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Fallbeispiel Luise

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Eine 45-jährige Frau sucht das Kriseninterventionszentrum auf Empfehlung der Stationsschwester einer Entgiftungsstation auf. Wegen eines Suizidversuchs mit Medikamenten war sie dort stationär aufgenommen. Sie erzählt, dass ihre 15-jährige Tochter vor drei Wochen für sie ganz unerwartet zum Vater gezogen ist und seither jeden Kontakt zu ihr verweigert. Luise arbeitet als Sekretärin. Seit der Trennung von ihrem Ex-Mann vor vier Jahren dreht sich ihr Leben hauptsächlich um ihre Tochter, auch wenn sie ab und zu kurze Beziehungen hat. Sie ist vollkommen verzweifelt, fühlt sich hilflos und ohnmächtig und meint, ohne die Tochter hätte das Leben keinen Sinn mehr. Ihr Zustand ist in den drei Wochen immer schlechter geworden, sie konnte nicht mehr schlafen, da sie die ganze Nacht wach lag und darüber nachdachte, was sie falsch gemacht habe. Sie ist davon überzeugt, eine »miserable« Mutter zu sein.

Bisher hatte sie ihr Leben ganz gut gemeistert. Sie hat viele soziale Kontakte und redet gerne mit ihren Freundinnen. Derzeit ist sie aber völlig blockiert. Üblicherweise packt sie anstehende Probleme aktiv an. Gerade deshalb fühlt sie sich in der jetzigen Situation so hilflos. Sie hat mehrfach versucht, die Tochter zu kontaktieren, aber diese hat ihr Handy abgeschaltet. Da sie sich für ihr »Versagen« schämt, will sie mit niemandem über die Situation reden. Sie ist krankgemeldet und verbringt die ganze Zeit alleine zu Hause. Die Situation ist so unerträglich geworden, dass sie keinen anderen Ausweg mehr gesehen hat, als alle Tabletten, die ihr der Hausarzt verschrieben hatte, einzunehmen. Sie wollte einfach nur Ruhe von den quälenden Gedanken und Gefühlen haben.

Diskussion: Der vollkommen überraschende Auszug ihrer Tochter stellt für Luise einen subjektiv unerträglichen Verlust dar. Da die Tochter der Mittelpunkt ihres Lebens war und sie davon ausgegangen ist, auch die nächsten Jahre mit ihr zu verbringen, sind ihre derzeitigen Lebensziele erheblich in Frage gestellt. Sie ist sehr gekränkt und ohne Perspektive.

Ihre Problemlösungsstrategien versagen. Sie geht üblicherweise aktiv an Probleme heran, aber derzeit gibt es für sie keine Möglichkeit zu handeln. Infolgedessen fühlt sie sich ohnmächtig und ausgeliefert. Sie redet gerne und holt sich normalerweise auch Unterstützung von ihren Freundinnen. Da sie sich aber so schämt, will sie niemanden sehen und versucht alleine zurecht zu kommen. Ihre Situation spitzt sich während dieser drei Wochen gefährlich zu. Sie ist vollkommen verzweifelt, kann nicht schlafen, sie hat Schuldgefühle und ihr Selbstwert ist sehr beeinträchtigt. Sie weiß nicht mehr aus noch ein und schließlich kommt es zum Suizidversuch. Diese an sich destruktive Handlung eröffnet aber auch eine neue Perspektive, da sie erstmals Hilfe von außen erhält und sich ihr so die Möglichkeit bietet, über ihre Situation zu sprechen.

Intervention: Die Krisenintervention umfasst acht Stunden. Die Beziehung zum Berater ist sehr vertrauensvoll, dadurch ist es Luise möglich, offen über sich und ihre Gefühle zu sprechen. Es wird ihr klar, dass sie keine andere Wahl hat, als von der Beziehung zu ihrer Tochter in der bisherigen Form Abschied zu nehmen. In den Stunden weint sie viel, manchmal ist sie über das Verhalten ihrer Tochter auch verärgert. Sie beginnt aber auch zu verstehen, dass der Auszug für die Tochter wahrscheinlich einen wichtigen Ablösungsschritt darstellt, der aufgrund der sehr engen Beziehung vielleicht nicht anders zu bewerkstelligen war. Das relativiert Luises Schuld- und Schamgefühle.

Sie nimmt Kontakt zu den Freundinnen auf, die in der Folge sehr unterstützend sind. Sie geht wieder zur Arbeit und unternimmt Dinge, die ihr Spaß machen. Am Ende der Krisenintervention geht es ihr deutlich besser. Der Trauerprozess ist natürlich noch nicht abgeschlossen. Zusätzlich wird ihr der Zusammenhang mit ihrer eigenen schwierigen Erfahrungen in der Adoleszenz schmerzhaft bewusst. Sie hat im Alter von 15 Jahren ihre Mutter durch eine Krebserkrankung verloren. Viele Erinnerungen an die damalige Situation tauchen auf. Sie überlegt daher eine Psychotherapie zu beginnen.

Spannungsfelder der Krisenintervention

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