Читать книгу Abenteuer Musik - Clemens Kühn - Страница 11
Der Spinnerin Nachtlied
ОглавлениеEs sang vor langen Jahren
Wohl auch die Nachtigall,
Das war wohl süßer Schall,
Da wir zusammen waren.
Ich sing und kann nicht weinen,
Und spinne so allein
Den Faden klar und rein
So lang der Mond wird scheinen.
Als wir zusammen waren
Da sang die Nachtigall
Nun mahnet mich ihr Schall
Daß du von mir gefahren.
So oft der Mond mag scheinen,
Denk ich wohl dein allein,
Mein Herz ist klar und rein,
Gott wolle uns vereinen.
Seit du von mir gefahren,
Singt stets die Nachtigall,
Ich denk bei ihrem Schall,
Wie wir zusammen waren.
Gott wolle uns vereinen
Hier spinn ich so allein,
Der Mond scheint klar und rein,
Ich sing und möchte weinen.
Nur zwei Reim-Farben gibt es, die sich Strophe für Strophe abwechseln: »a« und »ei«. Nicht allein die dazu gehörigen Reim-Worte kehren immer wieder, sondern auch ihre Zeilen, nach einem festen System: Die zweite und dritte Zeile einer Strophe werden variiert zur zweiten und dritten Zeile ihrer jeweils übernächsten Strophe; hier die zweiten Zeilen ab Strophe eins: »Wohl auch die Nachtigall« = Strophe drei: »Da sang die Nachtigall« = Strophe fünf: »Singt stets die Nachtigall«. Entsprechend verhalten sich die zweiten Zeilen ab Strophe zwei zueinander, sowie die dritten Zeilen.
Brentanos unglaublicher Einfall: Die Schlusszeile einer Strophe wird zur Anfangszeile der jeweils übernächsten Strophe, »Da wir zusammen waren« von Strophe eins eröffnet Strophe drei, »Als wir zusammen waren«; die Schlusszeile von Strophe zwei eröffnet … Das Prinzip gilt mit letzter Konsequenz: Das Ende der sechsten Strophe, »Ich sing und möchte weinen«, ist zugleich Anfang ihrer »übernächsten«, der zweiten Strophe, »Ich sing und kann nicht weinen«. Es ist, als ob das Gedicht erneut und immerzu ablaufen könnte. Wenn Sie beim Lesen meines Nachvollzugs durcheinanderkommen, weil Sie nicht mehr wissen, wo Sie sich gerade befinden, erleben Sie genau das, was Brentano komponiert hat. Die immergleiche Sprache malt inständig das immergleiche Bild der verlassenen Spinnerin, ohne Zeit und Ort und Richtung, eine Art andauernde, in sich selbst kreisende Gegenwart.
Parallelen zur Musik drängen sich auf. Brentanos Gedicht ist eine minimalistische Klangkomposition. Von ihr aus ist es nur ein kleiner Schritt zu Musik, die in den Stationen 8 und 18 auftritt: zu den Klangwellen der mittelalterlichen Organa Perotins oder zu Klangfarbenkompositionen der 1960er-Jahre oder zur Minimal Music mit ihren narkotisierenden, zeitvergessenen Wiederholungen.