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2 Musik und die Lust am Spiel
ОглавлениеKönnen Sie sich vorstellen, dass eine Melodie zu Zweidritteln von diesem einen Rhythmus besetzt ist?
Wolfgang Amadeus Mozart schrieb sie, dazu einen sparsam stützenden Bass. Sein Stück besteht aus dreimal acht Takten [»Takte« sind durch Taktstriche abgegrenzte zeitliche Einheiten]. Hier die Melodie der Takte 1 bis 8:
Allein in diesen acht Takten kommt der Rhythmus, im Beispiel zur Verdeutlichung noch einmal über die Melodie geschrieben, fünfmal vor. Die Beschränkung geht aber weiter: Der dritte und vierte Ton in dem Rhythmus treten meist als wiederholter Melodieton auf (), im ganzen Stück 14 Mal. Alle vier Takte kennzeichnet dieselbe rhythmische Geste () ihren Schluss. Und alle Viertakter des gesamten Stückes haben in der Melodie denselben rhythmischen Ablauf, nur die lebhafte Dreiergruppe (*), eine Triole, in Takt 7 weicht einmal davon ab.
Mozarts Stück ist ein Menuett, ein höfischer Tanz, der im Barock ein Teil der Suite war, einer Abfolge stilisierter Tanzsätze, und in der Klassik zu einem Teil der Sonate wurde, einer zentralen klassischen Form. Mozart schrieb sein Menuett KV 2 im Alter von sechs Jahren … [KV = Köchelverzeichnis, das von Ludwig von Köchel 1862 vorgelegte, durchgezählte Verzeichnis der Werke Mozarts] Das Komponieren lehrte man im 18. Jahrhundert gern am Menuett, weil es ein überschaubares Format hat, an dem sich musikalisch Grundlegendes vermitteln lässt. Die Beschränkung der Mittel ist typisch. Mozart macht, was Menuette generell auszeichnet: Er spielt mit musikalischen Bausteinen – vergleichbar einem kleinen Kind, das geschickt und sinnvoll Legosteine anordnet.
Ein richtiges Spiel entstand daraus in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts: ein Würfelspiel, mit dem Tanzsätze zu erstellen waren. Johann Philipp Kirnberger, immerhin Schüler Johann Sebastian Bachs, brachte 1757 ein solches Spiel heraus: Der allezeit fertige Polonoisen- und Menuettencomponist. Anhand der gewürfelten Zahl ist in Kirnbergers Noten ein zugehöriger Takt aufzusuchen, und so erwürfelt man sich Takt nach Takt. »Die Noten«, heißt es in Kirnbergers »Vorbericht«, »welche auf den nachfolgenden wenigen Blättern erscheinen, sind der Stoff zu einer unzählbaren Menge von Polonoisen [eine Polonaise ist ein polnischer Tanz], Menuetten und dazu gehörigen Trios [der mittlere Abschnitt in einem Menuett]. Ein jeder der nur Würfel und Zahlen kennet, und Noten abschreiben kann, ist fähig, sich daraus so viele der genannten kleinen Stücke, vermittelst eines oder zweener Würfel zu componiren, als er nur verlanget.«
Jahre später trieb Kirnberger die Sache noch weiter, in einer Schrift mit dem lässigen Titel Methode Sonaten aus ’m Ermel zu schuddeln (1783). Grundidee: Aus einem fremden oder eigenen Stück entsteht in zwei Schritten ein anderes. Spielregel: Zu dem gegebenen Bass erfindet man eine neue Melodie und zu dieser neuen Melodie einen neuen Bass, sodass beide nichts mehr mit dem Original zu tun haben; natürlich kann auch als erstes der Bass verändert werden. Kirnberger ist nicht zimperlich, er übernimmt dafür sogar einen Tanzsatz von Johann Sebastian Bach. Die Umgestaltung erscheint mechanisch, setzt aber ein Wissen um das satztechnisch Mögliche und sprachlich Angemessene voraus.
Wolfgang Amadeus Mozart tat es Kirnbergers erstem Spiel gleich. Mozarts »Musikalisches Würfelspiel«, eine Anleitung zum Componieren von Walzern vermittels zweier Würfel, erschien 1793, nach seinem Tod, und wurde 1956 neu herausgegeben. Wer Lust hat, kann dies Puzzle also selbst zusammensetzen. Gegeben sind insgesamt 176 durchnummerierte Takte; aus diesem Vorrat werden 8 plus 8 Walzertakte bestritten. Für jede Walzerhälfte gibt es eine eigene Zahlentafel; sie ordnet den gewürfelten Zahlen eine Taktnummer zu. Das System ist einfach: Mit zwei Würfeln kann man 11 verschiedene Zahlen würfeln, nämlich von 2 bis 12; demnach müssen 11 Zahlen mal 8 Takte = 88 Takte pro Walzerhälfte zur Verfügung stehen, für den kompletten Walzer also 176 Takte. Das Spiel funktioniert, weil die angebotenen Melodien formelhaft sind, zum Beispiel einen einfachen Dreiklang [Zusammenklang dreier Töne] zerlegen; weil der hinzutretende Bass äußerst schlicht ist; und weil jeder Achttakter denselben harmonischen Verlauf hat. Erwürfelt man sich einmal zwei oder drei Versionen, staunt man aber doch, wie viel »Musik« herauskommt. Wer ein Instrument spielt, sollte es ausprobieren: Das fertige Stück ist auf dem Klavier nicht schwer, ein Melodieinstrument könnte sich auch auf die Oberstimme beschränken, und eine pfiffige Variante wäre es, könnten zwei oder mehr entstandene Walzer gleichzeitig erklingen …
»Spiel«, recht verstanden, ist nicht Gegensatz von »Kunst«, sondern ein Teil von ihr. Diether de la Motte (1928–2010) sagte den schönen Satz: »Die entscheidende Grenze liegt bei Kunst nicht zwischen Ernst und Spiel, sondern zwischen Spiel und Spielerei.« Der lebhafte Schlusssatz [ein »Satz« ist ein geschlossener Teil eines mehrteiligen Werkes] von Joseph Haydns Klaviersonate C-Dur Nr. 60 stellt anfangs Takte hin, die bereits durch Abwandlungen miteinander spielen und mit deren Gestalten der ganze weitere Satz spielt, unter anderem mit witzigen Ausrutschern: Takt 10 landet auf einem »falschen« Akkord, eine plötzliche Pause folgt, als breche der Spieler ab, erschrocken über einen Fehlgriff.
Johann Sebastian Bachs zweistimmige Inventionen [Erfindungen] für Klavier (1723) spielen mit musikalischen Elementen, in höchster künstlerischer Zielsetzung. Bachs kurze »Aufrichtige Anleitung«, die er als Titel den Inventionen voranstellt und an die »Liebhaber des Clavires« richtet, nennt die Maßstäbe: das Lernen eines reinen zweistimmigen Satzes und seiner »cantablen« Wiedergabe sowie »guter Inventiones« als »starken Vorgeschmack von der Composition«. Jede Invention folgt einer speziellen Idee. Der ersten Invention in C-Dur werden die meisten Klavierschüler in ihrem Unterricht begegnet sein: Aus den zwei ineinandergreifenden Gliedern der Anfangsfigur
entstehen alle weiteren Figuren. Die Ableitungen geben einen kompositorischen »Vorgeschmack« und entdecken spielend Varianten und sind ein kombinatorisches Spiel mit den Möglichkeiten, die in der Anfangsfigur stecken.
Der erste Takt der Invention in G-Dur besteht aus einem gebrochenen G-Dur-Dreiklang, dessen Töne also nicht gleichzeitig, sondern nacheinander erklingen:
Ein kleiner Seitenblick: In seinem Lehrbuch Anfangsgründe der musicalischen Setzkunst (1752) bringt Joseph Riepel Beispiele, die spielerisch Töne umstellen: die drei Töne c d e in mehrfacher »Verwechslung« als c e d – d e c – d c e – e c d – e d c. So berühren sich die Dinge über Zeiten hinweg: Nichts anderes passiert im 20. Jahrhundert bei Permutationen, das heißt, wenn Komponisten die Töne von Tonreihen umstellen und dadurch neue Tonreihen gewinnen! Bezeichnet man nun entsprechend Riepels »Verwechslung« die Töne von einem Dreiklang mit Zahlen statt mit Namen, bekäme Bachs erster Takt der G-Dur-Invention die Zahlenfolgen 1 2 3 – 2 1 3 und 2 1 1. Später wird daraus aber auch 3 2 1 – 1 3 2 – 2 1 2 – 2 3 1. Bachs G-Dur-Invention spielt mit Klängen, die C-Dur-Invention mit Linien.
Ein Spiel in seinem tiefsten Sinne erfasst und spiegelt den ganzen Menschen. Bündiger ist das niemals ausgedrückt worden als in einem Satz von Friedrich Schiller aus seinen Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795): »Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.«
Kinder leben das noch unverfälscht, sie spielen mit größtem Ernst und ungeteilter Hingabe; sie erfahren darin die Welt. Ein Fußballspiel wäre dümmlich, würden nur 20 Personen hinter einem Ball herlaufen – es setzt menschliches Handeln um, und das begründet seine Faszination: Leidenschaft, Einsatz, Scheitern, strategisches Denken, Kämpfen, Durchhalten, Zusammenwirken. Von Anforderungen des Schachspiels muss man nicht lange reden. Das Skatspiel hat es geschafft – man liest es mit Staunen –, 2016 in die deutsche Liste des »immateriellen Kulturerbes« aufgenommen zu werden. »Mensch ärgere dich nicht«, unverwüstlich, ist nicht ohne Grund immer noch eines der beliebtesten Familienspiele.
Auf Seiten der Musik wiederum prägt »Spielen« viele Werke, aber in einem Typus geht es vollends auf: im Menuett. Dass es innerhalb einer Sonate durchweg weniger Beachtung erfährt als die anderen Sätze, ist umso erstaunlicher, bringt es doch diese besondere Haltung ein: Das Menuett repräsentiert geist-reiches Spiel.
Der Meister des klassischen Menuetts ist Joseph Haydn, in seinen Streichquartetten [Kompositionen für vier Streichinstrumente], Klaviersonaten, Sinfonien [mehrteilige Orchesterwerke]. Äußerlich verlaufen alle vollständigen Menuette gleich, in drei großen Teilen, die in sich erneut dreiteilig sind: Menuett – Trio – Menuett, wiederholt. Doch inhaltlich ist jedes Menuett besonders. Haydns Tanzsätze sind von einem schier unerschöpflichen Erfindungsreichtum, geistvoll, elegant, mit Witz und Überraschungen. Einen Satz möchte ich skizzieren:
Das Menuett aus Haydns Sinfonie B-Dur Nr. 102 beginnt unspektakulär, mit 4 plus 4 Takten aus zwei gegensätzlichen Bausteinen: einem Dreiklang, der in Vierteln aufsteigt, und mehreren Terzen, die in Achteln fallen. Dann kommen die ersten vier Takte mit dem Dreiklang wieder, und danach die fallenden … nein: Die Achtel werden schroff weggefegt durch einen dreimaligen Ton, erneut ein Achtelversuch, wieder ein dreimaliger Ton, Schlusswendung. Auch der folgende kleine Mittelteil ist unvorhersehbar. Dann kehrt der erste Teil wieder, und der Hörer fragt sich, was ihn nun erwarten wird. Doch alles ist auf einmal normal: 4 plus 4 Takte wie am Beginn, dann regulär eine gleich lange Partie. Alles in Ordnung? Eben nicht. Haydn schließt eine Fortsetzung an, die harmlos beginnt, aber … Bitte hören Sie selbst. Und wie nehmen Sie im Vergleich zum Menuett das Trio wahr?
Zur Anregung noch einige attraktive Menuette und Scherzi [ein Scherzo, musikalischer Nachfolger des Menuetts, ist ungleich schneller und lebhafter]. Was hören Sie als deren jeweils Besonderes?
Ludwig van Beethoven, Zweite Sinfonie, dritter Satz, Scherzo
Zwei Scherzi von Johannes Brahms, aus dem Streichsextett B-Dur op. 18 und aus dem Trio op. 8 für Klavier, Violine und Violoncello [op. = opus = Werk]
Franz Schubert, Streichquintett C-Dur op. 163, dritter Satz, Scherzo
Wolfgang Amadeus Mozart, Streichquartett G-Dur KV 387, zweiter Satz, Menuetto
Robert Schumann, Zweite Sinfonie C-Dur op. 61, zweiter Satz, Scherzo
Und noch zwei Menuette von Joseph Haydn, die mit der Taktordnung spielen: aus seiner Klaviersonate Es-Dur Nr. 43 und aus dem Streichquartett F-Dur op. 77 Nr. 2. Tipp: Versuchen Sie, in beiden Menuetten den typischen Dreivierteltakt als 1-2-3 zu verfolgen. Wenn Sie unsicher werden, wo die »1« ist, also der Beginn des Taktes, haben Haydns Finten Sie erwischt …