Читать книгу Sechs utopische Thriller - Conrad Shepherd - Страница 13
3. Kapitel
ОглавлениеIn der Tiefe der Krypta erwachte etwas mit einem nachdrücklichen Klacken. Grelles Licht holte Morton Conroy aus seinen Träumen. Fort von den vagen Bildern der Vergangenheit. Einer Vergangenheit, die ihm mehr und mehr zu entgleiten drohte, je länger er sich hier befand und auf seinen Prozess wartete.
Der Hochsicherheitstrakt des Staatsgefängnisses hatte keine Fenster; hier, tief im Innern des Mondgesteins, wurden Tag und Nacht durch Ein- und Ausschalten von Kunstlicht erzeugt. Um sechs Uhr Standard-Erdzeit sprang ein computergesteuerter Schalter um, und die vergitterte Hölle wurde mit Licht überflutet.
Conroy rollte sich auf die Seite und stützte sich auf einen Ellbogen. Noch halb gefangen in seinem Alptraum, öffnete er benommen die Augen.
Er grunzte abfällig.
Auch bei Licht sah sein Domizil nicht besser aus. Die Vorderseite bestand nur aus Gitter. Eine Hälfte bildete die Tür, sie schwang beim Öffnen nach außen. Die Käfigseiten waren ebenfalls Gitterelemente. Die Pritsche aus Drahtgeflecht mit einer Formschaumauflage nahm fast die Hälfte der Breitseite und nahezu die gesamte Länge der linken Gitterwand ein; Lokus und Waschbecken an der hinteren, massiven Wand waren aus den Nachbarzellen von jedermann einsehbar.
Alles, fast alles war aus Metall, was die Geräusche vervielfachte und verstärkte. Ein höllischer Lärmpegel erwachte und brandete durch die Krypta wie ein Tsunami vor der Küste Japans. Es stank zum Erbrechen nach schmutzigen Leibern, nach Kot und anderen menschlichen Ausdünstungen. Überdimensionale Ventilatoren schaufelten abgestandene, uringeschwängerte Luft aus dicken Röhren über Käfige und stählerne Laufstege.
Conroy warf die Decke ab und setzte die Füße auf den Boden; er griff nach seinen Stiefeln, zog sie an und schlug die Verschlüsse zu. Flüchtig wusch er sich das Gesicht am Waschbecken; das dünne Rinnsal, das aus dem Hahn kam, war brackig und stank wie einfach alles hier. Dann setzte er sich auf das Pritschenende und wartete stoisch.
Ein weiterer verfluchter Tag nahm seinen Anfang.
Draußen schlurfte der Kalfaktor auf dem breiten Katzensteg näher und wischte mit seinem Besen den Unrat, den die Häftlinge durch die Gitterstäbe geworfen hatten, über die Kante in die Tiefe der Krypta. Dreck und Abfall segelten mit dem in der geringen Mondschwerkraft üblichen Zeitlupentempo nach unten und wurden vom Entstofflichungsfeld, das die einzelnen Ebenen unsichtbar voneinander trennte, mit irrlichterndem Aufflammen zerstrahlt.
Der Kalfaktor war ein alter Soldat. Mit einem Gesicht, das von einer wie von einer Axt geschlagenen Narbe in zwei unsymmetrische Hälften zerteilt wurde. Alle nannten ihn Sarge. Er musste schon an die Siebzig sein. Hatte vielleicht einmal in der Vergangenheit einen Befehl verweigert oder einen Offizier bei etwas Verbotenem beobachtet und es herumerzählt. Und bezahlte noch immer für seine Dummheit. Mit lebenslänglich im STRALAG-2, dem FSA-Militärstraflager auf dem Mond.
Vor Conroys Käfig fuhrwerkte er auffallend ziellos mit dem Besen herum und schüttelte dabei den Kopf, als würde er sich mit einem schwerwiegenden Problem herumschlagen, das seinen geistigen Horizont überstieg.
»He, Sarge!«, murmelte Conroy durch die Gitterstäbe. »Was ist los?«
»Mächtig viel, Mann«, zischelte der Kalfaktor heiser; sein Kehlkopf hatte bei irgendeiner Schlägerei was abbekommen.
»Wie meinst du das?«
»Sind 'ne Menge Gerüchte im Umlauf...«
Er verstummte, als der Wächter-Bot vorübersurrte. Linsen starrten wie Facettenaugen stählerner Libellen über die Käfige hinweg. Erfassten jeden Winkel. Die Vierlingsläufe der Auto-MPs schwenkten ständig von einer Seite zur anderen; ein Metronom, das den Takt zu einer unhörbaren Todesmelodie schlug.
»... im Umlauf«, wiederholte Sarge, als der Bot weiterglitt. »Soll Ärger geben auf dieser Ebene.«
Conroy zuckte die Schultern.
»Soll vorkommen, Soldat.«
»Ja, Sir, das stimmt, Sir«, nickte der Kalfaktor und kicherte hohl. »Das ist wahr, Oberleutnant.«
Conroy horchte auf. Den ehemaligen Dienstgrad eines Häftlings zu verwenden war eigentlich unüblich.
»Was stört dich also daran, Alter?«, fragte er.
Der Sarge zögerte einen Moment.
»Nichts«, sagte er schließlich und bleckte die gelblich verfärbten Zähne. Pferdezähne. »Nichts, bis auf den Namen des Kerls vielleicht, dem der Ärger gelten soll.«
»Ja?«
Stille.
Der Besen wurde hektischer geschwungen.
Und Conroy begriff.
»Es geht um mich! Willst du mir das sagen?«
Einen Moment lang wich der Kalfaktor seinem Blick aus.
Dann packte er seinen Besen und schob sich aus Conroys Sichtfeld. Aber ehe er ganz verschwand, ließ sich seine heisere Stimme vernehmen: »Jawohl, Mann, Sir, du wirst Ärger kriegen, Sir. Sieh dich vor, Soldat. O Mann, besser, ich mache mich vom Acker.«
Conroy murmelte ihm ein »Danke, Alter« hinterher und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Gitterstäbe, um zu analysieren, was er eben gehört hatte.
Langjährige Erfahrungen hatten ihn folgendes gelehrt: Wenn etwas Unerwartetes auf dich zukommt, verschwende keine Zeit. Überlege nicht lange, wie oder warum es passiert. All das kannst du später tun – wenn du die Sache überlebt hast. Schätze deine Vorteile, prüfe die Nachteile. Dann plane dementsprechend. Handle. Und tue es schnell, ehe dir der andere zuvorkommt.
So, wie es sich ihm darstellte, gab es keine Vorteile.
Die Nachteile hingegen waren erheblich.
Wie so oft.
Er verfügte über eine harte Schulung; nicht gerade gedacht für ein Leben in einem Militärstraflager, aber helfen würde sie trotzdem. Bereits in seiner Kindheit hatte er lernen müssen, sich Respekt zu verschaffen. Soldatenkinder wie er verbrachten ihre Jugend in zwanzig und noch mehr Standorten und ebensovielen Schulen. Überall war er neu, musste sich gegen die Brutalität auf den Schulhöfen behaupten, sich mit ebensolcher Brutalität durchsetzen, um Anerkennung kämpfen und sich einen Status schaffen.
Später, beim Militär, war die Gewalttätigkeit ausgefeilter, diffiziler, perfider. Experten bildeten ihn aus, brachten ihm die Techniken und Finessen des Überlebens bei. Des Überlebens um jeden Preis. Und seine Ausbilder und Instruktoren vermittelten ihm vor allem die richtige Einstellung, machten ihm unmissverständlich klar, dass Hemmungen oder Zögern früher oder später seinen sicheren Tod bedeuteten.
Tue stets das Unerwartete, trichterte man ihm in den Ausbildungslagern ein.
Wenn dein Leben davon abhängt, verhalte dich im Kampf niemals anständig.
Sei infam, sei gemein.
Täusche deine Gegner.
Schlage zuerst zu, und zwar so hart, dass du keinen zweiten Schlag brauchst.
Und er hatte sich daran gehalten. Nur so hatte er bislang überlebt...
Um sieben Uhr schnarrte eine Sirene. Es gab es ein dumpfes, metallisches Geräusch weit vorn in der Zellenreihe, das sich wie eine Welle in Richtung auf Conroys Käfig zubewegte. Der Zeitschalter löste die Sperrvorrichtungen.
Seine Gittertür sprang einen Spalt weit auf.
Conroy blieb hocken. Wartete. Er konnte das Kreischen hören, als die anderen Insassen dieser Ebene ihre Türen aufstießen und aus den Käfigen spazierten, um einen weiteren sinnlosen Tag zu beginnen. Sie bewegten sich mit jenem eigenartigen, fast schwebenden Gang, den einem die geringere Mondschwerkraft diktierte, wollte man nicht ständig mehrere Fußbreit vom Boden abheben.
Er musste an Sarges Warnung denken. Und das brachte ihn dazu, keine Zeit zu vertrödeln. Je eher es geschah, um so schneller hatte er es hinter sich.
Er schwang seine Beine über die Bettseite und stand auf. Reihte sich ein in die Schlange der draußen vorbeischlurfenden Häftlinge und trottete mit ihnen in den großen Saal der Messe.
Die Häftlinge an den langen Tischen schlangen den Brei aus Protosoja unter dem ewig gleichlautenden, lautstarken Protest hinunter. Ein ständiges Kommen und Gehen herrschte, überwacht von den Argusaugen der am Eingang erhöht sitzenden Wärter – und den drohenden Mündungen der Maschinenwaffen.
Conroy saß abseits und wurde von den meisten Häftlingen ignoriert; es handelte sich überwiegend um niedrigere Dienstgrade. Ein ehemaliger Oberleutnant war ihnen suspekt, wenn nicht sogar verhasst.
Es störte ihn nicht, machte ihm nichts aus.
Er war es gewohnt.
Der Außenseiter zu sein, hatte mitunter seine Vorteile.
Schweigend aß er, die Sinne hellwach, angespannt... und behielt seine unmittelbare Umgebung genaustens im Auge. Er sah Sarge ein paar Tische weiter vorne sitzen, hektisch auf einige seiner schwarzen Brüder – ehemalige Raumsoldaten, wie Conroy wusste, und Lebenslängliche – einredend. Was er sagte, ging in dem herrschenden Radau unter. Unvermittelt schaute er wie alarmiert hoch und zu ihm herüber.
Und plötzlich war Conroy, als würde der Lärm um ihn herum leiser, verhaltener.
Dann spürte er, wie sich seine Nackenhaare elektrisiert aufrichteten. Er schob das Tablett von sich und stand betont langsam auf. Drehte sich um.
Sie waren zu viert.
Drei nur Staffage für den vierten. Ein feister Kerl, trotz seiner Größe. Sein Gesicht war das eines Frosches mit hervorquellenden Augen und fast farblosen Brauen. Die Kerle waren ihm fremd. Mussten gerade erst eingeliefert oder aus einer anderen Ebene hierher verlegt worden sein.
Und schon suchten sie Streit. Aber das war abgekartete Sache. Eine vorbereitete Aktion, sonst hätte Sarge ihn nicht warnen können. Also steckte jemand anderer dahinter, der nicht in Erscheinung treten wollte. Noch nicht. Oder vielleicht überhaupt nicht. Wer konnte das an diesem höllischen Ort schon sagen!
Frosch baute sich vor Conroy auf.
Er war gewaltig. Ein Fleischberg. Vielleicht ein paar Zentimeter kleiner als Morton, aber vermutlich zweimal so schwer. Aber das war nicht unbedingt ein Vorteil hier auf dem Mond.
»Du da, Scheißkerl, verschwinde von hier«, sagte Frosch schleppend. »Ist unser Territorium. Kapiert?«
»Seit wann?«
»Seit ich es sage.«
Frosch grinste ihn an, doch es lag keine Freundlichkeit in diesem Grinsen. Es war eine Maske, genau wie der scheinbar aufgequollene Körper. Frosch verbarg durchtrainierte Muskeln unter seiner Fettschicht, und er schien begierig darauf, sie ins Spiel zu bringen.
»Na? Wird's bald?!«
Frosch trat noch einen Schritt näher. Seine Kumpels blieben hinter ihm. In der Messe wurde man aufmerksam auf das, was sich hier abzuzeichnen begann. Die anderen Häftlinge rückten näher, bildeten einen lebenden Wall um den Tisch, um sie gegen die Blicke der Wachen am Eingang abzuschirmen.
Conroy bewegte den Kopf, sah nach links und nach rechts, blickte wieder auf Frosch, der, seine Kopfbewegung missdeutend, mit einem trüben Grinsen sagte: »Sieht so aus, Arschloch, als ob keiner dir hilft, wie?«
»Sieht es denn aus, dass ich Hilfe bräuchte?«, versetzte Conroy mit ätzender Stimme. Er streckte die Hand aus, drehte sie, dass der Rücken oben lag und spreizte die Finger. »Oh nein! Tatsächlich, ich zittere.«
»Einer von der ganz harten Sorte, wie's scheint«, meinte einer aus Froschs Gefolge.
»Besser, du bringst ihm gleich bei, was Sache ist, Dave.« Ein anderer.
Es schien Zeit, dem Trauerspiel ein Ende zu bereiten. Conroy schüttelte mit sorgenvoller Miene den Kopf. »Weißt du, Fettsack«, sagte er mit nachsichtiger Stimme, »eigentlich ist es so, dass du in meinem Territorium bist, Arschgesicht. Aber ich lasse dir die Wahl. Entweder du verziehst dich von selbst, oder du ernährst dich auf der Krankenstation für eine ganze Weile aus der Schnabeltasse.«
»Ach ja?«, schnaufte Frosch. Verblüfft und überrascht, dass es nicht nach seinen Vorstellungen ablief.
»Wie ich sage, Schwachkopf. Ich zähle jetzt bis drei, dann bist du entweder verschwunden oder trägst die Konsequenzen, ja?«
Frosch starrte Conroy an.
»Eins«, begann Morton.
Keine Reaktion.
»Zwei«, zählte Morton weiter.
Wieder keine Reaktion.
Die Umstehenden wurden ungeduldig, begannen zu johlen und Anfeuerungen zu rufen.
Dann täuschte Morton seinen Gegner.
Tue stets das Unerwartete.
Statt bis drei zu zählen – sei infam – versetzte er Frosch einen Kopfstoß direkt ins Gesicht. Er legte sein ganzes Gewicht auf den hinteren Fuß, verlagerte seinen Körperschwerpunkt nach unten, so weit es ging, stieß sich ab und schmetterte seine Stirn auf die Nase von Frosch. Der Stoß brachte dessen armselige Welt mit einem Paukenschlag zum Einsturz. Seine Beine knickten weg. Er schlug einen Rückwärtssalto, prallte gegen seine Kumpane, was ihn daran hinderte, noch weiter abzutreiben, und schlug in der geringen Mondschwerkraft auf dem Boden auf wie eine zappelnde Marionette, deren Schnüre man gekappt hatte.
Conroy wandte sich an Froschs Kumpane.
»Noch jemand Lust?«
Sie schwiegen.
Starrten ihn an.
Conroy starrte zurück.
Dann senkten sie die Blicke.
»Und jetzt bringt euren Kumpel raus, ehe die Wachen...« aufmerksam werden hatte er sagen wollen. Aber es war bereits geschehen. Sie waren schon da. Befehle wurden gebrüllt. Neurostöcke geschwungen. Brutal, begleitet von Flüchen und Tritten, trieb man die Häftlinge auseinander.
Wortlos hob Conroy beide Arme in Kopfhöhe, als er die polternden Schritte hinter sich hörte. Und da waren sie auch schon heran. Ein Kolbenhieb zwischen die Schulterblätter presste ihm explosionsartig die Luft aus den Lungen, zwang ihn aufstöhnend in die Knie. Schmerz zuckte durch seinen Rücken wie eine heiße Klinge. Sekundenlang verschwamm alles vor seinen Augen. Zwei, drei Wachmänner rissen ihn hoch und herum.
Conroy blinzelte. Nur undeutlich zunächst, dann wieder klar, sah er Spoczynskis Gesicht vor sich auftauchen.
Spoczynski war der verantwortliche Spieß der Wachmannschaft dieser Ebene.
»Keine Schlägerei, Conroy«, keuchte er wild. Ein böser Schimmer war in seinen Augen. »Nicht hier. Nicht in meinem Bereich. Geht das denn nicht in deinen Schädel, verdammter Klugscheißer?«
Conroy sagte: »Hab mich nur gewehrt...«
Spoczynski knallte ihm eine mit dem Handrücken. Die Bewegung war so blitzartig schnell, dass er sie nicht sah, sondern nur fühlte.
»Halt deine gottverdammte Schnauze, Soldat, bevor ich mich vergesse!« Spoczynski war nahe dran, die Beherrschung zu verlieren. Er duldete keinen Widerspruch. Nicht in seinem Bereich. Nicht in seinem Leben. Und sein Leben setzte er mit STRALAG-2 gleich. »Hast du verstanden, Drecksack?«
Conroy nickte. Mühsam. Seine Unterlippe war aufgeplatzt. Er schmeckte Blut.
»HAST DU VERSTANDEN, DRECKSACK?«, blaffte der Sergeant, jedes einzelne Wort betonend.
Conroy beschloss, ihn nicht weiter zu provozieren.
»Sir! Ja, Sir!«, brüllte er und spuckte Blut dabei.
Das rotgeäderte Gesicht Spoczynskis verzog sich in einem wilden Feixen. Sein Kehlkopf hüpfte. »So ist's brav, mein Junge.« Er machte eine Handbewegung. Seine gepanzerten Schergen ließen von Conroy ab.
Spoczynski fixierte die Kumpane des am Boden liegenden Mannes.
»Ihr da, bringt diesen Kadaver hier raus. Vorwärts!«
Die Männer in ihrer groben Gefängniskleidung zogen ihren Anführer hoch, hielten ihn links und rechts an den Oberarmen gepackt und schleiften ihn mit sich; seine Füße scharrten über den Metallboden der Messe.
»Und du, Großmaul Conroy«, wandte sich Spoczynski an Morton, »verziehst dich besser in deinen Käfig...«
*
Zwei Männer saßen sich in dem von Kunstlicht erhellten Büro in den Tiefen des FSA-MILCOM-Hauptquartiers gegenüber.
Der eine war Oberst Sheehy.
Major Angus Santana war der andere.
Santana war Sheehys rechte Hand.
Ein äußerst fähiger Mann.
Einer, der sich Chancen ausrechnete, einmal selbst Sheehys Platz einzunehmen. Früher oder später.
»Es ist so bekloppt, dass es jeder Beschreibung spottet«, knurrte Sheehy.
Angus Santana zuckte mit den Schultern, schwieg aber.
»Das Dumme daran ist, dass er es wirklich so meint, wie er es gesagt hat«, fuhr der Oberst fort, dem das Schweigen seines Adjutanten nicht auffiel. »Was den Alten anbelangt, soll ich tatsächlich in den Stralags nach geeigneten Leuten für diesen Job forschen.« Er knackte mit den Fingerknöcheln. »Ist das nicht bekloppt?«
»Wie man's nimmt«, meinte Santana zurückhaltend. »Aber er ist nun mal wie er ist, und der Generalstab will, dass er auch so bleibt, weil einige einflussreiche Kongressabgeordnete es so wollen. Und Sie wissen, wie das mit der Politik ist, Sir. Außerdem ist an General Strykers Vorschlag was dran, Sir. Die Militärstraflager enthalten eine Menge brachliegendes Potential bestens ausgebildeter Männer, die nur deshalb dort landeten, weil sie nach dem Ende der Ölkriege und den Strafexpeditionen in Moldawien sowie an der russisch-chinesischen Grenze plötzlich nicht mehr gebraucht wurden. Wir haben da auch eine gewisse Verantwortung, möchte ich behaupten. Haben die Leute zu Killern trainiert und erwarten nun, dass sie sich wieder wie normale Bürger verhalten. Schizophren, wenn Sie mich fragen. Ja. Ich glaube, es wäre nicht verkehrt, diese Möglichkeit ins Auge zu fassen – wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, Sir«, setzte er hinzu.
Oberst Sheehy musterte seinen zweiten Mann eine Zeitlang prüfend. Schließlich fragte er: »Ich kenne Sie, Angus. Worauf wollen Sie hinaus?«
Major Santana blickte angelegentlich über Sheehys Schulter auf die Weltkarte, die hinter dem ranghohen Offizier an der Wand hing. »Ich frage mich«, begann er mit einem Räuspern, »ob wir die Anregung nicht doch ernsthaft in Betracht ziehen sollten, jetzt, wo wir eigentlich das Okay haben.«
»Sie meinen, Sträflinge für die Mission rekrutieren?«
Santana nickte.
»Sie sind nicht bei Trost, Angus«, wurde Sheehy persönlich.
»Keine Kriminellen«, wiegelte Santana ab. »Keine Mörder und Vergewaltiger, sondern Leute, die das Töten als Kriegshandwerk gelernt haben.«
»Kommen Sie, das ist nicht Ihr Ernst!« Sheehy sah Angus Santana verweisend an. Dann zeichnete sich Erkenntnis auf seinen Gesichtszügen ab. »Doch... doch. Es ist Ihnen ernst, Major... habe ich recht? Und wie ich Sie kenne, bringen Sie mich nicht ohne Grund in Rage. Heraus damit! Wen haben Sie im Visier?«
»Den möglicherweise härtesten Mann im Universum – Morton Conroy.«
Um Sheehys Mundwinkel bildeten sich kleine Buckel.
»Natürlich! Conroy – von Ihnen höre ich seit Wochen immer nur Conroy! Sie haben einen Narren an dem Mann gefressen«, behauptete der Oberst. Brüsk erhob er sich und wanderte im Raum auf und ab. Seine Haltung signalisierte Ablehnung, aber Santana machte sich darüber wenig Sorgen. Er kannte seinen Vorgesetzten; er war selbst zeitweise genauso unempfindlich gegen Ratschläge wie dieser.
»Ich weiß, ich gehe Ihnen damit schon gehörig auf die Nerven, Sir, aber Conroy ist eine wandelnde und sprechende Legende im Blackwatch-Regiment. Wenn man im Wörterbuch unter dem Begriff ›knallhart‹ nachschlägt, dann findet sich Conroys Holographie direkt neben diesem Eintrag.«
»Übertreiben Sie jetzt nicht eine Spur zuviel?« Oberst Richard Sheehy blieb vor dem Schreibtisch stehen, beugte sich vor und sah seinen Adjutanten mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Warum sollten wir das tun, Angus? Und warum ausgerechnet Conroy?«
»Warum nicht Conroy, Sir?» versetzte Angus Santana. »Erkundigen Sie sich bei irgendjemandem von der Ultra Force nach Conroy, und man wird Ihnen von seinem mittlerweile legendären ›Ein-Mann-Angriff ohne Rückfahrkarte‹ auf die ukrainische Ölplattform während des Bessarabienkrieges erzählen. Damals behauptete man, niemand könne diese Mission schaffen, aber andererseits ist Conroy kein gewöhnlicher Mann. Das zeigte sich an seinen Taten. Er stieg in zehntausend Meter Höhe aus dem Transporter und ließ sich im freien Fall bis auf fünfhundert Meter fallen, ehe seinen Lenkschirm öffnete und punktgenau auf der Kuppel der Ölplattform landete. Niemand hat ihm dieses Bravourstück je nachgemacht. Er hat sich große Verdienste während der Ölkriege erworben, weshalb er vom Pentagon zum Oberleutnant befördert wurde. Während der russisch-chinesischen Aufstände hat er sich wochenlang bei Rungmar Thok im Hochland von Tibet hinter den feindlichen Linien aufgehalten und schaltete eine Reihe Widerstandsnester im Alleingang aus, ohne entdeckt zu werden. Er ist ein Sprachphänomen. Er spricht fließend Neuchinesisch, Tibetanisch und beherrscht neben einigen anderen östlichen Idiomen auch noch die japanische Sprache. Er hat Medaillen für herausragende Einzelkampfleistungen verliehen bekommen, andere für hervorragenden Einsatz in besonderen Gefechtssituationen. Die Ehrenmedaille erster Klasse für außergewöhnliche Pflichterfüllung, den Silberkometen für Mut und Tapferkeit, den großen Staatsorden der FSA, nur vier Männern wurde diese Ehrung zuteil, dreien davon posthum, und...«
»Und er sitzt im Hochsicherheitstrakt von STRALAG-2. Zum gemeinen Soldaten degradiert!«, versetzte Sheehy trocken und unterbrach ihn mit einer Handbewegung. »Was Sie mir zu sagen versuchen, ist Schnee von gestern, Major. Conroy ist ein Sicherheitsrisiko. Er steht aufs Töten. Zu schnell mit der Waffe zugange...«
»Was ihn bis jetzt davor bewahrte, zu jenen zu zählen, deren Namen auf polierten Stelen oder im Netzwerk der FSA-Streitkräfte verewigt wurden.«
»Der jemanden auch schon mal in den Rücken schießt, um des eigenen Vorteils willen«, beharrte der Oberst. »Auch ich kann Dateien lesen, Major.«
»Um seine oder die Haut seiner Kameraden zu retten«, berichtigte Santana. »Was ist daran verwerflich im Krieg? Conroy ist ein Patriot, wenn Sie mich fragen.«
»Der Mann ist ein Soziopath und ein Killer!«
»Ich will's mal so ausdrücken, Sir«, erwiderte Santana. »In der Tat bevorzugt er Situationen, deren mögliche Eskalation ein rasches, entschlossenes und konsequentes Handeln erfordert.«
Sheehy wölbte die Brauen.
»Oho! Gut gebrüllt, Löwe. Sie sollten in die Politik gehen, Major«, schlug er vor. »Bei Ihrer Wortwahl.«
Santana lächelte verhalten, dann fuhr fort: »Gut. Er kann sich nicht unterordnen, zugegeben. Er folgt keinen Befehlen, wenn er der Meinung ist, sie seien unsinnig oder gefährdeten Zivilisten, auch zugegeben. Er hat was gegen Ungerechtigkeiten...«
»Und gegen höherrangige Offiziere. Offensichtlich. Hat schließlich versucht, einen zu töten...« erinnerte ihn Sheehy.
»Wurde nie aufgeklärt, ob es tatsächlich ein Mordversuch war«, wehrte Santana ab. »Die Sache ist meiner Meinung nach eine reine Strafaktion des damaligen Kommandeurs gegen Conroy gewesen...«
»... und kam deshalb vors Kriegsgericht.«
»Wo er zu allen Anschuldigungen im Interesse des Korps schwieg.«
»Ja, ja«, winkte Sheehy ab. »Wie Sie schon sagten: ein echter Patriot. Sie meinen also, er wurde zu Unrecht verurteilt?«
»Möglicherweise ja. Vielleicht auch nein. Zumindest bestehen berechtigte Zweifel am Wahrheitsgehalt der Aussagen des Hauptbelastungszeugen, Oberstleutnant Gared Swan. Ich bin jedenfalls überzeugt, dass Conroy der Richtige für diesen Job wäre. Er hätte das Zeug dazu, in Basis Alpha einzudringen, um herauszufinden, was dort geschieht beziehungsweise geschehen ist. Keiner unserer Gentleman-Agenten...« Sheehy runzelte unwillig die Brauen, »... könnte das, wie uns recht deutlich in der unmittelbaren Vergangenheit vor Augen geführt worden ist. Dazu sind die Anforderungen für einen Agenten ohne ausreichende Gefechtsfelderfahrung zu extrem. Er müsste den Sicherheitskordon aus Spezialeinheiten der PPB-Armee unbemerkt durchbrechen. Müsste sich tage- und nächtelang im unwegsamen Gelände aufhalten, käme ewig nicht aus den dreckigen Klamotten. Hätte sich gegen urplötzlich auftretende Schneestürme zu behaupten, müsste Wetterumstürze überleben und sich mit Hybrid-Rebellen und der chinesischen Miliz herumschlagen. Und das alles ohne eisgekühlte Drinks an den Bars exklusiver Hotels, umrahmt von langbeinigen Schönen... na, ich weiß nicht!«
»Richtig«, stimmte Sheehy mit einem Glitzern in den Augen zu, »dieser Interessenkonflikt scheint in der Tat unlösbar.«
Der Major ließ sich durch diesen Einwurf nicht aus dem Konzept bringen. »Ich war schon von Anfang an dagegen«, fuhr er fort, »dass wir einfach die Leute aus der NFS zu SY.N.D.I.C. herüberholten. Wir brauchen kompromisslose Praktiker für das, was SY.N.D.I.C. erreichen soll. Leute, die, wie Sie richtig anmerkten, auch schon mal einem Feind in den Rücken schießen, wenn es die Situation erfordert. Um der Sache willen. Mitglieder des Blackwatch-Regiments wären dafür prädestiniert. Und Conroy, als ehemaliger Commander der Eliteeinheit, ist ein guter Anfang. Außerdem genau der richtige Mann für das Geheimprojekt Exodus.«
Oberst Sheehy sah den Major eine Weile schweigend an.
»Ja«, sagte er dann plötzlich, was ihm nun doch einen überraschten Blick von Santana eintrug, der mit wesentlich mehr Opposition gerechnet hatte. »Ja, warum eigentlich nicht? Ich frage mich, ob es einen besseren Vorwand gibt.«
»Kaum«, erwiderte der Major und wirkte erleichtert. Wenngleich ihn etwas an Sheehys plötzlicher Bereitschaft irritierte. Nur konnte er den Grund dafür im Augenblick nicht erkennen.
Vorwand für was...?
Der Oberst fuhr fort: »Vielleicht ist Conroy tatsächlich die richtige Wahl. Versuchen wir's mit ihm. Geben wir ihm eine Chance. Wir können ihn ja jederzeit wieder an die Leine nehmen, falls sich sein Einsatz als ein Fehlschlag erweisen sollte. Jederzeit.« Auf seinem Gesicht lag ein sardonisches Lächeln.
Major Santana unterdrückte ein leises Frösteln, als er an die Konsequenz des ›jederzeit wieder an die Leine nehmen‹ dachte. Doch dann zuckte er innerlich die Achseln, erhob sich und ging zur Tür. Dort drehte er sich noch einmal um, sah seinen Vorgesetzten schweigend an.
»Ich informiere den Alten morgen«, antwortete Sheehy auf die unausgesprochene Frage, und seine Stimme klang merkwürdig zufrieden. Er lächelte wieder sein irritierendes Basiliskenlächeln. »Sie können ja schon mal die Vorbereitungen treffen, Major.«
Auf Santanas Schuljungengesicht lag ein merkwürdiger Ausdruck. »Sir«, begann er mit der gebührenden Schüchternheit des Untergebenen und einem gespielten Zögern, »ich habe mir erlaubt, dies bereits in die Wege zu leiten.«
Richard Sheehys Mundwinkel zuckten verdächtig.
»Jetzt überraschen Sie mich aber, Major«, sagte er. »Haben Sie denn geglaubt, das wäre mir entgangen?«
*
Conroy ließ das Mittagessen aus. Er hatte sich auf dem schmalen Lager zur Seite gerollt, um sich in eine Art Dämmerzustand gleiten zu lassen. So konnte er am besten nachdenken. Er zermarterte sich den Kopf, was die Provokation dieses Frosches in der Messe zu bedeuten hatte. Wer steckte dahinter? Wen hatte er in STRALAG-2 verärgert, dass er ein derartiges Vorgehen riskierte? Ob man es noch einmal versuchen würde? Er wusste es nicht. Er wusste nur, dass er eine Zeitlang sehr wachsam bleiben musste.
Conroy lag so lange auf seinem Bett, bis er sich besser fühlte. Dann schwang er die Beine über den Rand und setzte sich auf. Es war Nachmittag geworden. Sein Kopf tat weh. Der Schmerz kam in aggressiven, pulsierenden Wellen. Der Kopfstoß, der Froschs Nase zertrümmert hatte, hatte eine eigroße Schwellung auf seiner Stirn erzeugt. Seine Unterlippe pulsierte ebenfalls schmerzhaft; er saugte an dem blutigen Schorf, um ihn aufzulösen und beschloss, zu den Häftlingsduschräumen zu gehen und seinen Kopf mit einem nassen Handtuch zu behandeln.
Der Eingang zu den Duschräumen war von Häftlingen blockiert. Sie machten Platz, als Conroy auftauchte. Einige tuschelten. Raunten. Wandten sich ab. Andere grinsten ihn offen an, schlugen ihm auf die Schulter. Dankbar. Er war der Held. Hatte für Abwechslung in ihrem tristen Alltag gesorgt. Für kurze Zeit.
Conroy drängelte sich hindurch, stieß die Pendeltür auf – und Dampf hüllte ihn ein wie der feuchte Nebel des Regenwaldes auf Borneo.
Es war ein großer, gefliester Raum, der nach Desinfektionsmitteln stank. Rechts befand sich eine Reihe offener Duschkabinen. Fast alle Hähne waren aufgedreht, als gäbe es keine Wasserknappheit auf dem Mond. An der hinteren Wand eine Reihe von nach oben hin offenen Toilettenkabinen, nur durch halbhohe Zwischenwände voneinander abgegrenzt, so dass jeder, der sie benutzte, sichtbar blieb. An der linken Wand ein über die ganze Länge laufender Waschtrog. Die gesamte Ausstattung war aus einer Legierung gefertigt, die bei Gewaltanwendung zu Grieß zerfiel. Aus Sicherheitsgründen. Auch die Spiegel, hochglanzpolierte Platten, waren aus demselben Material.
Conroy ging zum Waschtrog und drehte den Kaltwasserhahn auf. Er zog ein paar grobfaserige Papiertücher aus dem Spender, machte sie nass und presste sie gegen seine geprellte Stirn. Das fühlte sich gut an.
Im Spiegel kontrollierte er die Verletzungen seines Gesichtes. Nicht so schlimm. Nichts, was nicht nach ein, zwei Tagen vergessen sein würde.
Während er die Papiertücher erneut nass machte, besah er sich weiter im Spiegel. Sein Gesicht war hager, von den Strapazen vieler Einsätze gekennzeichnet. Über den hohen Backenknochen und der breiten Stirn wuchs ein wirrer Schopf dunkelblonden Haars. Die Nase besaß einen geraden Rücken und endete über einem ausdrucksstarken Mund, der arrogant und auch grausam wirkte. Die Backenknochen spannten die bleiche, lange Zeit von keiner Sonne beschienene Haut. Er hatte dunkelblaue Augen, die die Schwärze von Gewitterwolken annahmen, wenn er zornig wurde. Er war etwas größer als einsfünfundneunzig und breitschultrig. Er war ein introvertierter Einzelgänger, vorsichtig, misstrauisch, aber auch empfindsam und empfänglich für die feineren Strömungen des Lebens, die Illusionen schaffen oder zerstören konnten. Nur wussten das die meisten nicht. Und die wenigen, die eine Ahnung davon hatten, konnte er an den Fingern einer Hand abzählen.
Während er so vor dem Spiegel hantierte, bemerkte er, wie sich hinter ihm etwas zusammenbraute.
Er drehte sich um.
Da waren sie wieder.
Frosch und seine Gang.
Um einen Typen verstärkt, dem das ständige Üben im Fitnessraum fast die Muskeln zum Platzen brachte.
Aufgefächert strichen sie durch den Raum.
Als die fünf auftauchten, verschwanden die anderen Häftlinge wie auf ein geheimes Zeichen. Innerhalb von Sekunden war der große Häftlingsduschraum leer. Bis auf Frosch und seine Kumpane. Sie stellten sich in einem Halbkreis vor Conroy auf.
Frosch starrte ihn an. Tückisch, wie ein getretener Hund. Sein Riechorgan war eine blutige, geschwollene Kartoffel mitten in seinem Gesicht.
»Du hast mir die Nase gebrochen«, nuschelte er anklagend. Auch die Schneidezähne waren in Mitleidenschaft gezogen.
»Sei froh, dass ich dir nicht was anderes gebrochen habe«, versetzte Conroy. »Das Genick zum Beispiel, dann könntest du nicht hier rumstehen und mich vollsabbern.«
»Okay, das reicht«, sagte Frosch.
Das Signal für die anderen.
Die Dinge passierten gleichzeitig. Die links und rechts von Conroy stehenden Männer versuchten ihn zu packten. Und der Bodybuildertyp schwang eine Faust von der Größe einer Dampframme auf Conroys Gesicht zu. Er sah sie erst spät. Wich nach rechts aus und wurde noch an der Schulter getroffen. Dann klammerten sich zwei Hände von hinten um seine Kehle. Drückten zu, würgten ihn, versuchten seinen Kehlkopf zu zerquetschen. Während Frosch triumphierend seine Leute anstachelte, stellte sich der Riese für einen weiteren Schlag in Conroys Bauch in Positur. Wenn er traf, war er ein toter Mann. Das wusste der Soldat genau. Also lehnte er sich zurück und trat mit voller Wucht zu. In den Unterleib des Fäusteschwingers. Ein gutturales Stöhnen übertönte die Kampfgeräusche. Vor ihm klatschte Mister Universums Körper auf die Fliesen, musikalisch untermalt von einem schmerzgepeinigtem Heulen. Der hinter ihm stehende Würger schraubte seine Finger noch fester zusammen; fast hatte Conroy verloren. Sein Blick verschleierte sich. Er griff nach oben, packte die beiden kleinen Finger und brach sie mit einem wilden Ruck. Ein gepeinigtes Jaulen. Der Griff löste sich. Der dritte Typ stampfte näher, drosch wilde Schwinger gegen Conroys Arme und Brust. Beim nächsten Ausholen tat Conroy einen schnellen Schritt auf seinen Angreifer zu und rammte ihm die abgespreizten Zeige- und Mittelfinger in die Augen. Der völlig Überraschte schrie wie ein abgestochenes Schwein und ging geblendet in die Knie, Blut quoll aus den Augenhöhlen und lief ihm über das Gesicht.
Dann geisterten die anderen heran.
Conroy sah vom Dampf glitzernde Gesichter vor sich. Fäuste bewegten sich auf ihn zu. Er wich aus, pendelte nach links und rechts. Schlug zurück. Ein Fußtritt in die Hoden katapultierte einen hinweg. Einen beidhändig geführten Karatestoß, der sein Schlüsselbein zertrümmert hätte, wehrte Conroy mit einem hochschnellenden Unterarm ab.
Der Bodybuilder hatte sich wieder aufgerappelt. Conroy trat ihm mit aller Kraft ins Gesicht. Der Muskelprotz ging erneut zu Boden. Mit zertrümmerter Nase; er würde einen Gesichtsklempner brauchen, um keine Schreikrämpfe bei Frauen zu provozieren.
Conroy drehte sich aus dem Kreis der Fäuste heraus. Sah Frosch zur Tür rennen mit jenen grotesken Bewegungen, die übergroße Hast in reduzierter Schwerkraft hervorrief. Es sah aus, als ob er von einem Gummiband an schnellerem Voranstreben gehindert würde. Sein Kumpan mit den gebrochenen Fingern tat es ihm nach. Der mit den verletzten Augen kroch wimmernd ziellos wie eine überdimensionale Schabe über den Boden davon.
Sirenen heulten auf.
Erneut wurde Conroy von hinten angegriffen. Er riss sich los. Starrte in schwarze Gesichter. Vier von ihnen. Er erkannte sie. Sarge hatte mit ihnen diskutiert, als der Zwischenfall mit Frosch in der Messe passierte. So etwas wie Hoffnungslosigkeit machte sich in Conroy breit. Der Kampf schien verloren. Zwei von ihnen packten ihn erneut. Ein schweißtriefendes, ebenholzfarbenes Gesicht schob sich heran und eine Stimme stieß hervor: »Verschwinde hier. Das ist jetzt unser Spiel, weißer Mann! Kapiert?«
Die Sirenen hörten nicht auf zu wimmern.
Wärter drängten sich durch die Menge an der Tür. Geschrei und Geheul. Elektrische Entladungen aus den Neuropeitschen knisterten und zuckten und schufen eine Stimmung wie bei einem Gewitter. Rufe und Befehle übertönten den Lärm des heillosen Durcheinanders.
»Was, zum...«
Conroy kam nicht dazu, seinen Satz zu vollenden.
Die beiden Schwarzen schleuderten ihn durch die Dampfschwaden in eine Ecke des Duschraumes. Er konnte sich auf dem vor Nässe glitschigen Boden nicht halten, stürzte auf die Knie, rutschte weiter, schlug mit dem Kopf gegen die Wand, drehte sich und saß halb nach vorn gekauert auf den Fliesen. Neben ihm klaffte eine Öffnung in der Wand.
Und Sarges Stimme sagte: »Schnell jetzt...! Herein!«
Eine Hand krallte sich in seinen Arm und zog ihn durch die schmale Öffnung in der Wand, weg von dem im Duschraum ausbrechenden Tohuwabohu, das Spoczynskis Wärter mit den schwarzen Häftlingen veranstalteten. Er hörte ein metallenes Knirschen, ganz so, als würde eine Platte vor die Öffnung gezogen, und absolute Dunkelheit umgab ihn. Die Luft war abgestanden, roch schal und auf eine ekelhafte Weise verbraucht; auf den Lippen schmeckte Conroy den Staub korrodierten Metalls. Dann flammte in der Hand des alten Kalfaktors eine Lampe auf; ein enger Gang öffnete sich vor ihnen. Dicke Kabelstränge an Decke und Seiten machten seine Funktion deutlich: Es handelte sich um einen der unzähligen Wartungsstollen, die wie ein Aderngeflecht die Haupträume der Strafanstalt umschlossen und sie mit Energie versorgten. Der Strahlenkegel setzte harte Akzente aus Licht und Schatten in die Düsternis. Es war heiß und eng; die schwache Handlampe ließ einen gerade noch erkennen, wogegen man rannte, falls man nicht aufpasste.
»Wo sind wir?«
»Keine Zeit für lange Erklärungen, Mann«, keuchte Sarge und hüpfte wie ein Eichhörnchen mit einer für sein Alter bemerkenswerten Schnelligkeit vor Conroy her. »Müssen uns beeilen, bevor Spoczynski auf die Idee kommt, in deiner Zelle nachzusehen, Mann.«
Conroy sputete sich, um nicht den Anschluss zu verlieren. Sarge kannte diesen Fluchtweg – oder als was immer er ihn bezeichnen mochte – scheinbar im Schlaf, hatte den Grundriss wahrscheinlich im Kopf; er hingegen bewegte sich auf völlig unbekanntem Terrain und stieß immer wieder gegen unvermutet auftauchende Hindernisse.
Nach ungefähr hundert Schritten wandte sich der Wartungsstollen scharf nach links. Plötzlich war Sarge verschwunden. Conroy fühlte für einen winzigen Moment Verunsicherung. Dann hatte er zu Sarge, der nur die Lampe ausgeknipst hatte, aufgeschlossen, erkannte den engen Spalt, durch den Licht fiel. Helles Licht.
»Wo sind wir?«
»Noch immer auf deiner Ebene, Soldat!«
Etwas knirschte. Die Wand klaffte, und Sarge schob ihn durch die Öffnung. Es stank penetrant nach Desinfektions- und anderen Reinigungsmitteln.
Conroy war versucht zu lachen.
Sarges Reich!
Der Kalfaktor schloss den Durchschlupf zur lunaren Unterwelt sorgfältig und drapierte eine paar Besen und Feudel davor.
Dann ging er zum Ausgang, linste um die Ecke und winkte Conroy mit seiner mageren Krallenhand zu.
»Raus mit dir, Soldat! Die Luft ist rein.«
Conroy trat hinaus. Stand auf dem Katzensteg am entgegengesetzten Ende seiner Ebene. Vor sich die fast endlose Reihe der Käfige. Er grinste vor sich hin; am anderen Ende herrschte noch immer Tumult vor dem Eingang zum Duschraum. Minuten, dachte er, während er sich auf seine Zelle zu in Bewegung setzte. Nur ein paar verdammte Minuten sind vergangen.
Noch immer heulten die Sirenen.
Und Conroy hastete zu seinem Käfig.
Unbeobachtet.
Die Käfige links und rechts waren leer. Alles drängte sich um den Duschraum. Die Sträflinge genossen sicher das Schauspiel.
Er warf die Gittertür hinter sich zu. Klirrend schnappte das Schloss ein. Dann ließ er sich aufs Bett fallen, starrte an die Decke und dachte scharf nach.
Was zum Teufel hat sich da abgespielt?, fragte er sich. Was passiert hier?
Irgendjemand hatte etwas gegen ihn. Das, was heute geschehen war, zuerst die Provokation beim Frühstück, dann die Vorkommnisse im Duschraum, ging weit über Statusspiele oder Auseinandersetzungen um Territorien und vermeintliche Machtansprüche im verquasten Hierarchiedenken von Gefängnisinsassen hinaus. Erst hatte man versucht, ihn massiv einzuschüchtern. Dann zu erwürgen. Hätte nicht Sarge ein Auge auf ihn gehabt und seine schwarzen Brüder dazu überredet, einzugreifen, hätte ihn Spoczynski tot im Duschraum vorgefunden. Aber warum? Wer steckte dahinter? Was war das Motiv? Warum, zum Teufel, hatte jemand einen Plan entwickelt, ihn umzubringen? Er hatte nicht die geringste Ahnung.
*
Das Restaurant des Barbizon-Plaza war vom Feinsten, trug aber den Stempel seiner Stammgäste – durchweg hohes Militär. Es befand sich im Dunstkreis des Pentagon. Nichtsdestoweniger wurde es von überraschend vielen Frauen frequentiert.
Vielleicht auch gerade deswegen...
General Stryker und Oberst Richard Sheehy saßen in einer der durch Säulen abgeteilten Nischen der VIP-Lounge des Restaurants, das trotz der späten Stunde noch gut besucht war.
Vor allem die Bar im Hintergrund war brechend voll. Hauptsächlich Uniformträger beiderlei Geschlechts.
Im vorderen Teil ging es wesentlich gediegener zu. Hier saßen die höheren Ränge, ab Major aufwärts. Die kühle Atmosphäre wurde durch unauffällig-aufmerksame menschliche Kellnerinnen unterstrichen.
Die Nebennische links von ihnen war leer. In der rechten saßen zwei junge Frauen. Eine der Prostituierten nahm Blickkontakt zu Sheehy auf, aber er schüttelte den Kopf, noch ehe sie aufstehen konnte, um herüberzukommen,
Einige Augenblicke später verließen die jungen Damen die Nische und gesellten sich zu den Gästen an der Bar, wo man sie mit lärmender Ausgelassenheit willkommen hieß.
Sie konnten nun ungestört reden.
Der General hatte einen Shooter vor sich stehen.
Bourbon und Bier zu gleichen Teilen gemischt.
Ein in Texas übliches Getränk.
Stryker kam aus Texas.
Sheehy begnügte sich mit etwas weniger Explosivem.
»Mein Gott, wie abgebrüht«, sagte der General, nachdem ihn der Oberst über die Ereignisse auf Luna informiert hatte und tat so, als fröstele er.
»Wenn Sie so wollen – ja. Andererseits auch wieder nicht.«
Er hob seinen Drink und nahm einen Schluck. Dann stellte er das Glas wieder zurück. »War ein kalkuliertes Risiko, schließlich war unser Kandidat längere Zeit nicht mehr im Einsatz. Hat Rost angesetzt. Seine Konditionierung hat sicher unter den Haftbedingungen von STRALAG-2 gelitten. Wir mussten uns vergewissern, dass er den auf ihn zukommenden Aufgaben gewachsen sein würde...«
»Mußte diese – hmm – Prüfung gleich so drastisch ausfallen?«, unterbrach der General seinen Oberst. »Was, wenn es denen gelungen wäre, ihn zu killen?«
»Dann wäre er nicht der Richtige gewesen. Wir hätten uns nach jemand anderem umsehen müssen«, versetzte Sheehy. »Ein härterer Mann müsste dann die Drecksarbeit machen.«
Stryker nahm einen kräftigen Schluck und betrachtete schweigend sein Gegenüber. Manchmal war ihm der Oberst unheimlich.
»Skrupel, Sir?«, fragte Sheehy.
»Nicht die Bohne.«
»Aber?«
»Hm... kann man die Fährte bis zu uns zurückverfolgen?«
»Unwahrscheinlich.«
»Was ist mit diesem Häftling, diesem wie-war-doch-gleich-sein-Name?«
»Dave Tuckey«, half Sheehy ihm auf die Sprünge. »Wird aber nur ›Frosch‹ genannt.«
»Richtig, Frosch. Gibt's von der Seite auch keine Probleme?«
Der Oberst schüttelte den Kopf. »Spoczynski hat das bereits gelöst.«
Frosch! Spoczynski... was für Namen, dachte Stryker. Laut fragte er: »Wie?«
»General, Sir«, sagte Richard Sheehy seufzend, »wollen Sie das wirklich wissen?«
»Nein. Vermutlich will ich das nicht.«
»Dachte ich mir«, nickte der Oberst. Er leerte sein Glas und bestellte eine neue Runde.
»Wann können wir mit diesem Conroy rechnen?«, fragte der General.
»Innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden«, versetzte Sheehy. »Major Santana befindet sich bereits auf dem Mond, um ihm unser Angebot zu unterbreiten.«