Читать книгу Sechs utopische Thriller - Conrad Shepherd - Страница 20
6. Kapitel
ОглавлениеDer Hovercarrier senkte sich mit heulenden Hubtriebwerken auf das Flugfeld Schrinagars hinunter, setzte auf und federte tief durch.
Conroy löste den Gurt.
Die Leuchtschrift forderte die Insassen zum Verlassen der Maschine auf.
Conroy nahm sich Zeit.
Die knapp zwei Dutzend Passagiere waren überwiegend japanische Geschäftsleute und ein paar junge Chinesinnen. Ihre Bewegungen und das schnelle Plappern ihrer lackierten Münder verrieten die Zugehörigkeit zu einer Kategorie von Mädchen, deren Gewerbe zu einem der ältesten auf der Erde gehörte. Sie alle drängelten sich um den Ausgang, als gälte es, jede Sekunde des Aufenthaltes auszukosten. Sie warfen ihm herausfordernde Blicke zu, kicherten und wiegten sich in den geschlitzten Seidenkleidern wie Bambus im Wind.
Conroy grinste matt und verließ nach ihnen das Shuttle.
Sonnenlicht und Hitze trafen ihn wie ein Faustschlag.
Lautsprecher wehten ein undeutliches Willkommen herüber.
»Schrinagar heißt Sie willkommen. Ihre Ankunftszeit ist...«
Das Transportband trug ihn zusammen mit den anderen Passagieren der Sicherheitszone und deren Kontrollen entgegen.
»... bitte benutzen Sie Ausgang Zwei und leisten Sie den Anweisungen des Personals Folge...«
Noch bevor er die Halle erreichte, war das Shuttle bereits wieder in Richtung auf Delhi gestartet. Sekunden später verschmolz es mit dem klaren Himmel.
Morton Conroy trat vom Band herunter und ging durch den breiten Eingang. Er schrak etwas unter dem Strom kühler Luft zusammen, der aus den Gittern an der Decke kam, und ging tiefer in die Halle hinein. Fast reflexartig glitt sein Blick über die ihn umgebende Menge; es gab eigentlich keinen Grund dafür, aber in den Jahren beim Militär war es ihm zur Gewohnheit geworden, in Menschenansammlungen einzelne Gesichter zu betrachten. Man wusste ja nie, woher die Kugel oder die Klinge eines Attentäters kommen konnte. Aber die Leute in der Halle waren nur darauf aus, Reisende zu begrüßen oder zu verabschieden.
Plötzlich spürte er, wie sich seine Rückenmuskeln verhärteten.
Gefahr?
Er besaß keine telepathischen Fähigkeiten, aber ein ausgeprägtes Gespür für außergewöhnliche Stimmungen oder gefährliche Situationen. Mitunter war das recht hilfreich; in vielerlei Hinsicht. Suchend blickte er umher, als erwarte er jemanden, der ihn abholen kommen würde.
Das Gefühl wurde zur Gewissheit, als er vier in graugrünen, gepanzerten Uniformen steckende Soldaten des Pan-Pazifischen Blocks am Ausgang entdeckte. Eine unterschwellige Drohung ging von ihnen aus; die klobigen, schallgedämpften Maschinengewehre mit dem daruntergesetzten Rohr für panzerbrechende Lenkprojektile trugen sie feuerbereit in den Armbeugen, und eine gewisse Spannung war zu erkennen, als sich die kleine Gruppe der Reisenden vor der Passkontrolle aufreihte.
Der Beamte prüfte übertrieben sorgfältig die Dokumente.
Es ging nur schleppend voran.
Stimmen voller Ungeduld flogen hin und her.
»... wir suchen«, antwortete der Sicherheitsbeamte am Durchgang auf die Frage eines Passagiers, »nach ein paar flüchtigen Verbrechern.«
»Na, dann komme ich ja wohl nicht in Frage, oder?« Die dünne Stimme gehörte einer ebenso dünnen Frau mit spitzem Gesicht und wässrigen Augen. Neben den abstehenden Ohren war das Bemerkenswerteste an ihr ein riesiger Dutt aschblonder Haare. Jetzt lachte sie meckernd wie eine nepalesische Bergziege zu ihrer Bemerkung.
Stirnrunzelnd musterte sie der Beamte. Dann verzog er ärgerlich das Gesicht, warf ihr ihren Pass zu und schnappte: »Wohl kaum, Madam. Gehen Sie weiter!«
Als Conroy an der Reihe war, zückte er seinen ID-Chip und reichte ihn dem Mann. Obwohl keine Information auf dem Datenträger der Wahrheit entsprach, war Morton recht zuversichtlich, ohne Schwierigkeiten passieren zu dürfen.
Der Beamte warf einen kurzen Blick darauf und schob sie dann in das Lesegerät vor ihm.
»Was ist der Zweck Ihres Besuches in Schrinagar, Mister Conroy?«, fragte er und ließ den Monitor nicht aus den Augen.
Conroy wusste, was jetzt geschah.
Der Computer würde in einen Dialog mit dem Netzwerk des PPB treten, um die auf dem Chip gespeicherten Informationen in Relation zu den Suchkriterien der sicher bestehenden Fahndungslisten zu setzen. Auf allen größeren Shuttleports und Interkont-Flughäfen der Welt wurde es so gehandhabt.
Das übliche Verfahren eben.
Und nutzlos – in diesem Fall.
Denn die Antwort würde lauten: negativ.
SY.N.D.I.C.s diskrete Hacker-Unterstützung hatte für derlei Überprüfungen längst Vorsorge getroffen...
»Ich bin Ethnologe«, antwortete er, »und betreibe im Auftrag des Rimtec-Institutes ein paar Studien in Ihrem Land.«
»Und wie lange gedenken Sie zu bleiben?«
»Das hängt von meinem Sponsor ab, aber ich denke, so etwa zwei Wochen.«
Der Beamte tippte auf der Tastatur des Lesegeräts.
Mit leisem Klicken sprang die ID-Card Mortons aus dem Aufnahmeschlitz. »Ihre Aufenthaltsgenehmigung gilt für zwanzig Tage«, sagte der Beamte und reichte sie zurück. »Wenn Sie länger bleiben wollen, müssen Sie sie verlängern lassen.«
»Schönen Dank«, erwiderte Conroy.
Und schon war er durch.
Die kreisförmig angeordneten Sitzgruppen links liegenlassend, bewegte er sich rund vierzig Schritte nach rechts zur Information. Lehnte sich gegen die niedrige Barriere, stellte die abgenutzte Reisetasche auf die polierte Theke und schlug mit den Fingern einen kleinen Wirbel.
Die Angestellte wurde aufmerksam.
»Mein Name ist Conroy«, sagte er. »Dr. Morton Conroy. Rimtec hat einen Schließfachschlüssel für mich hinterlegt. Richtig?«
Die Nepalesin in ihrer farbenprächtigen Landestracht warf einen Blick auf Mortons Flugschein.
»Das ist richtig, Sir.«
Die Schließfächer befanden sich am anderen Ende des Gebäudes. In der Halle herrschte das übliche Tohuwabohu vor den Abflügen. Lautsprecherdurchsagen mischten sich mit dem babylonischen Sprachengewirr der wartenden Passagiere und den einzelnen Aufrufen zu den Starts planmäßiger Maschinen. Er benötigte zwei Minuten, bis er die Reihen der Schließfächer erreicht hatte.
Unauffällig blickte er in die Runde.
Auch jetzt verließ ihn die Vorsicht nicht.
Ein untersetzter, breitschultriger Mann mit einer Stirnglatze und einem Mantel über dem Arm bewegte sich am Beginn der Reihe und schien ein freies Fach zu suchen.
Etwas weiter bemühte sich eine junge nervöse Frau, eine Tasche von beträchtlichem Umfang in ein Schließfach zu stopfen und gleichzeitig auf drei kleine Gören aufzupassen, die ihr ständig davonliefen.
In der anderen Richtung war niemand zu sehen.
Morton öffnete das Fach, zu dem sein Schlüssel gehörte, und fand darin eine kleine, schwarze Reisetasche mit dem Aufdruck einer nicht existenten Fluggesellschaft. Die Tasche enthielt eine Ooni MDK, eine kompakte Waffe in einem Reeger-Gürtelholster. Der Lauf war mit einem daruntergesetzten Laserzielgeber versehen. Die Waffe arbeitete durch ein nanoprozessorgesteuertes Dämpfungssystem nahezu lautlos und zeigte keinerlei Mündungsfeuer. Alles Attribute, die in bestimmten Situationen von unschätzbarem Wert waren. Sie ließ sich vom Einzelschuss- in den Feuerstoß-Modus umschalten, wobei sie zwischen drei und sechs Kugeln ausstieß. Die miniaturisierten Hochgeschwindigkeitsprojektile durchschlugen mühelos Körperpanzer der Klasse III. Eine nahezu unschlagbare Waffe für den Nahkampf. Sie ließ sich außerdem mit mehreren Munitionsarten bestücken, darunter Brandsätze und Urankugeln gegen gepanzerte Roboter.
Neben der Waffe lag noch ein etwas größerer Umschlag in der Tasche. Morton öffnete ihn und entnahm ihm ein Fax mit seiner Hotelreservierung, die für das »Maniloa International« galt. Kurz überlegte er, dann ließ er beides in der Tasche und stopfte diese in seine eigene, wesentlich größere Reisetasche.
Zurückgekehrt zur Information, übergab er den Schlüssel der Angestellten und bedankte sich.
»Keine Ursache Sir«, antwortete die Nepalesin. »Übrigens, Sir – Sie werden erwartet.«
»Von wem?«
»Dort drüben, Sir.«
Morton warf einen Blick in die angegebene Richtung. Er vermutete, SY.N.D.I.C.s Kontaktmann in Schrinagar, Poul Devlin, zu sehen.
Er irrte sich.
Ein erfreulicher Irrtum, wie er feststellte.
Es handelte sich um eine junge Frau.
Sie saß in einer der mit weißem Kunstleder gepolsterten Fiberglasschalen unmittelbar neben dem Zeitschriftenkiosk und blätterte in einem Journal. Von ihrem Gesicht war nicht viel zu erkennen. Eine rote Haarflut entzog es Mortons Blicken.
Er ging hinüber. Stand jetzt vor der jungen Frau. Für einen Moment überlegte er, wie er sich bemerkbar machen sollte. Dann sagte er übertrieben freundlich: »Verzeihung, Miss! Haben wir uns nicht schon mal gesehen?»
Sie sah auf, musterte ihn schweigend und mit deutlich erkennbarer Zurückhaltung. Der Ausdruck in ihren grauen Augen tendierte zur Langeweile. Doch dann legte sie die Zeitschrift auf dem niedrigen Tisch ab und warf mit einer energischen Bewegung ihre Haare zurück; sie schimmerten im Licht der Halle wie poliertes Teakholz.
»Guten Tag, Mr. Conroy!«, sagte sie mit heller, weicher Stimme. »Lassen Sie dieses alberne Getue! Selten habe ich eine geistlosere Parodie dieses abgeschmackten Witzes gehört.«
»Bei der siebenundneunzigsten Sure«, entfuhr es Morton verblüfft. Seine Augen blitzten. »Sollte ich tatsächlich mal einer Frau mit Verstand begegnet sein?«
Ihr Blick hätte das Wasser des Flusses Dschilam einfrieren können.
»Mister!«, entgegnete sie scharf und akzentuiert. »Es entzieht sich meiner Kenntnis, in welcher Gesellschaft Sie sich für gewöhnlich bewegen. Ich möchte mich dazu auch nicht äußern. Nur dies: In den Kreisen, in denen ich meine Freunde suche und finde, benimmt man sich etwas höflicher einer Frau gegenüber. Falls Sie es noch nicht gemerkt haben: Sie verkehren hier unter zivilisierten Menschen.«
»Mit Ihnen zur Seite?«, erkundigte er sich lächelnd.
Sie stand auf. Ihre Figur war ohne Tadel; an genau den richtigen Stellen proportioniert, und das nicht zu wenig. Sie war ohne Zweifel das hübscheste Wesen, dem Morton seit langem begegnet war.
»Es wird Ihnen nichts anderes übrigbleiben«, antwortete sie kühl. »Man hat mich zu Ihrem Chauffeur bestimmt. Zumindest so lange, bis ich Sie abgeliefert habe.«
»Man...?«, dehnte Morton.
»Mr. Poul Devlin. Der Manager von Rimtec – und mein Boss.«
Morton Conroy nickte. »Wie umsichtig von ihm, Sie zu schicken. Sind Sie sicher, den Anforderungen einer Fahrt zu genügen?«
Ihr Lächeln wurde um eine Spur herablassender.
»Vertrauen Sie sich mir ruhig an. Ich kenne Schrinagar in- und auswendig. Bin ausgebildet in Kranken- und Säuglingspflege und verstehe mich auch darauf, einen Schraubenschlüssel richtig anzuwenden, falls es erforderlich sein sollte.«
»Letzteres spricht für Sie. Mit wem habe ich das – unbestreitbar reizende – Vergnügen?«
»Nomi McIrnerny. Ich bin Mister Devlins Assistentin.«
»Das geschieht mir recht.« Morton spielte den Zerknirschten. »Verzeihen Sie mir?«
»Wenn Sie damit meinen, ob ich Ihnen Ihre ungehörige Bemerkung über die weibliche Intelligenz verzeihe, ja.«
»Ich werde es nicht wieder tun«, versprach er. »Unterhalten wir uns zur Abwechslung einmal vernünftig.«
»Gerne. Worüber?«
»Zum Beispiel: Hotel und Bett...«
Sie runzelte die glatte Stirn.
»Sie müssen wissen«, sprach Morton Conroy rasch weiter, »dass es mir miserabel geht. Gestern war ich noch in Aden. Heute schon hier. Der plötzliche Ortswechsel war zuviel. Ich fühle mich etwas indisponiert...«
Sie stand schnell auf und griff nach seinem Arm, als befürchte sie, er könne jeden Moment umsinken.
Als sie sein Grinsen sah, hüstelte sie und zog ihre Hand zurück, als hätte sie heißes Eisen berührt.
»Kommen Sie, Sie schrecklicher Mensch«, sagte sie undeutlich und biss sich auf die Lippen. Sie schien verärgert, aber sie beherrschte sich schnell wieder. »Möchten Sie etwas essen? Ich kenne da ein paar ausgezeichnete Speiselokale...«
»Danke. Ich hab' schon im Hover gegessen. Wenn Sie nichts dagegenhaben, möchte ich so schnell wie möglich ins Hotel. Was ich am dringendsten brauche, ist eine kalte Dusche und eine Rasur.«
Sie sah ihn prüfend an. Dann nickte sie; um sein Kinn wucherte ein üppiger Stoppelbart.
»Mein Hover steht draußen. Ich bringe Sie ins Hotel.«
Sie hängte sich ihre Tasche um die Schulter. Ihre Augen verbarg sie hinter einer Sonnenbrille mit riesigen runden Gläsern und einem blauweiß geringelten Gestell. Sie ging voraus und fragte über die Schulter: »Haben Sie Gepäck?«
»Nur leichtes.« Er hielt seine Tasche hoch. »Hab' mich ganz darauf verlassen, dass Rimtec mich mit allem ausstattet, was ich hier für meine Arbeit brauche.«
Sie nickte bestätigend.
»Liegt schon alles im Hotel für Sie bereit.«
Beim Hinausgehen bemerkte Morton den Mann. So unauffällig wie ein Paradiesvogel zwischen einer Gruppe Pinguine lehnte er an einer Säule und starrte in ihre Richtung. Für einen Augenblick schien die Szene wie in einer Standbild-Sequenz erstarrt. Dann schob sich die Gruppe kichernder Chinesinnen zwischen Conroy und dem Mann. Als die Sicht wieder frei war, war von ihm nichts mehr zu sehen.
Conroy legte die Stirn in Falten. Während er seiner jungen Begleiterin folgte, beschäftigte ihn die Frage, weshalb jemand so großes Interesse an seiner Person zeigte? Oder lag er falsch mit seiner Vermutung, und die Neugierde des Mannes galt lediglich seiner Begleiterin?
Conroy zuckte die breiten Schultern und beeilte sich, seiner Führerin auf den Fersen zu bleiben.
Nomi McIrnernys Hover stand in einer Parkreihe; ein Honda Ramfire IIe. Die feuerrote Kunststoffschale des Renners war in der Reihe der behäbigeren Hovercrafts so fehl am Platz wie ein Hightech-Trimaran zwischen halbzerfallenen Dhaus.
Morton pfiff laut und anerkennend.
»Stopp, Mister!«, rief sie. »Ziehen Sie keine voreiligen Schlüsse auf die Höhe meines Gehaltes. Es ist ein Wagen aus dem Fuhrpark von Rimtec. Möchten Sie vielleicht fahren?«
Er winkte ab.
»Ich ziehe von Zeit zu Zeit die Annehmlichkeiten des Beifahrersitzes vor. Außerdem kenne ich die Straßen Schrinagars nicht. Vermutlich hätte ich in allerkürzester Zeit mehr Strafmandate am Hals als Sie im ganzen Jahr.«
»Danke für das Vertrauen«, antwortete sie trocken. »Hoffentlich werden Sie jetzt nicht allzusehr von meinen Fahrkünsten enttäuscht.«
»Nur zu!«, sagte er leichthin und warf die Reisetasche auf den Rücksitz. »Ich bin hoch versichert.«
Er griff an ihr vorbei, berührte zufällig ihre Brust unter dem dünnen Stoff des Kleides und registrierte anerkennend, dass sie sich dem Druck seiner Hand kaum entzog. Als er ihr die Tür öffnete, nahm er den schwachen Duft von Sandelholz wahr. Danach ging er um den Wagen herum und warf sich in die kochend heiße schwarze Lederpolsterung des Schalensitzes.
Mit einem schwachen Fauchen erwachte das Aggregat.
Die junge Frau manövrierte den Gleiter gekonnt aus der Parkbucht heraus, wendete, beschleunigte mit der Kraft einer startenden Rakete und reihte sich in den schnellfließenden Verkehr auf der zweispurigen Straße ein, die vom Hoverport ins Stadtzentrum führte.
*
Sie fuhren nach Schrinagar hinein.
Die Luft war vom schweren Duft blühender Jakaranda und Hibiskus erfüllt. Die jenseitigen Hänge trugen Teepflanzungen und Wälder, die sich fast bis zum Fluss zogen.
Morton Conroy betrachtete die dahinterliegenden, gewaltigen weißen Gipfel, die wie eine ausgezackte Silhouette vor dem leuchtendblauen Himmel standen.
»Das also ist das Tal von Kaschmir«, meinte er.
»Richtig. Enttäuscht?«
»Nicht die Spur«, beteuerte er. »Leben Sie schon länger hier?«
»Seit etwa drei Jahren.«
Sie verlangsamte die Geschwindigkeit des Hovers, um eine Reihe gelbgekleideter Mönche mit kahlgeschorenen Köpfen über die Straße zu lassen.
Danach beschleunigte sie wieder.
Conroy hielt die Hand in den Fahrtwind.
»Würden Sie mich über die Lage hier informieren, Miss McIrnerny?« Er musste fast schreien.
»Wie meinen Sie das? Politisch? Ökonomisch? Soziologisch?«, rief sie zurück und lächelte. Ihr Haar flatterte im Fahrtwind, trotz des Windabweisers. »Nennen Sie mich nicht dauernd Miss McIrnerny. Sagen Sie Nomi. Und wie darf ich Sie nennen?«
»Morton, natürlich. Wie ist es nun mit den Informationen – ganz allgemein?«
Sie fuhren an den düsteren, halbzerfallenen Mauern eines alten Klosters vorbei; es lag auf einem Felsgrat, der sich wie ein Messerrücken aus dem Boden erhob
Nomi verlangsamte etwas die Geschwindigkeit, so dass eine normale Unterhaltung möglich wurde, während sie in die Stadt hineinfuhren.
»Die Lage ist, wörtlich und politisch und ganz allgemein, hochexplosiv. China macht sich Sorgen über eine neue Rebellenbewegung, deren Führer die ständigen Kontroversen um die Nordostregionen beenden möchten – zu seinen Gunsten natürlich.«
»Das dürfte schwierig werden«, bemerkte Conroy. »Derartige Versuche hat es seit der Vertreibung des Dalai Lama vor über einem Jahrhundert immer wieder gegeben. Sie scheiterten alle.«
»Diesmal handelt es sich aber um mehr als nur eine Gruppe moralisierender Mönche. Die Bewegung umfasst weite Kreise der Bevölkerung. Die Rebellen kommen aus allen sozialen Schichten. Die Organisation hat mehrere prominente Namen im Briefkopf – Anwälte, Richter, Manager, Priester.«
»Und ihr Ziel?«
»Der Anschluss der Nordostregionen Ladak, Kaschmir, Karakorum, Rungmar Thok, Aksai Tschin und Lingsi Tang an Tibet...«
Conroy versuchte, nicht allzu überrascht zu wirken, während er dachte: Das könnte – wieder mal! – Krieg bedeuten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das Neue Chinesische Kaiserhaus auf die Gold- und Uranfelder von Rungmar Thok verzichtet, ohne dass es zu einem mörderischen Kampf innerhalb des Pan-Pazifischen Blocks kommt.
»... und es halten sich hartnäckige Gerüchte, dass eine Rebelleninvasion bevorstünde«, erreichte ihn Nomis Stimme.
»Von welcher Seite?«
Sie zuckte die Schultern. »Das weiß man nie genau...« Sie schaute ihn von der Seite an. »Aber lassen wir das. Es würde im Augenblick zu weit führen, Morton, näher darauf einzugehen. Ich werde Ihnen gerne mehr darüber erzählen, nur nicht jetzt. Im Augenblick haben Pouls, ich meine Mister Devlins Anordnungen Vorrang.«
»Und wie lauten diese... hm... Anordnungen?«
Wieder erschien das merkwürdige Lächeln auf ihrem Gesicht.
»Dass ich Sie zunächst im Hotel abzuliefern und später dann mit diesem Ray Haan bekanntzumachen habe.«
»Und wann werde ich Mister Devlin zu Gesicht bekommen?«
Sie schwieg einige Sekunden und blickte konzentriert auf die Straße. Schließlich erwiderte sie: »Ich erwarte ihn nicht vor heute Nacht zurück. Er musste dringend nach Lhasa.«
»So. Wer kümmert sich zwischenzeitlich um die Geschäfte von Rimtec?«
»Wer schon? Ich natürlich.«
»Natürlich«, murmelte er. »Wie dumm von mir. Wie konnte ich etwas anderes annehmen.«
Sie steuerte den Hover vorsichtig durch eine enge Basarstraße. Conroy blickte hinaus auf die durcheinanderquirlende Menschenmenge. Foss ist sicher ein guter Agent gewesen, dachte er. Vielleicht sogar der beste, den SY.N.D.I.C. in seiner jungen Geschichte je hatte – bis er durch irgendeinen dummen Zufall aufflog. So etwas kann jedem passieren. Und wenn du noch so vorsichtig bist – irgendwann einmal wird auch deine Nummer in dieser Lotterie gezogen...
Er verscheuchte die trüben Gedanken.
Nachdem sie das Basarviertel mit seinem Gewirr von chinesischen Teestuben und mohammedanischen Gebetsstätten verlassen hatten und auf eine breite Straße kamen, befanden sie sich plötzlich und ohne Übergang im modernen Teil Schrinagars mit seinen Hochhäusern, den Banken, den Hotels und teuren Geschäften. Der Boulevard stieg etwas an und senkte sich dann in einer langen Geraden den Hügel hinab. Conroy erhaschte erneut einen kurzen Blick auf den Fluss Dschilam, an dessen Ufern sich die Kaianlagen mit der Pontonstadt erhoben.
»Was ich Sie fragen wollte – dieser Pilot, der mich zum Kloster fliegen soll, Haan heißt er, glaube ich – was ist das für ein Typ?«
»Einer der besten Piloten, mit denen ich je geflogen bin«, erwiderte sie. »Hat mal bei einer Luftlandeeinheit gedient und heimste alle möglichen Orden ein. Er lebt und arbeitet seit ungefähr fünf Jahren hier.«
»Kommt er denn mit den politischen Verhältnissen zurecht?«
»Er hat eine Einheimische geheiratet und gilt bei den Behörden mittlerweile als integriert.«
»Er scheint also der Richtige zu sein, mich über die Berge und zu jenem Kloster zu bringen.«
Sie nickte.
»Er tut nichts anderes. Er versorgt die verstreut lebenden Stämme mit Medikamenten und Ausrüstungsgegenständen und fliegt Krankentransporte. – Außerdem«, jetzt lächelte Nomi, »für das Geld, das Rimtec ihm bietet, würde Haan sogar einen Abstecher in die Hölle machen.«
... das Rimtec ihm bietet...
Offensichtlich hatte Nomi McIrnerny keine Ahnung davon, was sich in Wirklichkeit hinter dem Rimtec-Institut verbarg. Wusste nicht, dass ihr Boss, Poul Devlin, als hiesiger Kontaktmann zur FSA fungierte und die Gelder von SY.N.D.I.C. kamen.
»Wohnt dieser Haan hier in Schrinagar?«
»Wenn er nicht gerade unterwegs ist – ja«, bestätigte sie. »Unten am Fluss.«
»Wie praktisch...« murmelte er.
Nachdem sie zwei Kreuzungen passiert hatten, fiel Conroy ein zerschrammter, ockerfarbener Hover im Heckmonitor auf, der, obwohl sich immer wieder andere Verkehrsteilnehmer dazwischenschoben, stets etwa zweihundert Meter hinter ihnen blieb. Zu weit entfernt, als dass er mehr als nur die Umrisse eines Mannes am Steuer erkennen konnte.
Den Zoom zu verwenden verkniff er sich. Seine Aktivierung hätte sicher ihre Aufmerksamkeit geweckt. Er hätte sich Antworten für ihre Fragen ausdenken müssen – doch dazu verspürte er keine Lust.
Als sie vor dem Maniloa International ankamen, war vom Verfolger nichts mehr zu sehen.
Falls es denn überhaupt einer gewesen war.
Nomi McIrnerny drosselte die Geschwindigkeit des Hovers, umkreiste einen Zierpark, in dessen Mitte Wasserfontänen in die Luft stiegen, und hielt auf die Einfahrt des Hotels zu.
»Wir sind da.«
Er stieg aus. Nahm seine Tasche vom Rücksitz, stützte sich mit der Rechten auf die gewölbte Windschutzscheibe und beugte sich zu ihr hinein.
»Sie kommen nicht mit hinauf?«
Nomi McIrnerny wehrte lächelnd ab.
»Ich werde mich hüten, Morton. Ich hole Sie in zwei Stunden wieder ab. Werden Sie bis dahin fertig sein?«
»Ohne Ihre Hilfe wird es mir zwar schwer fallen – aber ja.«
Sie lachte und zeigte eine Reihe perlweißer Zähne. »Hier! Falls Ihnen noch etwas einfällt, was Sie wissen möchten«, sie gab ihm ihre Karte, »dann rufen Sie mich doch einfach an.«
»Mach ich«, versprach er.
Sie lächelte stärker.
Dann gab sie unvermittelt Gas.
Er trat rasch zurück, fürchtete schon um seine Zehen. Mit einer Höllenfahrt zischte die feuerrote Kunststoffschale des Hovers die Zufahrt hinunter und verschwand aus Mortons Sicht.
Er blickte ihr nach. Diese Nomi mit dem schrecklichen Nachnamen war schon ein faszinierendes Mädchen. Dann drehte er sich um; das Lächeln war von seinen Lippen verschwunden. Conroy fühlte sich ein bisschen erschöpft nach dem langen Flug, sehnte sich nach einem kühlen Bad und einem doppelten Whisky.
»Mein Name ist Conroy«, erklärte er dem weißhaarigen Malaien hinter dem Empfang. »Das Rimtec-Institut hat ein Apartment auf meinem Namen reservieren lassen.«
»Doktor Morton Conroy?«
Conroy nickte kurz.
Doktor...!
Wie sich das anhörte. Irgendwie gut.
»Willkommen im Maniloa. Das Haus wünscht Ihnen einen angenehmen Aufenthalt. Hoffentlich gefällt es Ihnen bei uns.«
Während Conroy das Formular ausfüllte und den Impulsgeber für die Apartmenttür ausgehändigt bekam, erkundigte er sich beiläufig: »Hat diese Stadt irgendwelche Attraktionen zu bieten?«
Der Rezeptionschef leierte rasch eine Reihe von mehr oder minder exotischen Namen herunter, hinter denen sich nichts anderes als Bars, Tanztempel oder Freudenhäuser verbargen.
»Schon gut, schon gut«, wehrte Conroy dünn grinsend ab. »Wenn ich die alle aufsuchen wollte, müsste ich meinen Beruf aufgeben.«
»Soll der Boy Sie nach oben bringen, Sir?«, fragte der Rezeptionist höflich. Robotische Bedienstete waren zwar erheblich preiswerter, aber das Management des Maniloa legte offensichtlich Wert auf menschliches Personal.
»Danke«, wehrte Conroy ab. »Ich werde es allein finden. Welche Nummer, sagten Sie...?«
*
Der Empfangschef wartete, bis sein Gast verschwunden war, dann aktivierte sein Bildtelefon.
»Hier Parimandi. Aus dem Maniloa.«
»Ja?«, knarzte eine elektronisch verstümmelte Stimme. Der Holoschirm baute sich zwar auf, blieb aber leer; der Angerufene hatte den Bildtransfer von seiner Seite aus deaktiviert.
»Der Gast ist angekommen.«
»Verstanden.«
Der Angerufene ließ die Verbindung von seiner Seite aus zusammenbrechen.
*
Als Conroy über den Expresslift das einundzwanzigste Stockwerk erreichte, stieß er den Impulsgeber in das Kodeschloss von Nummer 2114 und fühlte kurz die Nanoelektronik erzittern.
Gleich darauf fiel die Tür seines Apartments hinter ihm zu.
Aufmerksam wanderte sein Blick durch den Raum mit seinem landestypischen Ambiente. Er hatte ein großes, geräumiges und fast luxuriöses Apartment zur Verfügung; Rimtec hatte ihm ein Eckzimmer reservieren lassen, von dem er einen weiten Blick über die Stadt und den Fluss hatte. Blaue Moskitonetze schirmten das King-Size-Bett ab, davor ein großer, bunter Teppich. Ein paar Sitzmöbel und ein Bildgeber modernster Bauart, der auf einen Nachrichtenkanal des PPB-Net justiert war. Mit einem lauten »Aus!« deaktivierte er das Gerät. Am Fenster, das die gesamte Breite der Stirnwand einnahm, standen ein niedriger Tisch und eine bequeme Couch.
Es war angenehm kühl im Raum. Automatische Blenden vor den Glasflächen hielten die Sonnenhitze ab.
Auf einem Tischchen, einem Lotosblatt nachgebildet, stand eine Flasche Whisky, ein dickwandiges Glas und eine Schale mit geeisten Stücken von Markkürbis.
WILLKOMMEN IN SCHRINAGAR. MIT DEN BESTEN GRÜSSEN, RIMTEC, war in steilen Buchstaben auf dem beiliegenden Kärtchen vermerkt.
Conroy grinste schwach, warf seine Tasche auf das Bett und goss sich ein. Er trank einen großen Schluck und stöhnte dann wohlig auf. »Genau das hat mir gefehlt«, murmelte er. »Jetzt komme ich mir wieder vor wie ein Mensch.«
Er besichtigte kurz das Bad und inspizierte den begehbaren Einbauschrank, in dem er die bereitgestellte Ausrüstung vorfand: Kleidung und Zubehör für einen längeren Aufenthalt im Hochland von Tibet. Alles mit den Logos des Instituts versehen.
Dann machte er sich an eine routinemäßige Untersuchung des Raumes. Er wusste nicht, ob sein Besuch das Interesse der örtlichen Miliz geweckt hatte. Trotzdem wollte er gewisse Vorsichtsmaßnahmen treffen.
Er brauchte keine zwei Minuten, um festzustellen, dass das Apartment »sauber« war.
Ein wenig steifbeinig ging er zurück ins Bad, um zu duschen und sich vom mechanischen Masseur die Muskulatur durchkneten zu lassen. Danach legte er sich frische Kleidung heraus und zog sich wieder an, wobei er sich dabei ertappte, dass er sich über Gebühr lange mit der Person dieser Nomi McIrnerny beschäftigte, was ihm nicht gerade passte. Zu viele Gedanken an jemanden wie sie konnten einen Mann in Schwierigkeiten bringen. Es war sicher besser, er ginge unbelastet an seine Aufgabe heran, dachte Conroy abschließend, ehe er sie aus seinem Bewusstsein verdrängte.
Er blickte auf das Zeitfenster seines Multifunktionsarmbandes.
Vier Uhr nachmittags.
Einer der Übertragungssatelliten von WATCHDOG stand jetzt über der östlichen Hemisphäre.
Zeit, sich bei Angus Santana zu melden.
Conroy machte es sich auf der halbrunden Couch vor dem Panoramafenster bequem und zog das metallene Zigarettenetui aus der Brusttasche seines Leinenhemdes.
Mit spitzen Fingern zog er eines der Stäbchen aus der federnden Halterung und klopfte scheinbar gemächlich den Tabak fest. Dabei berührte er den winzigen Kontakt an der Kante des Etuis; die auf der Deckelinnenseite aufgedampfte, hauchdünne Bildscheibe erhellte sich.
»Sir!«, sagte Conroy halblaut.
»Empfang ist gut«, drang Sheehys sonores Organ aus dem Lautsprecher. »Schon Kontakt mit Haan aufgenommen?«
»Nein«, war Conroys knapper Kommentar, »bin gerade im Begriff, das zu tun. Was Neues, das ich wissen sollte?«
»Ja.«
»Wo brennt's?«
»Immer sofort bei der Sache, wie? – Okay. Es gibt eine kleinen Zusatzjob.«
»Um was geht es dabei?«
»Sie werden Kontakt mit einem gewissen Barbo Skorrow aufnehmen.«
»Um wen handelt es sich?«
»Einem Verkäufer von Netzinformationen; ein Nachrichtenhändler. Wir hatten schon des öfteren mit ihm zu tun; seine Informationen waren stets brauchbar. Er hat von Schrinagar aus Kontakt mit uns aufgenommen, während Sie sich schon in der Luft befanden, und versichert, er habe Informationen zu verkaufen, die auch Licht auf die Ermordung eines gewissen Agenten werfen könnten...«
»Brett Foss?«
»Richtig. Es geht dabei augenscheinlich um Operation Exodus. Kümmern Sie sich darum. Nehmen Sie noch heute Verbindung mit diesem Skorrow auf und übergeben Sie ihm die geforderte Summe, wenn seine Informationen es wert sind. Wir haben eine entsprechend hohe Überweisung an Rimtec weitergeleitet; belasten Sie deren Konto. Die Kontaktadresse, unter der Sie diesen Netzdealer erreichen, lautet...«, Conroys Hand-Kom speicherte die überspielte Datensequenz.
»So wie Skorrow es darstellt«, fuhr der Oberst fort, »betreffen seine Informationen Vorkommnisse im Inneren von Basis Alpha, die für uns und vor allem für Sie von eminenter Bedeutung sein dürften.«
»Ich werde mich darum kümmern, Sir«, versprach Conroy, »und melde mich, sobald das geschehen ist.«
»In Ordnung, Mister Conroy. Und – passen Sie auf sich auf!«
»Aber immer, Oberst.«
Der Bildschirm wurde dunkel. Conroy steckte sich endlich die Zigarette in den Mund und zündete sie an.
Dann begann er zu handeln.
Was nun folgte, konnte man mit dem Begriff »falsche Spuren legen« umschreiben.
Er hob den Hörer des Bildtelefons ab und sagte in Hindi: »Vermittlung.«
»Sahib?«
Der junge Mann auf dem Display trug die charakteristische Kappe der Parsen.
»Ich brauche Anschriften und Rufnummern von Reiseveranstaltern, die Führer ins Landesinnere vermitteln.«
»Sonst nichts, Sahib?«, stieß der Parse hervor. »Schrinagar hat hunderte derartiger Büros.«
»Hören Sie!«, erwiderte Conroy kühl. »Sollten Sie nicht mehr Geschäftsinteresse haben, als Sie eben an den Tag legen, werden Sie's nicht weit bringen im Leben. Was ich brauche, sind Vermittler, die so billig wie möglich arbeiten. Auch kann ich es mir nicht leisten, einen Führer zu engagieren, der auf eine strikte Einhaltung der vorgeschriebenen Fünfstundenarbeitszeit beharrt.«
Der Parse murmelte eine Verwünschung im gutturalen Gudscharati-Dialekt.
Conroy beschloss, diese unfreundliche Bemerkung nicht zur Kenntnis zu nehmen. Scharf fragte er: »Nun?«
Glattzüngig antwortete der Parse: »Wenn Sie einverstanden sind, Sahib Doktor, lasse ich die Adressen nach den von Ihnen vorgeschlagenen Gesichtspunkten vom Computer auswählen und schicke Ihnen die Liste nach oben.«
»Tun Sie, was in Ihrer Macht steht«, knurrte Conroy und unterbrach die Verbindung.
Er drückte die Zigarette im Ascher aus und starrte überlegend auf sein Hand-Kom. Schließlich zuckte er mit den Schultern und rief die Nummer auf, die Sheehy ihm von der anderen Seite des Erdballs übermittelt hatte.
Auf dem winzigen Display erschien eine Telefonnummer.
»Anwählen«, sagte Conroy.
Es dauerte, bis die Verbindung stand. Eine missmutig und argwöhnisch klingende Stimme meldete sich schließlich.
»Ja?«, fragte sie. »Wer ist da?«
Der Sichtmodus blieb deaktiviert.
»Morton Conroy. Der Geldbote.«
Nachdem Conroy das Schlüsselwort von sich gegeben hatte, blieb es erneut für eine Weile still. Dann sagte die Stimme nervös:
»Mahin Road, Haus Nummer 354. Sagen Sie, warum machen Sie nicht einen Sprung bei mir vorbei, damit wir in Ruhe quatschen können?«
»Einverstanden«, sagte Conroy. »Vorher habe ich noch was zu erledigen. Passt es Ihnen eine Stunde vor Mitternacht?«
»Bestens. Ich erwarte Sie. Und – kommen Sie allein.«
»In Ordnung«, versprach Conroy. »Auf bald.«
»Bis dann.«
Conroy unterbrach die Verbindung.
Der Boy kam mit einem Computerausdruck. Die Liste umfasste zweihundert Adressen; auch die von Ray Haan war dabei, wie Conroy nach einem flüchtigen Blick bemerkte.
»Zufrieden, Sir?«
Der Boy schaute Conroy mit seinen verwaschenen Fischaugen grämlich an. Er war nicht mehr ganz so jung, aber klein und drahtig. Seine Augen konnten sich keinen Moment auf eine Stelle konzentrieren. Es war, als suche er in Conroys Apartment nach etwas.
»Na ja – hier, mein Sohn!« Oberleutnant Morton Conroy alias Doktor Morton Conroy gab ihm ein Trinkgeld. An der Art, wie der Boy den Schein mit spitzen Fingern in Empfang nahm, erkannte er, dass dieser an fürstlichere Trinkgelder gewöhnt sein musste, und beschloss, seinerseits ein bisschen Gift zu verspritzen.
Er legte ihm gönnerhaft eine Hand auf die magere Schulter und sagte mit erhobenem Zeigefinger: »Aber nicht gleich verprassen, verstanden!«
»Ich werde 'ne Aktie dafür kaufen«, versprach der Boy bissig.
»Sehr vernünftig... und nun ab mit dir!«
Conroy zündete sich grinsend eine Zigarette an und ging auf den kleinen Balkon hinaus. Der Wind fuhr ihm durchs Haar, stäubte glühende Asche von der Zigarette, die seine Nasenschleimhäute reizte. Er musste niesen. Dann trat er an die Brüstung, stützte die Hände auf das Geländer. Vor und unter ihm lag Schrinagar, die ehemalige Hauptstadt der indischen Bundesterritorien Dschammu und Kaschmir, ausgebreitet im Grün der Parks und Gärten.
Er schnippte den Aschenkegel von der Zigarette und ging ins Zimmer zurück. Ein Blick auf sein Chrono sagte ihm, dass Nomi McIrnerny in wenigen Minuten auftauchen würde.
Er griff sich die große Tasche aus dem Schrank und entnahm ihr die Ooni MDK mitsamt Holster. Nachdenklich wog er beides in der Hand. Dann befestigte er Waffe und Holster am Gürtel im Rücken und zog die Jacke über.