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Sechstes Kapitel

Afghanistan – Provinz Zabul – in den Bergen

Die sechs Söldner schwiegen eisern. Der Marsch war anstrengend gewesen und sie hatten alle noch eine eisige Nacht im Freien verbracht – die einen etwas komfortabler als die anderen. Sogar die beiden Rugbyfans, Rowan und Erin, hielten endlich den Mund. Kérmorvan atmete innerlich auf: Das dumme Geschwätz der Typen, die mit der Abschussvorrichtung und dem Mistral auf dem Rücken vor ihm hermarschierten, war nervtötend gewesen. O’Shaughnessys beste Chance, irgendetwas aus ihm herauszuquetschen, wäre möglicherweise, ihn zusammen mit Rowan und Erin ein paar Tage in einen Raum zu sperren. Wenn schon nicht das ständige Gerede über Rugby, dann würde ihn spätestens der penetrante Akzent aus dem mittleren Westen der USA in kürzester Zeit mürbe wie einen Weihnachtskeks machen.

Sie hatten inzwischen den Maultierpfad, der am Fluss entlangführte, verlassen und waren in einen kleinen Weg eingeschwenkt, der sich nur knapp fünfzig Zentimeter breit zwischen Felsen hindurch steil nach oben zwängte. Die Szenerie erinnerte Kérmorvan ein bisschen an Petra in Jordanien. Die antike Hauptstadt des Nabatäer-Reichs war nur über einen schmalen Gebirgspfad von Nordwesten oder von Osten her, durch eine enge und tiefe, knapp zwei Meter breite Felsenschlucht zugänglich. Eine solch geschützte Lage erklärte natürlich auch, wieso bislang niemand diesen Kerlen auf die Spur gekommen war. Selbst auf Satellitenbildern war es kaum möglich, Felsenstädte zu erkennen. Er hatte einmal welche von Petra gesehen. Die einzigen Hinweise, die ihm ins Auge gesprungen waren, waren die Parkplätze der Touristenhotels und deren Swimmingpools gewesen – am Eingang zum Canyon. Petra selbst erschien nur als einheitlich braune Fläche.

Nach ihrer Entdeckung war sein Team auf dem gleichen Weg geflohen, auf dem sie zuvor gekommen waren. Keiner von ihnen hatte es fertiggebracht, den Jungen zu töten, der sie gesehen hatte und daraufhin sofort, gewandt wie eine Kletterziege, laut schreiend hinunter in das Hochtal gerannt war, um Alarm zu schlagen. Da es die Söldnertruppe anschließend geschafft hatte, ihnen bei diesem Kaff Rustam Kalay mit Geländefahrzeugen den Weg abzuschneiden, gab es offensichtlich auch noch einen breiteren und besser ausgebauten Zugang im Stil von Petra.

Kérmorvan wurde aus seinen Überlegungen über mögliche Fluchtwege gerissen, als er hörte, wie man hinter ihm mit einem leisen Klicken eine Handfeuerwaffe entsicherte.

»No tricks«, zischte O’Shaughnessy, »or I’ll blow your sad ass to Kingdom Come, asshole!«

Er blieb stehen, schloss für einen Moment die Augen und seufzte leise. O’Shaughnessy war ein hoffnungsloser Fall. Kein Wunder, dass er sich als Söldner verdingen musste! Es gab nicht viele wirkungsvolle Tricks, die in einem seitlich begrenzten Engpass, eingezwängt zwischen drei schwer bewaffneten Männern vorn und drei schwer bewaffneten Männern hinten, auch nur annähernd funktionierten. Kérmorvan war auch nicht lebensmüde oder darauf erpicht, für Frankreich einen völlig sinnlosen Tod zu sterben. Männer wie er waren ausgebildet, um zu überleben. Zu seiner größten Verwunderung spürte er, wie plötzlich der Druck auf seine Handgelenke verschwand. O’Shaughnessy hatte die Kabelbinder durchschnitten.

Kérmorvan wurde mit einem Mal schwarz vor Augen. Er schwankte, als das Blut schnell und schmerzhaft in seine Hände zurückströmte. Es war, als ob sich ein Heer roter Feuerameisen auf seine tauben und eiskalten Finger stürzte. Seine Handgelenke waren blutig gescheuert und brannten höllisch. Im Reflex versuchte er, sich gegen die Schwäche an den Felsen abzustützen. Doch seine Hände waren nach mehr als vierundzwanzigstündiger Tortur vollkommen gefühllos und gehorchten nicht. Er fiel auf die Knie. O’Shaughnessy versetzte ihm umgehend einen groben Tritt ins Kreuz. »Get up, you fucking bastard and move. Wenn du auch nur eine falsche Bewegung machst, war’s das.«

Kérmorvan hustete trocken, biss die Zähne zusammen und rappelte sich hoch. Sie hatten seit gestern so viel auf ihm herumgeprügelt, dass er kaum noch etwas spürte. Mit einem Mal begriff er, warum O’Shaughnessy ihn von seinen Fesseln befreit hatte: Ihm stockte der Atem.

Als Kind, in Dahanah, hatte er genauso begeistert, wie seine afghanischen Spielkameraden bei Hadji Abdallah Wardagh gesessen und zugehört, wenn der alte Mann Märchen und Legenden erzählte, während er seine Körbe flocht. Eine ihrer Lieblingsgeschichten war damals eine gruselige Story um Iskander – Alexander den Großen – und den tapferen General Artabaxos gewesen, in deren Mittelpunkt die schöne Fee Barsine, Zauberer, Geister und eine Festung im Herzen eines Berges standen. Eine geheimnisvolle Pforte durch den Felsen führte in diese Festung, in der Artabaxos Barsine und unglaubliche Schätze versteckt hielt. Das geheimnisvolle Reich im Felsen war in einer längst vergangenen Zeit von grausamen Riesen geschaffen worden und wurde von unheimlichen Geistern bewacht.

Kérmorvan erinnerte sich gerne an den alten Hadji Abdullah, Dahanah und das andere, friedliche Afghanistan, in dem er auf die Welt gekommen und aufgewachsen war, bevor der Wahnsinn der Großmächte das kleine Land am Hindukusch in ein Schlachthaus verwandelte. Und offensichtlich hatte jede alte Legende einen wahren Kern!

Die Männer vor ihm nahmen ihre Lasten vom Rücken, dann zwängten sie sich, einer nach dem anderen, durch den engen Spalt im Stein. O’Shaughnessy bedeutete Kérmorvan, Rowan, Erin und Frankie zu folgen. Sie befanden sich in einem Tunnel, in dem ein Mann bequem aufrecht stehen konnte. An den Wänden spendeten funzelige Glühbirnen in größeren Abständen ein trübes Licht. In den Stein gehauene unregelmäßige Treppen führten schnurgerade und steil nach oben. Ab dem zweiten Glas Wein war dieser Aufstieg wahrscheinlich eine echte Todesfalle. An den Wänden des Tunnels befanden sich dicke Seile zum Festhalten. Unglaublich – es gab also noch einen dritten Weg in das geheimnisvolle Hochtal und dieser führte direkt durch einen Berg hindurch, ganz, wie in der Geschichte seiner Kindheit!

Afghanistan – Provinz Zabul – in den Bergen – Ghar-Sang-Schlucht

Bald schon wurde Rossi klar, dass die Truppe vor ihr das Hochplateau zum Ziel hatte. Sie hatte im Windschatten der Männer eine eiskalte und raue Nacht im Freien zugebracht. Doch dank der Rettungsdecke, der Fleecedecke und der zahlreichen Kleiderschichten des überlebenden Special-Forces-Soldaten hatte sie nicht sonderlich gelitten. Und das Futter aus der französischen Einmann-Kiste war äußerst kalorienreich. Damals, als sie mit ihrem Bruder Anderl durch die Eiger-Nordwand gestiegen waren, war es wesentlich härter und unangenehmer gewesen. Rossi hatte zum zweiten Mal nach dem Kaffee gelechzt, den die Kerle sich brauten, aber sie hatte es erneut geschafft ihre Gier niederzuringen und sich lediglich mit Energiekeksen, einem Energy-Drink und einer weiteren Aufputschpille aus dem Vorrat ihres glücklosen Kameraden in Form zu bringen. Sie war sicher, dass dort oben auf dem Hochplateau auch der wilde Gebirgsfluss entsprang, dem sie den ganzen gestrigen Tag gefolgt waren. Anstatt, wie die Söldner und ihr unglücklicher Gefangener, weiter den Maultierpfad entlangzulaufen, beschloss sie, eine Abkürzung zu wagen und zu klettern. Der Fels war unglaublich griffig. Die übel beleumundete Go-Tablette Dexedrine hielt, was der Beipackzettel versprach: Sie hatte das Gefühl, als ob nichts unmöglich war, fühlte sich hochmotiviert und topfit. Ein Vorsprung vor der Truppe konnte ihr von Nutzen sein. Sie benötigte auch noch ein sicheres Versteck für die kommende Nacht; es sollte nicht nur Schutz vor der schlimmsten Kälte bieten, sondern gleichzeitig auch noch als sicherer Beobachtungsposten dienen.

Wären die Umstände nicht so tragisch, die Situation nicht so verfahren gewesen, Rossi hätte die Kletterei sogar genossen. Sie war bereits neun der zehn schwersten Routen Europas geklettert. Doch die Strecke war eine echte Herausforderung für jeden ambitionierten Freeclimber. Wenn es da nicht immer wieder Vorsprünge und Absätze gegeben hätte, auf denen man sich bequem ausruhen konnte, dann hätte sie mindestens eine 8c auf der französischen Skala der Schwierigkeitsgrade von Kletterrouten im Freeclimbing vergeben.

Mehrmals kletterte sie an Höhlen im Felsen vorbei. Nach einiger Zeit hatte sie das Gefühl, dass auch hier Menschenhand am Werk gewesen war. Doch die Spinnweben, die sie vor den Öffnungen sah, machten ihr Angst und sie stieg einfach weiter. Teile der Strecke schienen künstlich angelegt. Dieses Hochplateau musste vor langer, langer Zeit einmal eine Trutzburg oder Verteidigungsstellung gewesen sein. Und kluge Köpfe hatten für den Notfall einen sehr diskreten, wenn auch schwierigen Fluchtweg geplant.

Sie hatte sich vor ihrem ersten Afghanistaneinsatz intensiv mit dem Land, seiner Kultur und seiner Geschichte auseinandergesetzt. Als leichte Lektüre hatte sie natürlich den Klassiker von Rudyard Kipling, Der Mann, der König sein wollte, gelesen. Sie hatte sich auch den spektakulären Kinofilm von John Huston mit Sean Connery und Michael Caine in den Hauptrollen angesehen. Fasziniert von der Story hatte sie dann noch etwas Seriöses gesucht und war über Alexanders des Großen Siegeszug durch Asien des Göttinger Altphilologen Professor Wilhelm Capelle gestolpert. Wie auch schon bei Kipling war dort immer wieder die Rede von geheimnisvollen und unbezwingbaren Felsenfestungen in den afghanischen Bergen gewesen. Viele von ihnen hatten irgendwann ihre strategische Bedeutung verloren und waren anschließend einfach vergessen worden.

Als Rossi erreichte, was sie von unten für das Hochplateau gehalten hatte, stockte ihr der Atem. Anstatt auf eine Ebene, blickte sie hinunter in ein kleines, kaum zugängliches Hochtal. Es war unglaublich. Auf den ersten Blick erinnerte sie das, was sie sah, an eine lebhaft bevölkerte Miniatur des jordanischen Petra. Lediglich eine etwas abseits angeordnete Gruppe grau gestrichener, hochmoderner Container mit Antennensalat und Reihen transparenter Kunststoffplanen, die über halbrunde Stahlrahmen gezogen irgendwelche Grabungen schützten, störten das malerische Bergidyll. Rossi sprangen sofort zwei robuste japanische Geländewagen und vier solide Cross-Motorräder ins Auge. Der Fuhrpark stand ordentlich geparkt unweit einer Koppel, auf der ein Dutzend Maultiere und struppige, kleine Pferde an borstigen Grashalmen knabberten. Sie zog das Miniatur-Fernglas des Special-Forces-Soldaten aus der Tasche: ein militärisches High-end-Gerät mit integrierter Nachtsicht ohne Namen oder Typenbezeichnung. Es war selbst auf eintausendfünfhundert Meter von einer bestechenden Präzision. Ihr Versteck war ausgezeichnet, sie konnte das gesamte Hochtal überblicken. Der kleine Waldstreifen bot vor allem auch Schutz vor Beobachtern, die aus dem Tal nach oben spähten. Der Felsvorsprung, vor dem einige, größere Steine herumlagen, sollte als Unterschlupf und Schutz für die Nacht ausreichen.

Ein gebeugter, graubärtiger, alter Mann, traditionell gekleidet mit Turban, Shalwar Kameez, Schaffellweste und einem langen, schweren Hirtenstab, auf den er sich stützte, hütete unweit der Pferdekoppel auf der Anhöhe gegenüber Rossis Versteck seine kleine Ziegenherde. Der Gebirgsfluss entsprang tatsächlich hier oben, genau wie sie bereits vermutet hatte. Er stürzte in einer spektakulären Kaskade aus dem Berg in ein weites Felsenbecken, aus dem er sich dann hinunter ins Tal wand, um am Ende zwischen imposanten Felsen zu verschwinden. Eine Handvoll Männer, die sie von ihrem Aussichtspunkt aus bei verschiedenen Aktivitäten durch das Fernglas beobachtete, waren Einheimische und trugen traditionelle afghanische Kleidung.

Die anderen waren ganz eindeutig nicht aus der Gegend: Ihre Kampfanzüge ähnelten denen der Gruppe, die sie verfolgt hatte. Die Gesichter waren glattrasiert, die Haare militärisch kurz. Unschwer erkannte Rossi hier und da Tätowierungen auf muskulösen Unterarmen. Alle trugen Handfeuerwaffen am Gürtel, doch keiner von ihnen schien Wache zu schieben. Sie waren dabei, kleinere Kisten in etwas größere Kisten zu packen und diese dann sorgfältig zuzunageln und mit einer Schablone und einer Spraydose zu beschriften. Es sah ganz so aus, als ob die sechs üblen Kerle, die sie verfolgt hatte, zu dieser Gruppe gehörten. Zwei Frauen in weiten, bunten Kleidern und farbenprächtigen Kopftüchern wuschen unweit des Felsenbeckens im Fluss Wäsche. Sie schienen sich dabei prächtig zu amüsieren und bespritzten sich gegenseitig mit Wasser. Ein breitschultriger Bulle von einem Mann, der mit seinem schwarzen Turban und wirrem, schwarzem Bart, bis an die Zähne bewaffnet – Patronengurte über der Brust und Dolch im Gürtel – wie ein Poster-Motiv für die Taliban wirkte, leistete ihnen Gesellschaft. Erstaunlicherweise war der Taliban-Poster-Boy dabei weder verbissen noch freudlos. Er lachte mit den Frauen und spritzte unbefangen immer wieder Wasser zurück, während er versuchte, ihren spielerischen Angriffen auszuweichen.

Unweit von Rossi klebte eine imposante, grau gestrichene Satellitenschüssel diskret im Hang, und unten im Hochtal tuckerte in einem Gebäude neben einem solide gebauten Trapezblech-Hangar monoton ein Generator, der Strom aus Wasserkraft erzeugte. So viel Zivilisation hatte Rossi an diesem Ort am Ende der Welt nicht erwartet. Rowan und Erin, die beiden Rugbyfans, hatten also nicht geprahlt, als sie von der Übertragung des Rugby-Weltcup-Spiels gesprochen hatten. Es würde sie nicht wundern, wenn die Kerle sich vor der Glotze dann noch ein Sixpack mit eisgekühlten Budweisern reinzogen und dazu den obligatorischen Cheeseburger aus der Mikrowelle und eine Tüte Chips futterten – der amerikanische Mittlere Westen im Herzen des Hindukusch.

All diese Annehmlichkeiten des Lebens erforderten jedoch exzellente Organisation, kostspielige Logistik und vor allem Kontakte. Schon ganz am Anfang ihrer Tour hatte Rossi verstanden, dass im rückständigen und abgelegenen Afghanistan eigentlich alles machbar und möglich war, wenn man wusste, mit wem man reden und wen man schmieren musste. Von dem Gebäude mit dem Generator führten Elektroleitungen zu den Wohncontainern, zwei weiteren Containern mit Teleskopmasten und Antennensalat und einem großen, gepflegten, traditionellen, afghanischen Anwesen in Form eines U sowie zu den überdachten Ausgrabungen und mehreren opulent verzierten, portalähnlichen Öffnungen, die aus dem Gestein der gegenüberliegenden Bergwände herausgemeißelt waren. Vermutlich hatten die Leute hier nicht nur Satellitenfernsehen, sondern auch Licht, warmes Wasser, Kühlschränke und einen funktionierenden Internetanschluss.

Eine weitere in den Felsen gemeißelte prachtvoll verzierte Fassade mit einem Portikus aus vier Säulen hatte ebenfalls Elektrizitätsanschluss. Hinter einer Freitreppe, die in den Berg hineinführte, konnte Rossi mehrere große Scheinwerfer ausmachen. Sie wirkten vor dieser uralten und perfekt erhaltenen Fassade etwas störend und viel zu modern, doch sie konnte sich vorstellen, dass der Effekt, wenn diese antike Stätte nachts illuminiert war, spektakulär sein musste. Auf der Freitreppe saßen eine Handvoll Jungen und Mädchen um einen hochgewachsenen, hageren Mann. Sein kurz gestutzter, grauer Bart wirkte gepflegt. Er trug einen cremefarbenen Pakol auf dem Kopf, einen erdfarbenen Patu über den Schultern und eine modische, knallbunte Brille auf der Nase. Der Mann las den Kindern aus einem großen Buch auf seinen Knien vor. Die Kinder wirkten wohlgenährt und kerngesund und trugen saubere, adrette Kleidung. Es wurde laut durcheinandergeredet, gelacht. Die Berge trugen ihre lebhaften Stimmen hinauf zu Rossi. Sie konnte natürlich nichts verstehen. Schulunterricht am Ende der Welt! Was sie betrachtete, schien auf den ersten Blick ein friedlicher, fruchtbarer, grüner Flecken Erde, der verborgen, vergessen und geschützt inmitten einer kargen menschenfeindlichen Landschaft lag. Utopia am Hindukusch! Wären da nicht die bewaffneten Typen in westlichen Kampfanzügen und die hochmodernen Installationen inmitten der Einheimischen gewesen, Rossi hätte sicher gedacht, sie habe sich verlaufen. Diese ganze Geschichte, die Rettungsaktion, der Abschuss des Helikopters, die geheimnisvolle und absonderliche Bergwelt, die sie da gerade entdeckte – jetzt musste sie eigentlich nur noch abwarten, bis die englischsprechende Gruppe, der sie gefolgt war, mit dem gefangenen Special-Forces-Soldaten auftauchte. Sie hatte das ungute Gefühl, mitten in einer haarsträubenden Verschwörungstheorie gelandet zu sein oder in einem Szenario aus der Feder von Tom Clancy. Nicht Angst war es, was ihr wie ein Stein im Magen lag. Es war Beklemmung – und ihr war unheimlich.

Afghanistan – Provinz Zabul – Iskandarga’l

Professor Dr.Taher El Ouazzani hatte sich vorgenommen, die Gewölbe unter der Festung Qary-y-Iskanderga’l bis zum Monatsende leerzuräumen. Anschließend wollte der Archäologe dann die Arbeiten im sogenannten Schatzhaus – drei tief im Felsen liegenden Kammern, die sie zufällig gefunden hatten – fortführen. Das war ihre eigentliche Ausgrabung, eine Suche, die durch den Deal und die große Raubgrabung erst möglich geworden war.

Er freute sich und war neugierig. Im ersten Raum hatten sie bereits das Archiv entdeckt, dem er den Namen »Archiv des Artabaxos« gegeben hatte. Diese Sammlung von in altmazedonischer Sprache beschrifteten Steintafeln – als eine Art Inventarliste – hatte ihm dann den Weg in die Gewölbe unter dem sogenannten Ormus-Tempel gewiesen, in denen sie eine große Zahl bemerkenswerter Kunstwerke aus Glas, Edelmetallen, Ton und Stein gefunden hatten und seltene religiöse Kultobjekte, von denen einige zoroastrisch waren und andere eindeutig anderen Kulten zugeordnet werden konnten. Die antiken Stücke waren perfekt erhalten und in Sammlerkreisen ein Vermögen wert. Taher war sicher, dass er einen Teil des legendären Alexander-Schatzes gefunden hatte. Es ging auf seiner Grabung schon lange nicht mehr nur um den siebenstelligen Bereich. Sie spielten mindestens eine Liga höher.

Schon die Grabstätten der mazedonischen Notabeln, die sie gefunden hatten, waren unschätzbar. Im Schatzhaus in der zweiten Kammer aber war er dann auf die vollständige Sammlung der »Goldenen Bibliothek von Persepolis« gestoßen, die seit dem Jahr 330 vor der Zeitrechnung als verschwunden galt. Es hieß bei sämtlichen Historikern der Antike, sie sei von Alexander dem Großen zusammen mit der Stadt verbrannt worden. Die Goldene Bibliothek war von unschätzbarem Wert, aber sie gehörte nicht zu den Dingen, die sie je kommerzialisieren würden. El Ouazzanis Archäologen-Instinkt sagte ihm, dass dort unten im Schatzhaus sensationelle Dinge warteten – Dinge, die alle seine ganzen bisherigen Funde in den Schatten stellen würden. Die Gewölbe, die von Menschenhand in den Berg gehauen worden waren, schienen endlos.

Wenn ihr Freund damals nicht zufällig über das erste Felsengrab gestolpert wäre, dann wären sie wohl nie auf die Idee gekommen, ausgerechnet hier in diesem Hochtal und direkt vor der Haustür von Dadullahs Großonkel nach einer antiken Felsenfestung zu suchen. Mit den Mitteln der Antike war Qary-y-Iskanderga’l völlig uneinnehmbar gewesen. Selbst ein Verräter innerhalb dieser Festung hätte nicht vermocht, über einen absehbaren Zeitraum ausreichend Feinde hineinzulassen, um gegen eine etablierte Besatzung zu kämpfen. Und sie hatten bis zu diesem Tag weder Spuren von Zerstörung noch Spuren von Kämpfen entdeckt. Die zwei Dutzend Toter, die sie gefunden hatten, waren in prächtigen und unberührten Grabhöhlen in den Bergen rund um das Hochtal bestattet worden. Eine Art exklusiver, letzter Ruhestätte für hohe Würdenträger des mazedonischen Weltreiches, die mit einem großen geheimen Staatsarchiv in einer ausgedienten Felsenfestung zusammengelegt worden war.

Tahers erster Fund war der Alexander’sche Reiter-General gewesen, mitsamt seinem prachtvoll gezäumten, mumifizierten Streitross, seiner spektakulären Rüstung und seinen Waffen, die in keinem Fall für Kriegszwecke tauglich gewesen wären. Sie hatten ihren Fund damals während der Semesterferien heimlich durch die Berge transportiert, mit dem alten Land Rover nach Karatschi gefahren und von dort mit einem Segelboot außer Landes geschmuggelt. Heute befand er sich in einer sehr diskreten, amerikanischen Privatsammlung und hatte ganz entscheidend zur Finanzierung ihrer weiteren Recherchen beigetragen und zu einer außergewöhnlich wertvollen Aktenmappe, in der sich mehrere Hundert authentischer Herkunftsnachweise für Antiquitäten minderer Qualität befanden, aus denen sie im Lauf der Jahre ohne Probleme Herkunftsnachweise für andere, wertvollere Funde gebastelt hatten. Nach dem Reiter-General hatten sie noch zwölf weitere Felsengräber entdeckt. Diese übertrafen an Pracht bei Weitem das Soldatengrab: Hier ruhten eindeutig Mitglieder der makedonischen Elite – bestattet inmitten unschätzbar wertvoller Prestigeobjekte.

Die meisten Funde aus den Höhlengräbern hatte Taher bereits vollständig katalogisiert. Einige befanden sich noch in einem Zollfreilager in den Vereinigten Arabischen Emiraten: immer ein kompletter Container pro Grab. Die besten Funde hatten sie bereits in die USA verschifft und dort verkauft.

Durch Ben wussten sie ganz genau, welche Sammler bereit waren, Antiquitäten diskret zu erwerben und keine Fragen zu deren Herkunft zu stellen. Auf diesem Weg hatten sie vollständige Gräber einschließlich der mumifizierten Leichen zu absoluten Höchstpreisen verkauft. Unglücklicherweise waren diese Felsengräber kein Sparbuch; all ihre Funde schuldeten sie Bens Dienstherren, weil der die Gesamtgrabung finanzierte. Ben und Dadullah erhielten zwar einen prozentualen Anteil aus den Verkaufserlösen, doch der Löwenanteil ging in eine schwarze Kasse, aus der einer der zahlreichen amerikanischen Geheimdienste irgendeine verdeckte Operation finanzieren wollte. Das war auch der Grund, warum Bens großer Chef ihm trotz seiner Vergangenheit einen echten US-Pass und eine vollständige Identität spendiert hatte. Trotz der recht skrupellosen Plünderung ihrer Raubgrabung durch die amerikanische Geheimdienst-Community war Taher El Ouazzani zuversichtlich: Ihnen blieben nicht nur sämtliche Steintafeln, Schriftrollen und andere Manuskripte, sie hatten auch die Garantie, dass ihre nächste Grabung wieder vollständig finanziert werden würde.

Sobald dieses Projekt zum Abschluss gebracht war, plante der algerische Archäologe, sich diskret und endgültig aus Afghanistan zu verabschieden. Er würde wahrscheinlich niemals wieder einen so spektakulären Fund machen wie diese geheimnisvolle Felsenfestung und die Goldene Bibliothek von Persepolis. Mit seinem Anteil an ihrem gut etablierten Antiquitäten-Business war es unproblematisch, sich mit einer seiner neuen Identitäten an einem angenehmen Ort in einem zivilisierten europäischen Land niederzulassen, wo er sich dann dem Studium der gefundenen Schriftrollen widmen und ihre große Suche weiter vorantreiben konnte, während sie mit Ben und Dadullah die nächste Grabung planten. Seine amerikanische Identität besaß bereits ein sehr gut gefülltes Bankkonto bei einer renommierten Bank in der Republik Irland und er konnte sich jederzeit gefahrlos nach Dublin begeben und sich dort niederlassen, ganz ohne, dass man ihm Fragen stellte.

Ben hatte Taher vor etwas mehr als drei Jahren im allerletzten Augenblick aus dem grauenhaften Schlamassel mit den Franzosen herausgeholfen, in das er sich leichtsinnig und sträflich dumm selbst hineingeritten hatte. Ohne Ben wäre er heute wahrscheinlich tot oder schlimmer noch: auf Nimmerwiedersehen in irgendeinem geheimen Gefängnis der französischen Republik verschwunden. Nun wusste er, dass es einfach zu gefährlich war, weiterzumachen und das Schicksal noch einmal herauszufordern. Das machte das, was sich am 26. Dezember 1994 auf dem Flughafen Marseille-Marignane zugetragen hatte, nicht ungeschehen und seinen Halbbruder Mustafa nicht wieder lebendig. Es war an der Zeit, die Toten endlich ruhen zu lassen, den Lebenden zu vergeben und eine neue Seite im Buch seines eigenen Lebens aufzuschlagen. Iskanderga’l hatte ihm die Archäologie wieder schmackhaft gemacht.

Auf dem Weg zum Hangar, der sich neben dem Gebäude befand, das die Durchfluss-Turbine und den Stromgenerator beherbergte, durchquerte der Algerier das kleine Hochtal. Im Vorbeigehen grüßte er zwei seiner Mitarbeiter, die dabei waren, letzte Hand an das ausgefallenste Fundstück aus den Gewölben zu legen. Die Stele trug eine Inschrift, die sie noch nicht hatten entschlüsseln können. Er bemühte sich, freundlich, ausgeglichen und unverbindlich zu wirken, obwohl ihm der Zwischenfall der letzten Woche bleischwer im Magen lag. Er hatte seine eigene Hypothese, was die Unbekannten anbetraf, die nach ihrem fehlgeschlagenen Versuch, Iskanderga’l auszukundschaften, das Blutbad in Rustam Kalay angerichtet hatten. Er hatte sich wegen des gewaltsamen Todes seines Halbbruders Mustafa nicht nur mit den Franzosen angelegt, sondern auch mit den Israelis. Jahre seines Lebens hatte er einem Rachefeldzug gewidmet, der sich ab einem bestimmten Augenblick verselbstständigt hatte: »L’art pour l’art!« »Kunst um der Kunst willen!« Er war instrumentalisiert worden und hatte sich für eine Sache verpflichten lassen, an die er selbst nicht glaubte.

El Ouazzani war erleichtert, dass O’Shaughnessy wenigstens einen Gefangenen gemacht hatte. Es gab eine Reihe von Fragen, auf die sie unbedingt Antworten brauchten – auf die vor allen Dingen er unbedingt Antworten brauchte.

Die Männer von Enduring Freedom, die sie im Verlauf der letzten drei Jahre abgefangen und liquidiert hatten, waren alle nur versehentlich in Richtung Iskanderga’l abgedriftet. Und die ISAF war in ihrem Gebiet nicht aktiv. Ihr Kontaktmann im CENTCOM hatte sie jedes Mal vorgewarnt und mit ganz genauen Informationen versorgt. Es hatte auch nie Widerstand gegeben, da Matveevs russische Contractors potenziellen Eindringlingen immer einen entsprechenden Hinterhalt legten und sie dort erledigten. Bei den Aufklärungsdrohnen, die die OEF immer wieder aus Pakistan oder von der Bagram-Airbase auf den Weg schickte, war es so ähnlich. Meist bekamen sie im Vorfeld die Flugpläne, während ihnen für die menschlichen Gefährder Mission Orders und OPLANs zugespielt wurden. Dadurch war es möglich, die Soldaten abzufangen und zu töten und die unbemannten Flugkörper entweder zu verwirren oder zu zerstören. Doch diese ganz speziellen Männer waren nicht vom Weg abgekommen. Sie waren einfach unter dem Radar des US CENTCOM Tampa und des CENTCOM auf der Bagram-Airbase eingeflogen, und sie hatten es geschafft, sich bis ins Hochtal zu schleichen, ohne Dadullahs Leuten an irgendeiner Stelle des langen Weges aufzufallen. Sie wussten nicht einmal, aus welcher Richtung die Eindringlinge gekommen waren, oder ob sie vielleicht sogar mit Fallschirmen in sicherer Entfernung abgesprungen waren.

El Ouazzani wusste heute mit fünfundfünfzig Jahren und nach allen Irrungen und Wirrungen seiner Existenz, dass es sich beim vielgerühmten Konzept der taqiyya nicht um irgendeine besonders ausgeklügelte Technik handelte, die besonders clevere, rechtgläubige Muslime für sich gepachtet hatten, um ihre ungläubigen, dummen Feinde zu täuschen. Es war schlicht und einfach die universelle Fertigkeit, jemanden geschickt und ohne dabei erwischt zu werden, über den Tisch zu ziehen und ihn nach Strich und Faden anzulügen. Es gab jedoch außer seinen eigenen Glaubensbrüdern noch eine Menge anderer Leute, die clever und durchtrieben waren.

Das Letzte, was sie jetzt im Augenblick hier in Iskanderga’l brauchten, war eine Truppe, der es gelang, unterhalb ihres Radars einzufliegen und herauszufinden, was ein gejagter Terrorist, ein berüchtigter Taliban-Warlord, ein zum Sicherheitsunternehmer mutierter Söldnerführer und sein ältester und bester Freund Ben hier gemeinsam veranstalteten. Sie waren ein exotisches und ausgesprochen interessantes Vierergespann – nein, eigentlich eher eine Troika, denn Jones war lediglich ihr Juniorpartner und ihr bewährtes Arbeitspferd. Dafür trug er auch das geringste Geschäftsrisiko und wurde unabhängig vom Erfolg ihres Unternehmens monatlich entlohnt.

× × ×

Normalerweise befanden sich im Hangar neben dem Kleinwasserkraftwerk der Spritvorrat, ihre Ersatzteile für das technische und militärische Gerät und viele wohlsortierte Vorräte, die das Leben sämtlicher Bewohner des Hochtals angenehm machten. Es gab dort auch eine kleine Reparaturwerkstatt, alle möglichen Werkzeuge, um sowohl die Fahrzeuge als auch das Equipment instand zu setzen und eine größere halbprofessionelle Waschmaschine, die Jones Männer benutzten.

Weil das unscheinbare Gebäude aus Fertigbauteilen und grauen Trapezblechen am äußersten Rand des Geländes, abseits der Ausgrabungen, der Wohncontainer von Jones Contractors, dem kleinen Kommunikationszentrum und dem gepflegten, traditionellen Anwesen von Dadullahs Großonkel Asim lag, hatten sie es als provisorisches Gefängnis für den Mann ausgewählt, den O’Shaughnessy vom Helikopterwrack in der Schlucht des Ghar-Sang mitgebracht hatte. Als El Ouazzani durch die Seitentür eintrat, stand Dadullah bereits im Hintergrund und beobachtete, wie die Söldner den Unbekannten verhörten.

Sein alter Freund Ben und Jones würden Iskanderga’l in Kürze erreichen. Bens zum Jahresanfang erfolgter Umzug aus den Vereinigten Staaten nach Europa und sein Job als stellvertretender Direktor des streng geheimen Anti-Terrorismus-Zentrums Alliance Base brachten natürlich auch für den privaten Teil ihrer großen Raubgrabung riesige Vorteile. Ben hatte es vor drei Jahren geschafft, seinen eigenen großen Boss zu überreden, die Grabung von Iskanderga’l aus einer der schwarzen Kassen der zahlreichen US-Geheimdienste zu finanzieren. Im Austausch dafür bekam Bens großer Boss eine weitere schwarze Kasse, die den Löwenanteil aus den Verkaufserlösen beinhaltete, während sie Prozente aus dem Verkauf und spezifische Fundstücke bekamen. Bens neuer prestigeträchtiger Posten in Paris eröffnete ihnen darüber hinaus auch einfache und sichere Wege, Fundstücke jeder Art nach Europa zu bringen und sich zu diversifizieren. Doch Ben konnte nicht mehr so frei und unbefangen nach Pakistan und Afghanistan reisen wie als stellvertretender Direktor der Special Activities Division der CIA. Ihre Zeit miteinander war begrenzt. Und weder Skype noch der rege Mail-Austausch ersetzten die Diskussionen von Archäologe zu Archäologe.

Dadullah verzettelte sich in diesem Schlüsselmoment der Ausgrabung wieder einmal mit völlig verrückten, politischen Aktivitäten, und Ben musste in spätestens zweiundsiebzig Stunden auf dem Weg zurück in die Emirate sein, damit seine Abwesenheit nicht auffiel und niemand gefährliche Fragen stellte, was denn der ranghöchste US-Vertreter der Alliance Base am Hindukusch treibe. Die einzigartige Schriftrollen-Sammlung von Iskanderga’l, die ihr Genosse Taher El Ouazzani entdeckt hatte, war der Grund, warum Ben überhaupt das Risiko dieses diskreten Besuchs am Fundort auf sich nahm.

Seit ihrem großen Durchbruch im Frühjahr arbeitete der algerische Archäologe im Akkord. Unter der Ruine, die sie wegen der prägnanten Faravahar-Ikonographie am gut erhaltenen Porticus den »Ormus-Tempel« nannten, hatte El Ouazzani den Zugang entdeckt, den sie – mit Unterbrechungen – seit knapp dreißig Jahren gesucht hatten. Er hatte die Passage vorsichtig freigelegt. Nicht nur Jones’ Söldner hatten enthusiastisch mitgeholfen, auch eine Gruppe der besten und vertrauenswürdigsten Kämpfer, die zur Truppe von Dadullahs Cousin Borjahn gehörten, waren für ein paar Wochen zu ihnen gestoßen. Es war ein Gewaltakt gewesen, den Gang nach zweieinhalbtausendjährigem Dornröschenschlaf wieder sicher und begehbar zu machen. An dessen Ende lagen die drei unterirdischen Gewölbe, in denen sich möglicherweise die sensationellste, archäologische Entdeckung seit Carter/Carnarvon und Tutenchamun befand. Ihre klassische, wenn auch sehr gut organisierte und großangelegte Raubgrabung war zu etwas ganz Besonderem und Außergewöhnlichem geworden: einem Jahrhundertfund!

Bei den Schriftrollen handelte es sich um Pergament-Rotuli und klassische Papyri. Sie waren seit fast zweieinhalbtausend Jahren so perfekt eingelagert, dass selbst die Schriftrollenhalter aus Holz noch in einem guten Zustand waren. El Ouazzani hatte in den Gewölben eine konstante Luftfeuchtigkeit von plus/minus dreißig Prozent und eine Temperatur von zwanzig Grad gemessen. Genauso lagerten heute die renommiertesten Museen und Bibliotheken der Welt ihre wertvollsten Handschriften ein. Und die versiegelten Tonkrüge hatten jeder einzelnen Rolle noch zusätzlichen Schutz geboten. Wer auch immer diese Schriften verborgen hatte, hatte sein Handwerk verstanden.

Aus diesem Grund drängte El Ouazzani auch darauf, dass ihr sensationeller Fund Afghanistan so schnell wie möglich verließ. Sie verstanden alle drei, dass zweieinhalbtausend Jahre alte Schriftrollen umgehend wieder fachgerecht eingelagert werden mussten, wenn man sie je studieren wollte. Jeder noch so kleine Umwelteinfluss konnte den Rotuli unschätzbaren Schaden zufügen. Der bewährte Weg, den ihre weniger empfindlichen Funde seit drei Jahren regelmäßig einschlugen, war ausgeschlossen. Man konnte Pergament nicht einfach ungeschützt in Holzkisten packen, diese anschließend monatelang in einem überhitzten Wellblechhangar auf einem pakistanischen Militärflughafen einlagern und dann darauf hoffen, dass sie alles heil überstanden. Ein Transport per Lkw auf der Piste über Spin Boldak, Wesh-Chaman, Quetta und Karatschi war ein absolutes No-Go. In seinen schlimmsten Albträumen stellte Taher sich vor, dass Ben auf der anderen Seite der Welt nach langem Seetransport aus einer Holzkiste in einem ISO-Normcontainer einen beschädigten Tonkrug holte, in dem sich eine teigige, übelriechende hellgraue Masse befand, die einstmals ein unersetzbarer historischer Papyrus gewesen war – und auf dem vielleicht die Lösung des Rätsels gestanden hatte, das sie seit ihrem ersten Studienjahr zu knacken suchten.

Der größte Teil dieses völlig unerwarteten und spektakulären Fundes sollte in Alucontainern mit Ben und Jones in der Cessna nach Pakistan fliegen. Anschließend wollte sein Freund die Schriftrollen diskret weitertransportieren, per privater Motorjacht über die Arabische See in die Emirate bringen und dann einfach als ganz normale Luftfracht in seinem Urlaubsgepäck über Dubai nach Europa ausführen. Der Rest, der nicht mehr in die Cessna passte, sollte das Land über das konspirative Haus in Kabul verlassen, über das sie bereits andere empfindliche und wertvolle Stücke ausführten. Ben hatte Taher nur erklärt, dass diese Kisten dann auf genau der Route außer Landes geschafft wurden, wie er selbst seinerzeit diskret über Incirlik nach Afghanistan gekommen war. Der Archäologe vermutete, dass dafür die gleichen Leute aus dem CENTCOM auf der Bagram-Airbase verantwortlich waren, die sie auch regelmäßig warnten, wenn sich Drohnen oder Soldaten der westlichen Schutztruppen in der Gegend ihrer Grabungsstätte herumtrieben.

× × ×

O’Shaughnessy versetzte seinem Gefangenen einen Schlag mit einem improvisierten Elektroschocker, den er sich aus einer der Ersatzbatterien für die Geländefahrzeuge und einem Satz Starterkabeln zusammengebastelt hatte. Im Hochtal waren sie nicht auf Gefangene eingerichtet und erst recht nicht für Verhöre ausgerüstet. Nicht einmal vernünftige Handschellen hatten sie, lediglich die allgegenwärtigen Kabelbinder aus dem Baumarkt, die hauptsächlich dazu dienten, Elektrokabel zu befestigen, wenn irgendwo Licht gebraucht wurde. Alles wirkte etwas improvisiert!

El Ouazzani stellte sich neben Dadullah.

»Und?«, fragte der Algerier seinen Paschtunen-Freund neugierig. Dadullah seufzte leise. O’Shaughnessys Gefangener war furchtbar dickschädelig und sehr unkooperativ. Er schrie, er wand sich vor Schmerz und er erzählte immer die gleiche Geschichte. Der Mann verplapperte sich nicht. Jedes Detail stimmte.

Codename Corvus Thriller

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