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VII. Kapitel

54.

1. Philosophie nennen wir, wie wir schon früher angemerkt haben, nicht die in jeder einzelnen Philosophenschule verkündete Lehre, sondern das, was in Wahrheit Philosophie ist, ein verhalten, das in richtiger Weise nicht nach einer fachmännischen Weisheit strebt, die eine Fertigkeit in den Dingen des täglichen Lebens gibt, sondern nach einer Weisheit,4020 die eine unerschütterliche Kenntnis göttlicher und menschlicher Dinge4021 und ein sicheres und unwandelbares Verstehen ist,4022 das Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft umfaßt, so wie es uns der Herr durch seine Ankunft und durch die Propheten gelehrt hat.

2. Und diese Erkenntnis kann durch Vernunftgründe nicht erschüttert werden,4023 da sie von dem nämlichen Willen, durch den sie auch durchaus wahr ist, übergeben worden ist, indem sie nämlich durch den Sohn bekanntgemacht worden ist.4024

3. Und die eine Weisheit ist ewig, die andere nützlich für die Zeit, und die eine ist immer die gleiche, von der anderen aber gibt es viele und verschiedene Arten, und die eine ist ohne jede leidenschaftliche Bewegung, die andere ist immer mit leidenschaftlichem Begehren verbunden, und die eine ist vollkommen, die andere dagegen unvollkommen.

55.

1. Nach dieser Weisheit also trägt die Philosophie Verlangen; diese ist ein Streben4025 der Seele sowohl nach der Fähigkeit richtigen Denkens als auch nach der Reinheit des Lebens, und sie ist gegen die Weisheit freundschaftlich und liebevoll gesinnt und tut alles, um ihrer teilhaftig zu werden.

2. Philosophen aber heißen bei uns diejenigen, die nach der Weisheit, die alle Dinge geschaffen hat und alles lehrt, Verlangen tragen, das heißt nach der Erkenntnis des Sohnes Gottes, bei den Griechen aber diejenigen, die sich mit den Reden über die Tugend beschäftigen.

3. Philosophie besteht aber wohl aus den nicht zu beanstandenden Lehrsätzen jeder einzelnen Richtung (ich meine philosophischen Richtung), die verbunden mit den ihnen entsprechenden Lebensgrundsätzen zu einer Auswahl vereinigt sind.

4. Auch sie sind aus der den Barbaren von Gott geschenkten Gnadengabe4026 entwendet und wurden mit den Mitteln der griechischen Sprachkunst ausgeschmückt; denn die einen Sätze haben sie entwendet, die anderen aber haben sie mißverstanden; von den übrigen Lehren haben sie manche, von Gottes Geist bewegt, verkündet, aber nicht zu voller Klarheit entwickelt, andere auf Grund von menschlichem Vermuten und Überlegen, wobei sie manchmal auch in die Irre gehen; während sie aber selbst meinen, ihre Erfassung der Wahrheit sei vollkommen, ist sie, wie wir von ihnen überzeugt sind, nur ein Stückwerk.

56.

1. Jedenfalls wissen sie nichts, was über diese irdische Welt hinausginge. Wie nämlich die Geometrie, die sich mit Maßen und Größen und Figuren beschäftigt, durch die Umrißzeichnung auf ebenen Flächen und die Malerei bei den perspektivisch gemalten Bühnenwänden für das Auge den ganzen Sehraum (d.h. alle drei Dimensionen) umfaßt, aber so mit ihren Zeichnungen das Auge täuscht, indem sie kunstvoll die beim Anblick der perspektivischen Linien entstehenden Bilder verwendet (infolge davon entsteht der Eindruck von Dingen, die über, unter und auf der Fläche liegen, und die einen Teile scheinen herauszustehen, die anderen zurückzustehen und wieder ander von der ebenen und glatten Fläche sich in irgendeiner anderen Weise für das Auge abzuheben) so geben auch die Philosophen wie die Malerei nur eine Nachahmung des Wahren und Wirklichen.

2. Eigenliebe ist aber für jedermann jederzeit Ursache aller Verfehlungen.4027 Deshalb darf man nicht den Ruhm vor Menschen erstreben und selbstsüchtig sein, sondern muß Gott lieben und in der Tat „heilig mit Klugheit“4028 werden.

57.

1. Wenn nun jemand Teile verwendet, als ob sie das Ganze wären, und das Minderwertige ehrt, als ob es das Wichtigste und die Hauptsache wäre, so irrt er von der Wahrheit ab und versteht das Wort nicht, das David als Sündenbekenntnis gesprochen hat: „Erde und Asche habe ich wie Brot gegessen.“4029

2. Die Selbstsucht und die Einbildung gelten ihm als Erde und als Irrweg. Wenn aber dies der Fall ist, so erwächst aus dem Unterricht die Erkenntnis und das Wissen. Wenn es aber einen Unterricht gibt, so muß man notwendig nach dem Lehrer fragen.

3. Denn Kleanthes nennt als seinen Lehrer den Zenon und Theophrastos den Aristoteles und Metrodoros den Epikuros und Platon den Sokrates. Aber wenn ich auch bis auf Pythagoras zurückgehe und auf Pherekydes und Thales und auf die ältesten Weisen, fahre ich fort, nach ihrem Lehrer zu fragen. Und wenn du die Ägypter nennst oder die Inder oder die Babylonier oder die Magier selbst, so werde ich nicht aufhören, nach dem Lehrer dieser Völker zu fragen, und führe dich zurück auch bis zu dem ersten Geschlecht der Menschen und fange dort an, zu fragen, wer sein Lehrer war.

4. Von Menschen kann es niemand sein; denn sie hatten noch nicht gelernt; aber auch keiner von den Engeln; denn weder können Menschen so hören, wie die Engel als Engel etwas kundtun, noch haben jene die Zunge so, wie wir die Ohren haben. Man wird aber bei den Engeln auch keine Sprachwerkzeuge annehmen, ich meine Lippen und die diesen benachbarten Teile und einen Kehlkopf und eine Luftröhre und eine Brust und einen Atem und die Erschütterung der Luft.

5. Jedenfalls ist nicht daran zu denken, daß Gott laut zu den Menschen spräche, da er durch unnahbare4030 Heiligkeit sogar von den Erzengeln geschieden ist. Es ist uns aber überliefert, daß auch schon die Engel die Wahrheit erst erlernt haben und ebenso die über sie gesetzten Obersten; denn sie sind erschaffene Wesen.

58.

1. Es bleibt uns also übrig, noch über sie hinaus emporzusteigen und nach ihrem Lehrer zu fragen. Da es aber nur eines gibt, was unerzeugt ist, den allmächtigen Gott, und nur eines, was zuvor erzeugt ist, „durch das alles wurde und ohne das auch nicht eines wurde“4031 („denn in der Tat ist Gott ein einziger, der den Anfang von allem gemacht hat“,4032 schreibt Petrus, womit er auf den erstgeborenen Sohn hinweist, da er ganz genau das Wort verstanden hatte: „Im Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde“4033) und da dieser von allen Propheten Weisheit genannt wurde, so ist dieser der Lehrer aller erschaffenen Wesen, der Ratgeber Gottes, dessen, der alles vorauserkannt hatte.4034

2. Er hat aber von Anfang an seit dem Beginn der Erschaffung der Welt „vielfältig und auf vielerlei Weise“4035 erzogen und führt zur Vollendung. Daher ist mit Recht gesagt: „Nennt niemand auf Erden euren Lehrer!“4036 Du siehst, woher die wahre Philosophie ihre Grundlagen hat.4037

3. Und wenn auch das Gesetz nur Abbild und Schattenbild der Wahrheit ist, so ist das Gesetz doch wenigstens Schattenbild der Wahrheit;4038 die Eigenliebe der Griechen aber beruft sich auf irgendwelche Menschen als auf ihre Lehrer.

59.

1. Wie nun alles, was einen Vater hat, auf Gott den Schöpfer zurückgeht,4039 so geht auch auf den Herrn der Unterricht über das Gute zurück, der gerecht macht und dazu anleitet und mithilft.

2. Wenn aber manche Leute infolge von irgendeiner Einbildung4040 die Samenkörner der Wahrheit, die sie auf irgendwelche Weise erhalten hatten, nicht zum Keimen brachten, sondern sie in ein unfruchtbares und regenloses Land legten und von Unkraut ersticken ließen,4041 so wie die Pharisäer vom Gesetz abirrten, indem sie Menschenlehren einführten,4042 so ist daran nicht der Lehrer schuld, sondern schuld sind diejenigen, die sich dazu entschlossen, nicht auf ihn zu hören.

3. Aber diejenigen von ihnen, die sich durch die Erscheinung des Herrn und durch das klare Zeugnis der Schrift überzeugen ließen, gelangen zum Verständnis des Gesetzes, gerade wie die Anhänger der Philosophie durch die Lehre des Herrn zum vollen Verständnis der wahren Philosophie gelangen.

4. „Denn die Worte des Herrn sind heilige Worte, ein im Feuer erprobtes, echtes Silber, in der Erde siebenmal gereinigt.“4043

60.

1. Entweder wird hiermit der Gerechte wie ein oft gereinigtes Silber für echt erklärt, indem er eine Münze des Herrn geworden ist und das königliche Gepräge erhalten hat, oder da auch Salomon sagt: „Die Zunge des Gerechten ist ein im Feuer erprobtes Silber“,4044 so bezeichnet das Schriftwort die erprobte und weise Lehre als lobwürdig und beifallswert, wenn sie in der Erde oftmals gereinigt ist, das heißt, wenn die Seele des Gnostikers durch die Enthaltung von der Feuersglut der irdischen Versuchungen auf vielfache Weise geheiligt wird.

2. Aber auch der Leib, in dem sie wohnt, wird geheiligt, indem er für die Reinheit eines heiligen Tempels4045 zubereitet und so Gottes Eigentum wird. Die Reinigung der Seele in dem Leib besteht aber zuvörderst in der Enthaltung von den bösen Taten. Manche halten diese für die Vollkommenheit, und sie ist in der Tat schlechthin die Vollkommenheit für den gewöhnlichen Gläubigen, sei er Jude oder Grieche.

3. Bei dem Gnostiker aber schreitet nach Erreichung der bei anderen als Vollkommenheit angesehenen Stufe die Gerechtigkeit weiter fort zu der Vollführung guter Taten, und bei demjenigen, bei dem die Steigerung der Gerechtigkeit bis zum Gutestun fortgeschritten ist, bleibt die Vollendung bestehen in dem unwandelbaren Zustand des Gutestuns nach dem Bilde Gottes;4046 denn die einen sind Same Abrahams und noch Knechte Gottes; diese sind die Berufenen; Söhne Jakobs aber sind seine Auserwählten,4047 sie, die die Macht der Bosheit überwunden haben.4048

61.

1. Wenn wir also sowohl Christus selbst Weisheit4049 nennen als auch seine Wirksamkeit durch die Propheten, durch die man die gnostische Überlieferung erlernen kann, wie er selbst zur Zeit seiner Erscheinung die heiligen Apostel lehrte, so dürfte Weisheit wohl die Erkenntnis sein, die ein Wissen und Verstehen des Gegewärtigen, Zukünftigen und Vergangenen ist, das nicht wankend gemacht oder erschüttert werden kann, da es von dem Sohne Gottes überliefert und geoffenbart worden ist.4050

2. Und wirklich, wenn höchstes Ziel des Weisen das unmittelbare Schauen ist,4051 so strebt zwar der noch Philosophierende nach dem göttlichen Wissen, erlangt es aber noch nicht,4052 wenn er nicht durch Unterricht die Erklärung des prophetischen Wortes erhält, wodurch er erfährt, wie sich „die Gegenwart, die Zukunft und die Vergangenheit“4053 verhält und verhielt und verhalten wird.

3. Diese Erkenntnis ist aber seit der Zeit der Apostel in ununterbrochener Folge von einem zum anderen mündlich ohne Verwendung schriftlicher Aufzeichnung an wenige weitergegeben worden und so bis zu unserer Zeit herabgekommen. Infolgedessen muß die Erkenntnis oder Weisheit durch Übung bis zu dem ewigen und unveränderlichen Zustand des unmittelbaren Schauens entwickelt werden.

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