinjektor einen Schuss Morphium gesetzt. Der zweite Schwerverletzte war schnell stabilisiert. Nach der Adrenalinspritze ins Herz hing er am Tropf mit Schmerzmitteln und Plasma und hatte seinen relativ schmerzfreien Kameraden an seiner Seite, der ihm die Hand hielt und leise auf ihn einzureden schien. Obwohl der Helikopter sich im Tiefflug durch eine Gebirgsregion schlängelte, wollte Jaap bei dem dritten Verwundeten eine Not-Thorakotomie versuchen und dann den Durchschuss des rechten Vorhofes mit zwei Gore-Tex-Patches übernähen. Die Chancen ihres Patienten, Kandahār ohne diese gewagte Notoperation lebend zu erreichen, standen gleich null. Der Soldat war vor seiner Evakuierung außergewöhnlich gut versorgt worden. Dadurch war ihm der gefährliche Spannungspneumothorax erspart geblieben. Und der Nasopharyngealtubus hatte für ein gutes Atmungsmanagement des Angeschossenen gesorgt und so seine Aussichten zusätzlich verbessert. Rossis Blick kreuzte für einen kurzen Augenblick den des unverletzten Special-Forces-Soldaten. Er saß in seiner Ecke und beobachtete sie aufmerksam. Sie vermutete, dass er es gewesen war, der die beiden Kameraden unter Feuer notversorgt hatte. Vielleicht war er ein Kollege, ein sogenannter SOCM oder Special Operations Combat Medic, wie sie von den Special Forces der NATO-Mitgliedsstaaten und auch denen der Russen ausgebildet wurden, um den Soldaten bei ihren lebensgefährlichen Einsätzen hinter feindlichen Linien im Falle einer Verwundung zumindest eine minimale Überlebenschance zu gewähren. Durch seinen dichten, schwarzen Bart schenkte der Special-Forces-Operator ihr ein müdes, aber dankbares Lächeln. Als Rossi ihn zum ersten Mal bemerkt hatte, hockte er noch wie ein verstörtes, wildes Tier in einer Ecke und klammerte sich zitternd und schwer atmend an seiner Waffe fest, als ob sie sein letzter Halt im Leben war. Zwischenzeitlich schien er sich wieder gefangen zu haben und wirkte nicht mehr ganz so aggressiv wie unmittelbar nach seiner gewagten Flucht. Er verstand offenbar auch, was sie und de Ruijters planten. Dies, gepaart mit einem Hauch von Bewunderung, hatte sie in seinen dunklen Augen gelesen, während ihre Blicke sich gekreuzt hatten. Sie war insgeheim froh, dass sie neben zwei Schwerstverletzten bei diesem riskanten Einsatz unter feindlichem Feuer nicht auch noch eine unberechenbare und traumatisierte Raubkatze im Helikopter hatten.

Rossi schluckte. Silbern glänzten die Klammern in de Ruijters Händen. Er hob kurz die Augen von der Thoraxverletzung und fixierte sie.

»Es wird gut gehen«, formten seine Lippen auf Deutsch durch den Lärm der Rotorenblätter, »wir werden diesen Mann retten!«

Rossi nickte energisch und wiederholte laut die Worte ihres holländischen Kollegen, um sich Mut für den gewagten Eingriff zu machen.

»Wir schaffen das, Jaap!«, rief sie de Ruijters zu. »Du und ich, wir sind ein unschlagbares Team! Wir schaffen das …«

Dann führte sie ihre Sonde so vorsichtig wie möglich in den Schusskanal ein.

Afghanistan – Provinz Zabul – Kashani-Pass

Die Gruppe verfolgte fasziniert den Flug der Boden-Luft-Rakete. Das französische Mistral war eines der besten Fire-and-Forget-Flugabwehrsysteme der Welt. Obwohl sie nur das ältere Model Mistral 1 mit einer maximalen Bekämpfungshöhe von drei Kilometern und einer Geschwindigkeit von Mach 2,5 zur Verfü gung hatten, war es doch beeindruckend: Erin, der Operator, konnte den Growl des Infrarotsuchkopfs in seinem Headset hören. Den Dauerton, als die Mistral sich wenig später wie ein bösartiger Pitbull in den Rettungshubschrauber verbiss, hörten sie alle.

Ein glücklicher Zufall hatte gewollt, dass sie das sündhaft teure Ding überhaupt mitgenommen hatten. Jones war unterwegs, um Geschäfte zu erledigen. Der Professor kümmerte sich nicht um die Sicherheit der Grabungsstätte. Es war Matveevs Job gewesen, die neugierigen Typen zu jagen, die versucht hatten, sich durch den Fluss und über den Pass ins Hochtal zu schleichen. Dadullahs ältester Sohn hatte sie zufällig entdeckt, als er versuchte, eine Ziege einzufangen, die seinem Großonkel ausgebüchst war.

Der Infrarotsuchkopf hatte endlich sein Ziel gefunden, nachdem er sich kurzfristig von einem Ausweichmanöver des MedEvac hatte ablenken lassen. Doch ein Rettungshubschrauber war kein Kampfhubschrauber, auch wenn er einen eindrucksvollen Namen trug … und ein Black-Hawk-MedEvac, der all seine Abwehrmaßnahmen verpulvert hatte, war so hilflos wie eine Tontaube.

»Bingo!« jubelte Erin.

Richard O’Shaughnessy schmunzelte, als der elegante Helikopter sich mit einem Mal in eine lahme Ente verwandelte. Er gab seinen Männern Zeichen, die übriggebliebene Rakete und die Abschussvorrichtung wieder einzupacken. Der überlebende Russki Zabelev hatte ihm mitgeteilt, dass sich mindestens drei der Männer, die sie jagten, an Bord des ISAF-Rettungshubschraubers befanden. Und es war immer möglich, dass jemand einen Absturz überlebte.

Für ihren Auftraggeber wäre es fatal, wenn ein Überlebender es zurück zu den NATO-Truppen schaffte. Niemand durften je erfahren, was in dem Bergdorf Rustam Kalay geschehen war.

Afghanistan – Provinz Zabul – unweit des Kashani-Passes

Kérmorvan rieb sich den Kopf. Der Einschlag war hart, plötzlich und unerwartet gekommen. Augenblicke zuvor hatte er noch die Bundeswehr-Ärztin beobachtet, wie sie ihre Sonde vorsichtig in den Einschusskanal unter dem rechten Rippenbogen von Durand einführte. Er wollte sich aufrappeln, doch der Helikopter schlingerte furchterregend. Schließlich gelang es ihm mit der Rechten, den fest im Boden verschraubten Metallfuß einer Pritsche zu fassen. Aus dem Augenwinkel sah er einen der beiden Bordschützen. Er hing in seinem Sicherheitsgurt über dem Rand der offenen Seitentür. Der Mann war tot. Aus seinem Rücken ragte ein zersplittertes Stück Holz. Kérmorvan drehte den Kopf. Der holländische Arzt und der kanadische Sanitäter lagen blutig und wie seltsame Marionetten verrenkt über LeGoff, der keinen Kopf mehr hatte. Die Außenwand des Helikopters beulte sich nach innen wie eine leere Cola-Dose. Peret lag über der Leiche von Durand. Der Aufprall hatte den Rahmen der oberen Pritsche aus ihrer Verankerung gerissen und musste dem Mann dabei das Genick gebrochen haben.

Kérmorvan versuchte, die Beine zu bewegen. Er spürte sie bis hinunter in die Zehen. Auch ansonsten war er im Großen und Ganzen unbeschädigt. Doch irgendetwas klemmte ihn ein. Er zwang sich zur Ruhe. Es war nicht sein erster Absturz mit einem Helikopter. Für einen Panikanfall war später noch Zeit: am besten zu Hause in Frankreich, wo es keinen störte, wenn er die Nerven verlor. Nach ein paar erfolglosen Versuchen gelang es ihm endlich, das rechte Knie hochzudrücken. Er hörte ein leises Wimmern. Mithilfe des Metallfußes zog er sich in eine aufrechtere Position. Er atmete auf.

Was ihn einklemmte, war kein Wrackteil, sondern nur die zierliche, kleine Bundeswehr-Ärztin. Sie lag bäuchlings auf ihm. Kérmorvan angelte vorsichtig nach dem Rückenträger ihrer Funktionsweste und erwischte ihn gerade noch mit zwei Fingern. Zum Glück war die Frau ein echtes Leichtgewicht. Er spürte instinktiv, dass er weder den Metallfuß loslassen noch irgendeine ruckartige Bewegung machen durfte. Langsam zog er sie zu sich hoch. Er lächelte, als er den kräftigen Schlag ihres Herzens fühlte. Sie lebte! Und sie schien bis auf eine blutige Schramme über dem Auge genauso unverletzt wie er selbst.

Eine seltsame Schwingung, wie von einem großen, flachen Stein, der ins Wasser geworfen absank, trieb ihm den kalten Schweiß auf die Stirn. Noch bevor er den panischen Schrei aus dem Cockpit des Helikopters hörte, wusste er ganz genau, was jetzt geschehen würde. Er schlang den linken Arm so fest wie möglich um den Oberkörper der Bundeswehr-Ärztin, schloss die Augen und betete inständig zu seinem Schutzpatron:

»Saint Michel Archange, rempli de la sâgesse de Dieu … – Heiliger Erzengel Michael, voll der Weisheit Gottes …«

Noch bevor Kérmorvan mit seinem Gebet zu Ende war, spürte er einen zweiten Schlag, um vieles härter als der erste und von einem rätschenden, kehligen Geräusch begleitet. Er atmete tief durch, und konzentrierte sich auf den Metallfuß. Egal wie, wenn sie leben wollten, dann musste er jetzt ihrer beider Gewicht halten!

Der Helikopter überschlug sich in der Luft und ihm wurde schwarz vor Augen. Es war, als ob jemand mit aller Gewalt seinen Arm aus dem Schultergelenk reißen wollte. Er biss die Zähne zusammen. Der Schmerz war fast unerträglich. Erleichtert hörte er das Krachen, als Metall endlich auf harten Felsen schlug. Er spürte kalte, frische Luft auf der Haut. Dann raubte ihm ein gnadenloser Schlag ins Kreuz den Atem. Zuerst wurde es ganz still und er hatte das Gefühl, neben seinem eigenen, geschundenen Körper zu stehen, bis plötzlich dröhnend eine rote Lanze aus Feuer an ihnen vorbeischoss, hinauf in den Himmel.

Als ihm durchdringender Kerosingeruch und der Gestank von brennendem Fleisch in die Nasenlöcher stieg, wusste Kérmorvan, dass er diesmal noch nicht vor seinen Schöpfer treten musste. Er dankte dem Erzengel Michael aus tiefstem Herzen, würgte den Ekel hinunter und zwang sich zur Ruhe. Eine Zeile aus der Apokalypse ging ihm durch den Kopf:

»Et il se fit un silence dans le ciel lorsque l’Archange Michel combattait le dragon. – Und es wurde still im Himmel, als der Erzengel Michael mit dem Drachen kämpfte.«

Kérmorvan öffnete die Rechte und ließ den nutzlosen Metallfuß fallen. Seine Schulter hatte durchgehalten. Sie tat zwar entsetzlich weh, aber war nicht ausgekugelt. Die kleine Bundeswehr-Ärztin war zum Glück noch immer bewusstlos und hielt still. Sie hatte nichts von dem ganzen Drama mitbekommen. Er atmete flach. Sein Rücken brannte wie flüssiges Feuer. Vorsichtig drehte er den Kopf zur Seite. Bei jedem Atemzug senkte und hob sich der Untergrund. Er hatte den Eindruck, dass sie wie zwei Fliegen in einem klebrigen Spinnennetz gefangen hingen. Allerdings zwei immer noch lebendige Fliegen!

Kérmorvan hob den rechten Arm und fing an vorsichtig zu tasten: stachelige dünne Äste, stachelige dickere Äste, glatte dicke Wurzeln, schließlich rauer griffiger Stein. Er fasste wieder Mut: Sie waren in ihrem Fall von einem dornigen Busch aufgehalten worden, der aus dem blanken Felsen wuchs. Und nach den Wurzeln zu urteilen, war das Ganze eine ziemlich stabile Sache. Wenn es ihm jetzt noch irgendwie gelang sich umzudrehen, ohne dabei abzustürzen, dann konnte er sich die Kleine auf den Rücken packen und klettern.

× × ×

Kérmorvan tauchte seine blutigen, aber wieder dornenfreien Hände ins kalte Wasser des Gebirgsflusses. Es war eine Wohltat! Am liebsten hätte er sich ausgezogen, um den ganzen Dreck der letzten Tage abzuwaschen; den Schweiß, das Blut, den Staub und die Angst, versagt zu haben. Doch er wollte die Kleine nicht so lange in der Höhle allein lassen, die er als sicheren Unterschlupf für sie gefunden hatte. Sie hatte vermutlich eine leichte Gehirnerschütterung und würde ziemlich verwirrt sein, sobald sie aus ihrer Bewusstlosigkeit erwachte. Aber wenigstens hatte sie weder den Horror des zweiten Absturzes in die Schlucht noch die Explosion des Hubschraubers mitbekommen … oder das brennende Fleisch. Er biss die Zähne zusammen, schloss die Augen und schluckte. Dann atmete er ein paar Mal tief durch. Sobald seine Schutzbefohlene und er in Sicherheit waren, würde er in aller Ruhe die Nerven verlieren.

Bevor er sich um seine eigenen Verletzungen gekümmert hatte, hatte er ihre Schnittwunde über dem Auge gesäubert und ordentlich geklammert. Er hoffte, dass er sie kompetent versorgt hatte und sie keine Narbe zurückbehalten würde. Dies war nicht ihr Krieg! Dann hatte er es ihr so angenehm wie möglich gemacht und sie warm in sämtliche Kleidungsstücke gehüllt, die er entbehren konnte, und mit einer federleichten Mikrofaser- und einer Rettungsdecke zugedeckt. Seine Pistole lag geladen unter ihrer rechten Hand, zusammen mit zwei vollen Magazinen und seinem Kampfmesser. Falls sie doch aufwachte, während er noch unterwegs war, würde sie sich wenigstens nicht schutzlos fühlen.

Kérmorvan hatte eine wage Idee, wo sie sich befanden. Das Kaff, in dem sie mit den russischen Söldnern gekämpft hatten, lag in Luftlinie etwa zwölf bis fünfzehn Kilometer östlich. Der Highway A01, der Kandahār mit Kabul verband, lag im Westen. Das waren ungefähr sechzig Kilometer Luftlinie. Dort befand sich bei Qalat ein Vorposten der OEF. Auf der Forward Operating Base FOB Lagman waren Amerikaner und ein paar Rumänen stationiert. Er zog es vor, den Amerikanern aus dem Weg zu gehen. Was er während der letzten Tage beobachtet und erlebt hatte, war ihm unheimlich. Er verstand es noch nicht, doch er hatte einen furchtbaren Verdacht. Und der Abschuss des MedEvac war das traurige Finale gewesen. Wenn er recht hatte, dann musste er auf Tauchstation gehen und diskret aus Afghanistan verschwinden. Und er musste verhindern, dass die Bundeswehr-Ärztin Kontakt zu Amerikanern bekam, bevor er mit seinen Vorgesetzten in Paris gesprochen hatte.

Damit blieb ihnen als sicherster Ausweg, sich irgendwie durch die Berge bis nach Spin Boldak und zum Grenzübergang von Chaman durchzuschlagen. Der Weg über die grüne Grenze und durch die Berge war schwierig und anstrengend. Nachts wurde es bereits empfindlich kalt. Er war hundemüde, abgekämpft, grauenhaft hungrig und jeder Knochen im Leib tat ihm weh. Es half nichts, er musste zum Wrack des Helikopters hinunterklettern. Während ihrer spektakulären Rutschpartie mit dem MedEvac durch die Felswand hatte er seine einzige sichere Kommunikationsmöglichkeit mit Madame le Juge und dem Hauptquartier in Romainville verloren. Es handelte sich dabei um ein speziell von Astrium für den französischen Geheimdienst DGSE entwickeltes Spielzeug, das wie ein aufgemotzter Blackberry funktionierte, dabei aber hundertprozentig stör-, abhör- und ortungssicher war und sogar filmen und Fotos schießen konnte. Das Ding war noch in der Experimentierphase, eine Kreuzung zwischen Telefon und Tablet-Computer. Es eignete sich im Gegensatz zu dem neuen zivilen Apple-Smartphone auch nicht besonders gut zum ganz banalen Telefonieren, aber man konnte schnell und sicher über die militärischen Satelliten des Syracuse-III-Programms der französischen Generaldirektion für Rüstung SMS-Textmitteilungen sowie E-Mails senden und empfangen und sogar ziemlich große Bild- und Tondateien anhängen.

Die Entwickler von Astrium hatten ihm den Prototypen erst vor ein paar Wochen anvertraut, weil sie unbedingt ausprobieren wollten, ob das Teil im wirklichen Leben eines Special-Forces-Soldaten auch so arbeitete, wie sie es sich vorgestellt hatten, und Kérmorvan hatte es begeistert mitgenommen. Er verstand auf Anhieb, wie nützlich dieses ganz spezielle Kommunikationsmittel als Teil einer künftigen Standardausrüstung sein konnte. Und das nicht nur für normale Special Forces, sondern auch für Männer in seinem Gewerbe. Außerdem war es für Madame le Juge und die IT-Equipe in Romainville möglich, ihn so lange zu lokalisieren, wie sich Batterien im Gerät befanden, selbst wenn das seltsame kleine Spielzeug ausgeschaltet war. Falls er sein wasserdichtes Smartphone wiederfand, waren seine eigenen Probleme und die der kleinen Deutschen von der Bundeswehr gelöst. Er würde versuchen, zu Hause anzurufen, und wenn das nicht funktionierte, einfach eine SMS schicken, damit ein französischer Hubschrauber aus Jalalabad sie diskret abholte. Falls nicht, dann gab es vielleicht am Wrack des MedEvac ein paar andere brauchbare Dinge, die ihnen den Marsch aus der Gefahrenzone zurück in eine sicherere, freundlichere Gegend leichter machten.

Kérmorvan fluchte leise. Er hatte schon seit Tagen nicht mehr richtig geschlafen und kaum gegessen. Da er sich standhaft weigerte, die beliebten, aber ausgesprochen ungesunden Amphetamine zu schlucken, mit denen viele seiner Kollegen sich im Einsatz hochpuschten, waren seine Reflexe ziemlich bei null angekommen. Jedes verstörte Karnickel konnte ihn jetzt problemlos überraschen. Und in der Nähe trieben sich die unheimlichen Kerle herum, die den MedEvac abgeschossen hatten. Er hoffte, dass die Bundeswehr-Ärztin in der Lage war, zu laufen, denn er wusste nicht, ob er es schaffen würde, sie fünfzig oder sechzig Kilometer weit auf dem Rücken durch die Berge zu schleppen.

Afghanistan – Provinz Zabul – unweit der Absturzstelle des MedEvac

Während seine Männer rasteten, suchte Richard O’Shaughnessy mit dem Feldstecher die Schlucht und den Flusslauf ab. Als der MedEvac taumelte, war er knapp zwei Kilometer Luftlinie von ihrer Position entfernt gewesen. Er vermutete, dass der Helikopter gegen einen der Berghänge geprallt und erst dann abgestürzt war. Die Boden-Luft-Rakete hatte ihn sauber in den Heckrotor getroffen, genau dort, wo bei manchen dieser Hubschrauber eine verräterische Blackbox saß. Im Verlauf der letzten Stunden war allerdings kein Suchhelikopter aufgetaucht. Alles war viel zu schnell gegangen, um einen Notruf abzugeben. Schließlich fanden O’Shaughnessys Augen, wonach er suchte: Es war absolut unmöglich, dieses Wrack zu bergen und höchstwahrscheinlich sogar unmöglich, es aus der Luft zu finden. Der ausgebrannte MedEvac lag zwischen Felsbrocken eingeklemmt wie ein gestrandeter Walfisch in einem Flussbett. Der Gebirgsfluss staute sich bereits. Noch ein paar Stunden, dann würde die Natur den Kampf gegen die Maschine gewinnen und das Wrack würde endgültig zerbrechen. Irgendwann würde die ISAF dann vielleicht irgendwo stromabwärts, drüben in der Provinz Kandahār im Argandab, ein paar Teile des Helikopters finden.

O’Shaughnessy wollte den Professor bitten, dem Taliban-Warlord Dadullah auszureden, diesen speziellen Abschuss für seine Publicity auszuschlachten. Ein unbestimmtes Gefühl sagte ihm, dass es für alle Beteiligten am besten war, wenn die ISAF und die NATO einen tragischen Unfall bei einem besonders schwierigen Rettungsflug vermuteten.

Die einsame, dunkle Gestalt, die sich mühsam aus dem Wrack quälte, faszinierte den Briten. Er hatte es für unmöglich gehalten, dass jemand diesen Absturz überleben konnte. Doch sehen hieß glauben. Der Typ hatte es sogar geschafft, zwei Leichen aus dem Wasser zu ziehen und irgendwelchen Krempel zu bergen. Unter den gegebenen Umständen gehörte ein unglaublicher Wille dazu, so etwas zu tun. Die Leichen lagen nebeneinander am Ufer. Der Verrückte hatte trotz seiner verzweifelten Situation den Anstand besessen, sich neben sie zu knien und ein kurzes Gebet zu sprechen. O’Shaughnessy hatte sich angesichts dieser pathetisch und mittelalterlich anmutenden Geste ein Grinsen nicht verkneifen können.

Ein bisschen Material hatte den Absturz überlebt: Ein Rucksack mit medizinischer Notausrüstung, Wasserflaschen, eine kleine, undefinierbare Metallkiste, Klamotten. Und die einsame Gestalt hatte noch etwas erbeutet: Es gefiel O’Shaughnessy gar nicht, mit anzusehen, wie der Überlebende eine kurze, handliche Schnellfeuerwaffe ans Ufer brachte, bevor er sich erneut entschlossen in die eiskalten Fluten stürzte, um noch einmal zu dem Wrack zurückzuschwimmen. Der Mann war sichtlich unverletzt und er schien eine Konstitution wie ein Ackergaul zu haben.

Er gab seinen Männern ein Zeichen, dass die Pause zu Ende war. Es war unmöglich zu sagen, ob es sich bei dem Beobachteten um einen Überlebenden der MedEvac-Besatzung oder um einen der Männer handelte, die sie gejagt hatten. Von seiner Uniform waren lediglich eine Flecktarnhose und ein khakifarbenes T-Shirt übrig. Egal, um wen es sich handelte, sie mussten den Kerl erwischen, bevor er sich mit der Waffe und der restlichen Beute aus dem Staub machte. Bis zum Highway A01 waren es rund sechzig Kilometer Luftlinie. Ein entschlossener und gut trainierter Mann mit Erfahrung legte diese Strecke in zwei, höchstens drei Tagen zurück. Ein Soldat ohne Erfahrung, der überleben wollte, würde vielleicht eine Woche brauchen, doch auch er würde es irgendwie schaffen. Und wenn das passierte, war es nur noch eine Frage von Stunden, bis Kampfhubschrauber der Antiterror-Koalition über ihrem Gebiet auftauchen und ihrem einträglichen Geschäft ein Ende machen würden.

Codename Corvus Thriller

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