Читать книгу Sechs utopische Thriller - Conrad Shepherd - Страница 17

5. Kapitel

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Er lag nackt auf dem Bauch zwischen schweißfeuchten Laken und versuchte noch weiterzuschlafen, während der Fernseher lief.

Er hatte ihn die ganze Nacht laufenlassen und nur leiser gestellt, als sie meinte, der Krach würde ihre Konzentration stören.

Die zuckenden Bilder, die Reflexe auf seine Netzhaut warfen, störten ihn nicht im geringsten – lange genug hatte er auf Nachrichten verzichten müssen – wohl aber das hartnäckige Summen des Bildtelefons.

Nur widerwillig erlaubte sich Conroy, die Augen einen Spalt breit zu öffnen. Es herrschte eine perlgraue Dämmerung im Zimmer, irgendwo lief Wasser.

Willkommen unter den Lebenden...

Er war auf der Erde.

Mit einem tiefen Seufzer rollte er sich auf den Rücken und gab sich seinen Gedanken hin.

Entgegen Angus Santanas Versicherung hatte es doch fast vierundzwanzig Stunden gedauert, bis sie Luna und STRALAG-2 an Bord eines schnellen, nur leicht gepanzerten Kurier-Shuttles verlassen konnten. Diese Zeitspanne bot Conroy Gelegenheit, sich auf die radikal veränderte Situation einzustellen. Santana nutzte sie außerdem dazu, ihn in groben Zügen über Ziele und Zweck von SY.N.D.I.C. zu informieren.

Nur speziell über die Aufgabe, die auf ihn wartete, darüber verlor er kein Wort.

Conroy war es egal. Was immer sie auch für ihn hatten, alles war besser als STRALAG-2. Außerdem – die Rehabilitierung würde ihn wieder zu dem machen, was er vor dieser unwürdigen Verhandlung vor dem Militärgericht in Virginia, wo man ihn zum Sündenbock abgestempelt hatte, gewesen war...

Er gähnte, wälzte sich herum. Seine Hand tastete. Das Bett neben ihm war leer, nur ihr Geruch und ihre Wärme hingen noch im Laken.

Etwas mühsam setzte er sich im Bett auf.

Er hatte auch Kopfschmerzen von zu viel Alkohol. Als er sich zur Seite drehte, fiel sein Blick auf zarte Unterwäsche und ein paar Kleidungsstücke für darüber, die den Boden vor dem Bett bedeckten; ein hochhackiger Stöckelschuh mit winzigen Riemchen stand im Zimmer. Sein Pedant lag umgefallen etwas weiter entfernt.

Conroy blinzelte.

Ein Lichtstreif fiel durch die halbgeöffnete Badezimmertür. Dort lief das Wasser.

»Kyra?«, rief er.

Falls das überhaupt ihr richtiger Name war...

Das Wasser hörte auf zu rauschen. »Bist du wirklich endlich wach?«, antwortete das Mädchen. »Oder sprichst du wieder nur im Schlaf?«

Conroy stützte sich auf die Ellbogen.

»Wer ist gestern eingeschlafen?«, fragte er.

»Kann ja mal vorkommen – nach drei Nächten mit dir! Herrje, wo warst du die letzten Jahre, Mann? Im Knast?«

Das Wasser begann wieder zu laufen.

»Könnte man so sagen«, murmelte Conroy und grinste schwach. Er zog das Kissen hoch und lehnte sich damit gegen die Wand. Er versuchte, sich an die vergangenen drei Tage zu erinnern – er bekam nicht mehr alles zusammen.

Akklimatisiere dich erst mal, hatte Angus Santana angeordnet und ihn in einem Apartmenthochhaus in Berwyn Heights außerhalb New Washingtons untergebracht, das das Pentagon für derartige Anlässe ständig reserviert hielt.

Seitdem akklimatisierte er sich.

Auf seine Weise.

Seine physische Verfassung hatte sich schnell wieder den irdischen Schwerkraftverhältnissen angepasst. Das lag nicht zuletzt daran, dass er die wenigen Angebote, die STRALAG-2 für seine Insassen bereithielt, regelmäßig und konsequent genutzt hatte. Das eine Jahr in der geringen Mondschwerkraft hatte Conroys körperlichen Fähigkeiten nur in sehr geringem Maße zusetzen können.

Vielleicht hatte er es ein wenig übertrieben mit der Akklimatisierung...

Himmel, das Telefon summte noch immer. Aufdringlicher jetzt; der Bildschirm flackerte an den Rändern, blieb aber noch dunkel.

Kyra-wer-auch-immer kam aus dem Badezimmer.

Nackt.

Sie war braungebrannt, gut gewachsen, mit vollen Brüsten – und einem leicht ordinären Zug im Gesicht; daran änderte auch die wilde Haarmähne nichts.

»Gehst du nicht ran?«, fragte sie und grapschte nach ihren Sachen. Wie ein Storch von einem Bein auf das andere hüpfend, zog sie Stück für Stück an.

»Später«, winkte Conroy ab und sah ihr beim Ankleiden zu. In wenigen Minuten hatte sie die erstaunliche Verwandlung vollzogen, die sie von einer nackten Liebesdienerin des Eskort-Service zu einer kühlen, nahezu geschäftsmäßig wirkenden Angestellten eines x-beliebigen Konzerns machte.

Als sie bis auf die Schuhe angekleidet war, wandte sie sich ihm zu.

»Du hast mir meine Frage nicht beantwortet«, sagte sie.

»Du hast viele gestellt in den vergangenen sechsunddreißig Stunden«, erwiderte er wortkarg. »Welche meinst du?«

Sie blieb vor ihm stehen, sah ihn an.

»Wo du dich rumgetrieben hast, weil du so ausgehungert warst?«

»War ich das?«

»O ja...» sie kicherte. »Und – wo warst du?«

Keine Antwort.

Nach einigen Sekunden schien klar, dass auch keine Antwort kommen würde.

»Verstehe. Was frage ich auch? Interessiert mich doch überhaupt nicht.« Sie ging langsam durch das Zimmer und schlüpfte in ihre Schuhe.

Damit stöckelte sie zur Tür.

Dort blickte sie noch einmal zurück, sah ihn an und seufzte. Sie befeuchtete mit der Zungenspitze ihre Lippen

»Sehen wir uns wieder?« Die Frage schien berechtigt, von ihrer Seite der Geschichte aus.

Achselzucken.

Mehrere Sekunden lang sagte keiner von ihnen etwas.

Dann seufzte sie erneut.

Mit einem »Vergiss dein Telefon nicht« ging sie, ohne sich noch einmal umzusehen. Lediglich ihr Geruch im Zimmer erinnerte ihn eine Weile daran, dass sie einmal da gewesen war.

Conroy schwang die Beine aus dem Bett und meldete sich.

Es war ein Sichtbildanruf.

Der Videoschirm erhellte sich.

»Mort? Hier ist Angus«, sagte Santana mit seiner jungenhaften, unverschämt ausgeschlafen klingenden Stimme. Er verlor kein Wort darüber, dass er lange auf die Verbindung hatte warten müssen.

»Was willst du so früh, Angus?«

»Mann, du siehst vielleicht aus... hast du die Nutte noch bei dir?«

»Nein. Warum?«

»Gut. Du wirst hier gebraucht. Man will dich sehen.«

Conroy gähnte.

»Um die Wahrheit zu sagen, Angus, ich habe keine Lust.«

»Ha, ha, ha«, machte Santana. »Den Terminus ›Lust‹ hast du genügend strapaziert, nehme ich mal an. Du machst dich besser auf den Weg.«

»Darf man Einzelheiten erfahren?«

»Hat sich der Alte vorbehalten. Er wird dich umfassend über alles informieren.«

»Großartig«, sagte Conroy. »Kann ich mich weigern?«

»Was sagt man denn dazu?« Santana schüttelte grinsend den Kopf. »Du und Skrupel vor einer Aufgabe! Mal ganz was Neues. Nichts da, alter Freund. Ein Hovercar holt dich ab. Ist schon auf dem Weg.«

Er unterbrach, noch immer ein Grinsen auf den Lippen, die Verbindung.

»Danke, Angus«, sagte Conroy mechanisch gegen den dunklen Bildschirm. »Vielen Dank...«

*


Die gigantischen Hochhauskathedralen und Kuppeln der Hauptstadt der FSA schienen jetzt ganz nah. Für Conroy begann in dem Moment, als sich der flugtaugliche Hover seinem Bestimmungsort näherte, eines der gefährlichsten Unternehmen seiner Karriere.

Glücklicherweise hatte er zu diesem Zeitpunkt nicht die leiseste Ahnung davon, was ihn erwartete.

Entsprechend gelassen und entspannt verfolgte er die Landung auf jenem Teil des Flughafens New Washingtons, das dem Pentagon zur ausschließlichen Nutzung vorbehalten war.

An die bevorstehende Unterredung im MILCOM-Hauptquartier verschwendete er im Augenblick nicht allzuviele Gedanken.

Im verwaschenen Licht des frühen Vormittags setzte der unauffällige Hover im Mittelpunkt der zugewiesenen Landezone auf. In der Tiefe des Landeareals erwachten mächtige Maschinen; der Pilot des Hovers sandte ein kodiertes Signal an den Öffnungsmechanismus. Der Kreisabschnitt senkte sich mitsamt dem Hovercraft in die Tiefe. Wenig später schob sich dröhnend eine massive Decke über die Öffnung und sperrte das Sonnenlicht aus. In den Wänden des Silos aktivierten sich ringförmig angeordnete Leuchtsegmente. Donnernd setzte die Plattform am Boden der stählernen Krypta auf; Staub wirbelte empor, wurde von Batterien übermannsgroßer Ventilatoren abgesaugt.

Die Aggregate deaktivierten sich. Das Schott fuhr hoch. Conroy stand auf, und schon war er draußen.

Mit einem kurzen Blick orientierte er sich. Dann setzte er sich zielstrebig in Bewegung; seit seinem letzten Besuch hier hatte sich nichts verändert.

Angus Santana erwartete ihn bereits.

Nur zehn Minuten später – und nach drei exzessiv durchgeführten Kontrollen durch schwarzgekleidete und schwer bewaffnete Sicherheitsbeamte – verließen sie dreizehn Stockwerke höher einen Lift und gingen die paar Schritte über den Korridor bis zu einer Tür, vor der zwei Wachrobots standen; ihre starken Waffensysteme waren aktiviert.

Die Tür öffnete sich automatisch, nachdem der Scanner Santanas und Conroys ID-Chips gecheckt und sie als unbedenklich identifiziert hatte.

Hinter der Tür lag ein kleiner Raum, der nichts anderes als eine Hochsicherheitsschleuse darstellte. Wer hier nicht mit dem richtigen Zutrittskode aufwarten konnte, sah sich binnen Sekundenbruchteilen in einem Energiefeld gefangen, aus dem es kein Entrinnen gab. Von den vielen sonstigen scheußlichen Unannehmlichkeiten ganz zu schweigen, die jedem Unbefugten an dieser Stelle das Leben zur Hölle machen würden.

Schließlich betraten sie das Vorzimmer zu den Diensträumen Oberst Sheehys.

»Major Santana, Sir!« Der weibliche Leutnant an der Konsole links neben dem Eingang hob den Arm; ein flüchtiger Blick streifte die mächtige Gestalt Morton Conroys, ehe sie fortfuhr: »Der Chef erwartet Sie schon. Im Besprechungsraum. Sie können gleich rein.«

Der Major berührte die Sensorleiste, wartete, bis die schwere Platte aus Sicherheitsglas zur Seite schwang. Dann betraten sie die vollklimatisierte Operationszentrale von SY.N.D.I.C.

Zwei Männer saßen in tiefen Formsesseln hinter einem hufeisenförmig geschwungenen Tisch. Der eine war ein weißhaariger Siebziger. Der andere wirkte auf den ersten Blick wie ein höherer Beamter aus den Ministerien des Pentagon. Daran änderte auch die maßgeschneiderte Uniform nichts; er sah genauso aus, wie man sich einen Beamten in gehobener Position vorstellt. Männer wie ihn fand man auch vorzugsweise in den Vorstandsetagen von Multikonzernen.

Erst als er den Kopf hob und Conroy ansah, wurde der Unterschied offenbar. Er hatte nicht das Gesicht eines Durchschnittsmannes. Hinter den kalten grauen Augen steckte eine überdurchschnittliche Intelligenz. Es war das Antlitz eines absoluten Realisten.

Die Insignien am Uniformkragen wiesen ihn als Oberst aus.

»Major Angus Santana, Sir« sagte Angus laut und nahm eine etwas legere Grundstellung ein.

Conroy tat es ihm nach.

»Morton Conroy«, sagte er, und die weitere Formulierung kam etwas ungewohnt über seine Lippen. »Oberleutnant. Ehemals Blackwatch-Regiment.« Was hätte er sonst sagen sollen? Vielleicht: Morton Conroy, zu Unrecht verurteilter Gefangener?

Der Oberst zeigte auf die Sitzgruppe im Innenbogen des Schreibtisches.

»Setzen Sie sich, meine Herren.«

Die beiden nahmen Platz.

Richard Sheehy lehnte sich in seinem Formsessel zurück und fixierte Conroy mit gerunzelter Stirn.

»Sie sind also der legendäre Commander des Blackwatch-Regiments.«

Als ob er das nicht wüsste, dachte Conroy.

»Ich habe in letzter Zeit viel über Sie gehört, Oberleutnant.«

Immerhin benutzt er meinen Rang.

»Soviel, dass mir schon die Ohren klingen.«

Conroy schwieg.

Er war sich sicher, dass Oberst Sheehy keine Antwort erwartete, sondern er würde gleich sagen: Kommen wir zum Wesentlichen, oder: Der Grund, weshalb ich Sie vom Mond geholt habe oder: Vermutlich fragen Sie sich, warum...«

»Um es auf den Punkt zu bringen«, sagte der Oberst. »Ab sofort befinden Sie sich wieder im aktiven Dienst, Oberleutnant Morton Conroy. Uneingeschränkt.« Er hob die Stimme ein wenig. »Gegeben und beschlossen heute, am einunddreißigsten August 2097, neun Uhr sechzehn, Ortszeit.« Das alles war für den Protokoll-Bot bestimmt, der Morton Conroys Wiedereinsetzung in seine militärischen Privilegien für dessen Datenbank registrierte und seinem ID-Chips nun jene Daten hinzufügte, die es ihm ermöglichten, bei untergeordneten Behörden jegliche Sperre zu überwinden und mit entsprechendem Nachdruck aufzutreten.

Das übliche Prozedere bei einem derartigen Wiedereinsetzungs-Verfahren.

Kurz und bündig.

Wie stets.

Fast genauso kurz und bündig, wie man ihn vor über einem Jahr auf den Mond geschickt hatte...

»Soll ich nun zum Wesentlichen kommen?«

»Verzeihung? – Oh, natürlich, Sir, ja.«

»Gut. – Ich möchte Sie mit Professor Coulson bekannt machen.«

Der alte Herr reichte Conroy lächelnd die Hand über den Tisch.

Conroy wusste jetzt endlich, warum es jene tagelange Unterbrechung gegeben hatte. Einer jener Unterbrechungen nämlich, die üblicherweise bei derlei Aktionen zwischen dem Zeitpunkt, wo sie ihm gesagt hatten, dass er jederzeit damit rechnen müsste, auf eine Mission geschickt zu werden, und demjenigen, wo er tatsächlich aufgefordert werden würde, seinen Arsch in Bewegung zu setzen, lagen. Schließlich lag ein tieferer Sinn hinter dieser Warterei. Sie hatte ihnen die Zeit gegeben, ihn zu beobachten, ihn zu überprüfen, sein Verhalten zu studieren, herauszufinden, ob er aus der Reihe tanzen, sich eventuell absetzen würde.

Sicher war sein Apartment total verwanzt gewesen, voller SpyCams. Und sicher hatten sie jedes Wort, jede Bewegung aufgezeichnet. Conroy grinste plötzlich bei der Vorstellung, wie sie sich mit roten Ohren und schweißfeuchten Händen die Szenen mit Kyra reingezogen hatten – diese Spanner.

Nun, Conroy hatte ihnen diesen Gefallen nicht getan, nämlich aus der Reihe zu tanzen.

Einmal, weil er diese Chance, rehabilitiert zu werden, um nichts auf der Welt hätte aufs Spiel setzen wollen. Und zum anderen, weil er ja wusste, dass es sich um eine große Sache handelte. Ansonsten hätten sie sich nicht die Mühe gemacht, ihn vom Mond zu holen.

Sie wollten etwas von ihm, was immer das auch war.

Sie wollten, dass er irgendetwas für sie erledigte.

Sie brauchten ihn.

Und sie brauchten ihn anscheinend schnell!

Deshalb verzichteten sie auf das sonst übliche Prozedere.

Und der Hauptgrund für diese Eile resultierte aus der Anwesenheit jenes Mannes, der sich in Gesellschaft des Obersten befand.

Als Professor Coulson war er von Sheehy vorgestellt worden. Er hätte auch sagen können: Zweisternegeneral Coulson. Denn obwohl er jetzt keine Uniform mehr trug, war er einmal ein sehr hohes Tier beim Militär gewesen, und nebenbei noch Professor der Astrophysik.

Conroy beobachtete ihn verstohlen. Seine Anwesenheit hier gab ihm Rätsel auf.

Der Professor lächelte unmerklich und sagte: »Kennen Sie das wahrscheinliche Szenario für den nächsten globalen Krieg, meine Herren?»

»Ich habe einige miterlebt, Sir.« Damit wollte Santana ausdrücken, dass er es nicht kannte. Und dass es eine ziemlich schwierige Frage war.

»Nun«, Coulson lächelte wieder, diesmal offener, »es ist eine Frage des gesunden Menschenverstandes, wenn man einen derartigen Ausdruck im Zusammenhang mit Krieg überhaupt verwenden kann. Außerdem waren die Kriege, in die Sie verwickelt waren, nicht mehr als Geplänkel, kleinere Scharmützel. Kein Vergleich zu dem, der uns in nicht allzuferner Zukunft erwarten wird.« Der Professor machte eine Pause, damit seine Worte wirken konnten, und Conroy sagte: »Ich habe keine speziellen Theorien über Krieg, ob nun mit oder ohne gesunden Menschenverstand. Krieg ist Krieg, und wir haben uns ihm zu stellen.«

»Eine sehr gefestigte Meinung, Herr Oberleutnant. Aber lassen Sie mich auf mein Thema zurückkommen. Der nächste Konflikt auf der Erde...«

»Immer vorausgesetzt, er findet statt«, unterbrach ihn Major Santana.

Stirnrunzelnd betrachtete ihn Professor Coulson ein paar Sekunden lang, ehe er meinte: »Er findet statt. Verlassen Sie sich darauf. Und es wird das biblische Armageddon sein, ein Weltenbrand, der die Menschheit hinwegfegt.«

»Übertreiben Sie da nicht ein wenig, Professor?«, warf Conroy ein.

»Keineswegs. Ich untertreibe eher. – In spätestens hundert Jahren wird der ökologische GAU die Erde zu einem Tollhaus machen. Werden neunzig Prozent der Menschheit vor dem Nichts stehen. Schon jetzt werden in den Netzwerken der Regierungsstaaten Simulationsszenarios durchgespielt, wie man den jeweiligen Rest der Weltbevölkerung in einem Offensivschlag nie gekannten Umfanges dezimieren könnte, um mit den verbleibenden Ressourcen der kollabierten Erde in der Tiefe des verseuchten und inzwischen vermutlich durch den radioaktiven und chemischen Fallout unbewohnbar gewordenen Planeten so lange überleben zu können, bis ein effizienter und schnell verfügbarer Weg gefunden wäre, in den Weltraum auszuwandern. Wie gesagt, noch sind es mögliche Szenarien.« Er wandte sich direkt an Conroy und fragte: »Was würden Sie als das augenblicklich brennendste globale Problem ansehen – die zur Neige gehenden Energievorräte auf der Erde?«

»Richtig, Professor.«

»Falsch, Herr Oberleutnant. Die Energieverknappung ist keine wirkliche, sondern eine Folge des wirtschaftlichen Gefälles zwischen den superreichen Staaten und den in Armut und Elend verharrenden Nationen. Nach dem letzten Zensus werden in den nächsten zwanzig Jahren schätzungsweise 900 Millionen Menschen in absoluter Armut leben, überwiegend in den unterentwickelten Ländern, wo auch sonst! Bereits heute leben nach FSA-Schätzungen 1,8 Milliarden Menschen weltweit von weniger als einem Credit am Tag. Trotz vieler globaler Kampagnen zur Armutsbekämpfung. Nein, nein. Es gibt de facto keine Energieverknappung auf der Erde, trotz der fehlenden fossilen Brennstoffe. Die Fusionsreaktortechnik ist längst ausgereift – nur eben für all die erwähnten Länder und Nationen nicht verfügbar, weil nicht bezahlbar! Weshalb sich an ihrem Elend auch nichts ändern wird. Heerscharen hungriger, durstiger oder frierender Bewohner der Problemzonen werden auch noch das letzte bisschen Grün abholzen und zu Nahrung und Brennmaterial verarbeiten. Die riesigen Slums der Megastädte stoßen schon jetzt mehr Schadstoffe in die Atmosphäre, als alle herkömmlichen Kraftwerke zusammen.

Und trotzdem ist das brennendste globale Problem nicht die Energiekrise. Die kommt erst an zweiter Stelle. An erster Stelle steht der Wettlauf in der Raumforschung.«

»Professor Coulson ist Vorsitzender des FSA-Raumforschungsprogramms«, erklärte Oberst Sheehy und übernahm die Initiative, »und war im Auswahlgremium von Basis Alpha. Er ist mit einer äußerst brisanten Information an uns herangetreten. Aber darüber später mehr. Wie gesagt, der Wettlauf in der Raumforschung beherrscht die Regierungen der Welt. Und die Tatsache, dass wir eine Mondkolonie unterhalten und unsere Fühler bereits nach den äußeren Asteroidengürteln ausstrecken, bereitet unseren Freunden vom Eurasischen Commonwealth unter Zar Phönix Fjodor Zakitin I. einige Sorgen. Wir holen ihren Vorsprung auf, den sie mit der Errichtung der Marskolonie besitzen, und sie wissen es.«

»Können sie denn etwas dagegen tun?«

Oberst Sheehy nickte. »Ja, es zeichnete sich da eine Möglichkeit ab, an der sie schon verdammt lange arbeiten. Aber darum geht es eigentlich nicht. Worum es wirklich geht, das kann Ihnen Professor Coulson besser erklären. Er ist schließlich der Fachmann. Bitte, Professor!«

Coulson nahm die altmodische Brille ab – offensichtlich hatte er etwas gegen visuelle Implantate – und begann sie bedächtig mit einem Stück weichen Leder, das er aus der Brusttasche gezogen hatte, zu polieren.

»Das Hauptproblem von Reisen zu fernen Systemen ist nach wie vor der Antrieb, meine Herren. Wenn es um den Flugverkehr zum Mond und um die Überwindung noch weiterer Entfernungen innerhalb unseres Systems geht – Mars, Asteroidengürtel, Saturnmonde – ist das von den russischen Wissenschaftlern ursprünglich entwickelte und zur Serienreife gebrachte Ionentriebwerk ausreichend. Geht es aber um Reisen zu den nächsten Sonnensystemen, ist die Konstruktion größerer und effizienterer Ionentriebwerke keine hinreichende Lösung des Problems.«

»Das Eurasische Commonwealth hat also einen anderen Weg gefunden?«

Coulson schüttelte den Kopf.

»Noch nicht. Aber ich vermute, dass sie der richtigen Lösung schon auf der Spur waren.«

»Waren?«

Ohne auf Conroys Frage einzugehen, fuhr Coulson fort: »Seit 2056 experimentierten die beo-russischen Wissenschaftler zusammen mit deutschen und britischen Kapazitäten der Astrophysik sowie Mathematik an einem Projekt, mit der Energie der Sterne den Raum zu krümmen und diese Krümmung unmittelbar als Antriebselement auszunutzen.«

»Das klingt aber stark nach Science Fiction«, meinte Conroy.

»Wenn es nur so wäre, Oberleutnant«, sagte Coulson ernst. »Tatsächlich handelt es sich um harte Fakten. In Russland wurde schon länger in diese Richtung geforscht. Und zwar höchst intensiv. Doch rasch stellte sich heraus, dass die Entwicklungskosten eines vernünftigen Raumkrümmungsantriebs die finanziellen Möglichkeiten des gesamten beo-russischen Staatengebildes und der damaligen Europäischen Union sprengen würde. Also nahm man, vermutlich zähneknirschend und mit allen Vorbehalten, Kontakt zu den anderen Staaten auf, um die Entwicklung dieses Antriebs einem internationalen Konsortium zu übertragen. Da auch China und die meisten südostasiatischen Länder Interesse zeigten, einigte man sich darauf, die Forschungsstation im Kaschmirgebirge zu errichten, weitab von jeder Zivilisation, geschützt von gewaltigen Gebirgszügen. Man nannte den geheimen Laborkomplex ›Basis Alpha‹, von A wie Anfang, und das ganze Projekt lief unter der Bezeichnung ›Geheimprojekt Exodus‹, wegen des Ziels, das dahinterstand, nämlich die Möglichkeit, zu den Sternen auszuwandern, sollte die Erde unbewohnbar werden. Ich hatte damals maßgeblich mit der Auswahl unserer Wissenschaftler für Basis Alpha zu tun, deshalb bin ich mit den Interna vertraut. Seit zwanzig Jahren forscht und arbeitet eine Gruppe internationaler Wissenschaftler an dem Projekt Exodus. Führende Männer und Frauen der Gravitonik, der Nichteuklidischen Geometrie und der Teilchen- sowie der Astrophysik arbeiten an einer praktikablen Lösung des Problems, wie man den Raum verändern könnte, um ohne nennenswerten Zeitverzug von einem Sternensystem zum anderen zu gelangen.«

»Und?« Morton Conroy lehnte sich vor. »Hat man eine Lösung gefunden?«

Coulsons Brille schien endlich sauber. Er hielt sie prüfend gegen das Licht, ehe er sie aufsetzte.

»Wir glauben es«, sagte er. »Darf ich Sie vielleicht an dieser Stelle mit ein paar technischen Bemerkungen belästigen?«

»Nur zu«, nickte Conroy.

»Ich weiß nicht, welche Kenntnisse von der Materie der Mathematik ich bei Ihnen voraussetzen darf, Oberleutnant, aber sicher ist Ihnen die Einsteinsche Formel bekannt, nach der Materie nichts anderes ist als eine Erscheinungsform der Energie?«

»E = mc2«, zitierte Morton Conroy. »Noch kann ich Ihnen folgen, Professor Coulson«

Coulson fuhr lächelnd fort: »Unter den britischen Wissenschaftlern war auch Chris Auborn, den ich für den bedeutendsten Mathematiker aller Zeiten halte.«

Conroy zog die Stirn in Falten. »Den Namen habe ich doch schon einmal gehört.«

»Vermutlich. Chris hat in seiner Zeit als Kadett an der Militärakademie – noch ehe er sich der Mathematik zuwandte – ein paar wehrtechnische Abhandlungen veröffentlicht, die, wie's scheint, noch immer zur Standardlektüre angehender Offiziersanwärter gehören. Bekannter jedoch ist seine vielbeachtete Doktorarbeit, in der er den Nachweis erbrachte, dass Energie nur eine andere Erscheinungsform des Raumes ist. Bei seiner Beweisführung handelte es sich um eine äußerst gewagte Extrapolation der Nichteuklidischen Geometrie, die nicht weniger revolutionär war als damals Einsteins Relativitätstheorie.«

»Jetzt muss ich passen«, gab Conroy zu.

»Machen Sie sich nichts daraus«, meinte Coulson. »Es geht nicht nur Ihnen so. Auborns Theorie war so kompliziert, dass es seinerzeit wahrscheinlich nur zehn Gehirne auf der Erde gab, die sie begreifen konnten. Deshalb geriet sie nach anfänglichem Interesse in den akademischen Kreisen der Universitäten und Lehranstalten auch folgerichtig wieder in Vergessenheit. Es war eben nur reine Theorie ohne nachvollziehbare praktische Anwendungsmöglichkeiten.«

»Wenn ich Sie recht verstehe, kommt jetzt der springende Punkt. Oder wie sonst soll ich Ihre Darlegung verstehen?«

Coulson nickte.

»Ich hatte einmal Kontakt mit ihm, als es darum ging, unsere Wissenschaftler für die Station auszusuchen. Dabei erwähnte er so nebenbei, dass er jetzt die Lösung seines Problems gefunden habe.«

Conroy beugte sich vor. »Wollen Sie damit andeuten, er kann beweisen, dass man den Raum verändern kann?«

»Exakt. Der Raum, nach Auborns Worten, ist manipulierbar geworden, bis er sich in ein Feld reiner Energie verwandelt.«

»Und das ist so wichtig?«

»Wichtig? Oh, mein junger Freund!« Der Professor schüttelte nachsichtig den Kopf. »Damit verweist Auborns Formel die heutige Nuklearphysik in die Steinzeit der Wissenschaft. Praktisch gesehen, eröffnet er damit unserer und allen kommenden Generationen völlig neue Perspektiven für die stellare Raumfahrt. Raumschiffe wären dadurch in der Lage, den Raum zu krümmen und die dafür notwendige Energie aus dem gleichen Medium beziehen.«

»Unglaublich, ganz unglaublich!«, murmelte Major Angus Santana. »Und weshalb ist diese universelle Formel bis auf einige wenige niemandem bekannt?«

»Lassen Sie mich raten«, warf Conroy ein, »sie hat Basis Alpha noch gar nicht verlassen. Richtig?«

Professor Coulson atmete tief ein, schloss die Augen und fuhr sich langsam über die Stirn. »Eine merkwürdige Geschichte«, murmelte er wie abwesend. »Der Weltwirtschaftscrash zeichnete sich zu jenem Zeitpunkt bereits ab. Unmittelbar nachdem ich von Chris' Ergebnissen erfahren hatte, riss mit einem Mal die Verbindung zur Basis ab. Und in den Wirren nach dem großen Kollaps hieß es, der Laborkomplex sei völlig zerstört worden. Wie es geschehen war und wer dafür verantwortlich zeichnete...« Professor Coulson hob die Schultern und ließ sie langsam wieder sinken. »Die auf der Erde entbrennenden Kriege, vor allem die um die Ölreserven und die moldawischen Aufstände sowie die daraus resultierende Abschottung der Staatengebilde voneinander ließen es nicht zu, den Wahrheitsgehalt dieser Informationen zu überprüfen. Und nach dem Ende der schrecklichen Kampfhandlungen hatte sich das politische Bild der Erde gewaltig verändert, wie Sie ja alle selbst wissen. Die Regierungen der drei großen Blöcke haben im Augenblick andere Sorgen, wie's scheint, als sich um eine Forschungsstation zu kümmern. Wir versuchten natürlich, den Kontakt wiederherzustellen, aber der Pan-Pazifische Block, in dessen Einflussbereich die Station liegt und der von den Chinesen dominiert wird, hat bis jetzt ablehnend reagiert. Er begründet sein Nein zu einer Kontaktaufnahme unsererseits und einer möglichen Rettungsexpedition mit Rebellenaufständen. Das ganze Gebiet wurde von den Chikoms zur verbotenen Zone deklariert, zu der Zivilisten keinen Zutritt bekommen, da ständig mit Kampfhandlungen gerechnet werden müsse. Außerdem, so ließ der für den Abschnitt zuständige Militärgouverneur verlauten, sei Basis Alpha tatsächlich zerstört.«

»Was sagt ›Watchdog‹ dazu?«, warf Angus Santana ein.

»Die FSA-Satellitenüberwachung identifizierte den Komplex mit 99,4prozentiger Wahrscheinlichkeit an der Stelle, an der er errichtet worden ist«, antwortete Oberst Sheehy an Coulsons Stelle.

»Ließen sich Schäden feststellen?«

»Wie denn?«, übernahm der Professor wieder das Wort. »Der sichtbare Teil von Basis Alpha ist ein kreisförmiger Bau von nicht mehr als fünfzig Meter im Durchmesser. Vom Umfeld selbst erhebt sich das Gebäude kaum mehr als drei Meter; es ist nichts anderes der Zugang zum Komplex, das obere Ende des Zentralschachtes. Die Forschungsstation selbst liegt unter der Erde. Wie weit sie sich heute in die Tiefe erstreckt, kann nicht mit Bestimmtheit festgestellt werden, da vermutlich Umbauten stattgefunden haben. Als sie errichtet wurde, führte der Schacht von der Kuppel aus 200 Meter weit hinab. Ab der 50-Meter-Marke war er von insgesamt zwanzig ringförmigen Ebenen umgeben. Dichtemessungen durch ›Watchdog‹ haben ergeben, dass zumindest Wohn- und Arbeitsräume intakt sein müssen. Aber was sich in Wahrheit dort abgespielt haben könnte, ließ sich so nicht nachprüfen.«

»Gibt es denn keine andere Möglichkeit«, erkundigte sich Conroy, »herauszufinden, ob Basis Alpha tatsächlich zerstört worden ist?«

Sheehy nickte.

»Die gibt es«, sagte er bedeutungsschwer. »Wir wissen durch bestimmte Informationen, die wir kürzlich bekommen haben, dass der Laborkomplex intakt ist und die Mitglieder der geheimen Forschungsgruppe noch arbeiten. Allerdings steht das Labor jetzt unter der Kontrolle des Pan-Pazifischen Blocks beziehungsweise der Chinesen, die einen dichten Kordon um das Gebiet gezogen haben.«

»Wie gelangten Sie zu diesem Wissen?«

»Über einen Waffenschieber und Abenteurer namens Ray Haan. Der hatte vor vierzehn Tagen in der kleinen Stadt Tschangu, etwa zweihundertfünfzig Kilometer nordöstlich von Kaschmir, einen jungen, schwerverletzten Tibetaner vom Stamm der Dolpo-Pa aufgelesen. Er flog ihn mit seinem Lastenhover zurück nach Schrinagar ins Hospital und rettete ihm vermutlich das Leben. Unser dortiger Kontakt, der sich Haans Können und Wissen manchmal zunutze macht, hat sich um den jungen Mann gekümmert. Der Dolpo-Pa konnte nicht nur mit Informationen über den augenblicklichen Stand der Dinge in Tibet dienen, sondern hatte auch eine Nachricht für Professor Coulson. Diese Nachricht stammte von Chris Auborn.«

»Wie gelangte der Dolpo-Pa daran?«, fragte Conroy, der langsam zu ahnen begann, welcher Job ihn erwartete.

»Es muss Auborn gelungen sein, die Nachricht über einen der Zulieferer herauszuschmuggeln, die von den Chinesen für die Versorgung des Laborkomplexes eingesetzt werden.«

»Welche Nachricht? Und warum gerade an Sie?«, wandte sich Conroy an den Professor.

»Chris Auborn und ich haben zusammen studiert und während dieser Zeit so manchen Streich ausgeheckt, bis wir uns aus den Augen verloren. Während ich eine militärische Laufbahn einschlug, ging Chris zurück nach England und arbeitete in der Forschung.«

Professor Coulson seufzte nachdenklich. »Er ist wirklich einer der großen Köpfe dieses Jahrhunderts, Oberleutnant Conroy.«

»Kann man den Inhalt der Mitteilung erfahren?«

»Sie ist sehr persönlich«, meinte Coulson. »Sie enthält nichts darüber, an was in Basis Alpha gearbeitet wird.«

»Aber was ist dann so interessant an dieser Nachricht?«

»Verstehen Sie nicht?« Oberst Sheehy lehnte sich vor. »Sie ist von ungeheurer Brisanz. Denn jetzt wissen wir definitiv, dass der Laborkomplex in Betrieb ist und die Wissenschaftler offenbar Gefangene des Pan-Pazifischen Blocks sind, zumindest unsere Leute.« Er schwieg einen Moment, ehe er fortfuhr: »Sie, Oberleutnant, haben sich während der russisch-chinesischen Aufstände wochenlang im Hochland von Tibet aufgehalten. Sie kennen das Terrain. Sie kennen die Sprache. Sie werden in Basis Alpha eindringen und herausfinden, was dort tatsächlich vor sich geht. Von unseren Agenten sind Sie vermutlich der einzige, der diese Aufgabe schaffen könnte.«

»Das klingt alles recht schmeichelhaft«, erwiderte Conroy. »Aber wie in drei Teufels Namen ich dieses Kunststück fertigbringen soll, ist mir noch schleierhaft.«

»Darüber haben wir uns, wie Sie sich bestimmt denken können, schon längere Zeit Gedanken gemacht. Die entsprechenden Vorbereitungen waren schon für Brett Foss getroffen worden. Sie übernehmen jetzt an seiner Stelle.« Oberst Sheehy tastete eine Kontrolle auf seinem Schreibtisch.

Die Luft flimmerte.

Eine topographische Landkarte erschien zwischen den Männern.

»Sehen Sie her, Oberleutnant! Das ist die fragliche Gegend: Kaschmir und das westliche Tibet.« Sheehy berührte das Holo, und eine Ausschnittvergrößerung hob sich daraus empor. »Tschangu liegt ungefähr zweihundertfünfzig Kilometer von der ehemaligen Grenze entfernt. Hier«, der Oberst berührte wieder das Holo, und der Ausschnitt wurde erneut kleiner, »kaum neunzig Kilometer hinter dieser Grenze, liegt das tibetanische Dorf Lhakpa. Unser Kontakt teilte uns in seinem gestrigen Bericht mit, dass nach Angabe des jungen Dolpo-Pa die Herrschaft der Chinesen über diese Gegend nur auf dem Papier besteht. Weiter sagte er aus, dass sich in einem Kloster bei Lhakpa ein Widerstandszentrum der Rebellen befinde. Wenn wir Sie dorthin schaffen können, dann besitzen Sie wenigstens eine Operationsbasis. Ab dem Kloster sind Sie allerdings auf sich allein gestellt.«

»Das kommt mir irgendwie bekannt vor«, versetzte Conroy trocken.

Sheehy runzelte die Stirn, während Major Santana ein Grinsen nicht verbergen konnte.

»Zwei Fragen«, fuhr Conroy fort. »Erstens: Wie komme ich hinein? Zweitens: Was habe ich zu tun, damit die Rebellen mich unterstützen?«

»Soweit ist schon alles vorbereitet«, erklärte der Oberst. »Unser Kontakt in Schrinagar hat dafür gesorgt, dass der Dolpo-Pa Sie zum Kloster begleiten wird.«

»Auf welchem Weg?«

»Man wird Sie hinfliegen.«

»Glauben Sie, das wird von Kaschmir aus gehen? Das Ladakh-Gebirge ist verflucht hoch. Wer traut sich da rüber?«

Jetzt war es an Sheehy, Belustigung zu zeigen. »Ray Haan natürlich, der Waffenschmuggler. Er hat in der Nähe von Thilen eine Startbasis, wo seine Maschinen untergebracht sind. Von dort aus sind es nur noch hundertsechzig oder hundertachtzig Kilometer bis nach Tibet hinein. Wir haben ihm Zehntausend dafür geboten, dass er Sie in der Nähe des Klosters von Lhakpa absetzt, und weitere Zehntausend, wenn er Sie zu einem von Ihnen noch zu bestimmenden Zeitpunkt wieder abholt. Und die Rebellen werden Ihnen insofern vertrauen, weil der Dolpo-Pa bei Ihnen ist. Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich glaube, er ist so etwas wie ein Adeliger unter den Tibetanern.«

»Dieser Haan. Ist er der Meinung, dass er es schaffen wird?«

Sheehy nickte. »Er sagt, dass es zu machen ist.«

»Und wo genau liegt Basis Alpha?«

»Noch einmal etwa fünfzig Kilometer weiter im Westen, in einem unzugänglichen Hochtal. Der einzige Pass, der hineinführt, wird von starken Einheiten der Chikoms abgeschirmt, wie wir von der Satellitenüberwachung wissen. Außerdem finden in der ganzen Gegend ständig Manöver statt, angeblich wegen der Rebellen. Natürlich dienen die nur zur bequemen Vertuschung des wahren Sachverhalts.«

»Kann ich die Basis mal sehen?«, bat Conroy.

Das Holo geriet erneut in Bewegung. Immer wieder hoben sich Vergrößerungen hervor, drehten sich, dehnten sich aus und wurden durch neue ersetzt. Es war wie eine Kamerafahrt aus dem Weltraum hinab in das Hochtal.

Dann war keine weitere Vergrößerung mehr möglich.

Conroy runzelte die Brauen.

Das Standbild zeigte ein Areal von etwa zwei mal zwei Kilometern, eingerahmt von hohen Bergen, die das schon über Alpengipfelniveau liegende Tal noch einmal um zwei- bis dreitausend Meter überragten.

Nachdenklich blickte er auf die Holographie.

Auf dem virtuellen Talgrund umrahmten mehrere konzentrische Energiezäune das Forschungslabor, vielmehr das, was davon an der Oberfläche zu sehen war.

»Schwierig, da reinzukommen. Die Berge scheinen unüberwindlich. Und es über den Pass zu versuchen, dazu müsste ich unsichtbar sein. Na, mal sehen. Wahrscheinlich werde ich eine gute Portion Glück mitbringen müssen«, murrte Conroy verdrossen, ohne es jedoch ernst zu meinen.

Sheehy nickte wieder. »So wird's wohl sein!« Er berührte mit dem Zeigefinger die linke obere Ecke der virtuellen Karte.

Der Computer zog das Holo wieder ein.

»Wann geht es los?«, fragte Conroy.

»Heute Abend noch bringt Sie ein Interkont-Shuttle nach Delhi. Von dort aus können Sie einen Hovercarrier nach Kaschmir bekommen. Damit wäre wohl alles besprochen.« Er stand auf und fuhr fort: »Halten Sie sich an den Major. Er hat alles für Ihre Legende vorbereitet. Lassen Sie sich die Unterlagen aushändigen und lernen Sie sie auswendig. Er wird sich auch um Ihre Ausrüstung kümmern. Viel Glück, Conroy. Und – enttäuschen Sie mich nicht.«

Morton verzichtete darauf, auf diese Floskel eine Antwort zu geben.

Es ist immer das gleiche, dachte er. Irgendwer baut Scheiße, und ein anderer bringt diese Scheiße wieder in Ordnung. So funktioniert die Welt! Ob diese Prämisse auch fürs übrige Universum zutrifft?

An der Tür wandte er sich noch einmal um.

»Eine letzte Frage, Sir! Wieviel weiß dieser Ray Haan über mich, über diese Aktion?«

Oberst Sheehy starrte für mehrere Sekunden ins Leere. »Nichts«, antwortete er dann. »Für ihn sind Sie nichts weiter als ein verrückter, weil offensichtlich lebensmüder Ethnologe, der sich für das archaische Leben der tibetanischen Bergmönche interessiert und sich den Teufel um die brisante Lage in dieser Region schert.«

Sechs utopische Thriller

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