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Ein Steinadler kreist majestätisch über dem Gipfel des Teufelskopfs.

Ich reiße die Arme nach oben, öffne die Hände und schaue den Schnipseln meines Textes hinterher.

Briefe, unter Tränen geschrieben. Briefe, die nie abgeschickt wurden. Nun tanzen sie ihren letzten Walzer im Wind und schweben einen Augenblick später ins Tal. Es hat sich ausgetanzt.

Der Januarwind bläst eisig in dieser Höhe, und ich ziehe die Daunenjacke noch enger zusammen.

Ich fühle mich gut. Leer, aber gut. Dafür bin ich dankbar.

»Sofia! Wir sollten aufbrechen.« Gerrit zeigt nach oben. Eine dunkelgraue Wolkendecke schiebt sich wie eine Schieferplatte über den Himmel. »Komme gleich!« Ich greife zur Kamera, die an meinem Hals baumelt und folge der Flugbahn des Adlers, einem männlichen Prachtexemplar mit einer Spannweite von schätzungsweise zwei Metern. »Du bist beneidenswert, Freundchen. Frei, obwohl du in Einehe lebst, bis zu deinem Ende.« Ich verstaue die Kamera im Rucksack und kehre zu Gerrit zurück.

Der Himmel über uns grollt, trotzdem gönnen wir uns während des Abstiegs eine zehnminütige Rast und vespern kräftiges Roggenbrot mit handgemachtem Almkäse.

Nach guten fünf Stunden sind wir im Tal und verfrachten die Schneeschuhe, Steighilfen und Rucksäcke auf der Ladefläche des Pick-ups. Gerrit verlässt den Parkplatz des Wintergeheges im Nationalpark, um mich ins Hotel zu bringen, das nur ein paar Kilometer von Berchtesgaden entfernt liegt.

»Mit etwas Glück hätten Sie in zwei Wochen einen Girlandenflug filmen können, da ist die Balz in vollem Gange.«

»Eigentlich wollte ich nur etwas loswerden. Die Bilder sind quasi Zugabe.«

»Verstehe.« Gerrit nickt. »Meistens sind es ganz andere Dinge, die einen umtreiben. Wenn ich einen freien Kopf will, geh ich auch immer auf den Berg.«

»Steht es mir so sehr auf der Stirn geschrieben?«

»Das nicht, aber ich kenne Sie jetzt schon seit … seit fünf Jahren?« Er wirft mir einen fragenden Blick zu. »Außerdem hab ich ’nen recht guten Instinkt.«

Der hölzerne Adler an seinem Rückspiegel baumelt hin und her, als Gerrit über die Bahngleise fährt und links in die Weidestraße abbiegt, die kontinuierlich ansteigt. Auf der Anhöhe liegt das Hotel ›Morgenröte‹ mit herrlichem Ausblick auf das Tal. Gerrit lenkt den Pick-up auf den Parkplatz. »Da wären wir. Morgen um sieben?«

»Das ist okay.« Ich steige aus und nehme meinen Rucksack von der Ladefläche. Nachdem Gerrit vom Platz gefahren ist, atme ich einmal durch. Ich habe das Gefühl, einen Abschluss gefunden zu haben – einen Fehler getilgt.


»Gleis drei«, sagt Gerrit, löst seinen Blick von der Anzeigetafel und eilt mit meinem Koffer davon.

Der Zug ist bereits eingefahren.

»Vielen Dank für alles.« Ich reiche ihm zum Abschied die Hand.

»Bevor Sie gehen – ich hab da noch was.« Er zieht den Reißverschluss seiner Jacke auf und schiebt seine Hand hinein. Mit der Feder eines Adlers kommt sie wieder zum Vorschein. Er streckt sie mir hin, wie eine Blume.

»Eine Stoßfeder?«

»Sie verleiht Kraft.«

»Aber die kann ich unmöglich annehmen.«

»Doch. Wenn Sie es nicht tun, bin ich beleidigt und Sie werden nie wieder eine Führung von mir bekommen. Darauf gebe ich Ihnen mein wildes Ehrenwort.« Gerrit drückt seine Augen aus den Höhlen. »Nie. Wieder.«

Mit einem Anflug von Ehrfurcht ergreife ich die kostbare Feder an ihrem Kiel.

»Außerdem hätte ich gern eine Einladung zu Ihrer nächsten Ausstellung.«

»Wir stellen nur in der Mühle aus, aber falls doch einmal etwas Größeres geplant wird, werden Sie und Ihre Freundin die Ersten sein, die ich einlade. Großes Ehrenwort.« Ich drehe mich nach der Bahnhofsuhr um. »Es wird Zeit. Vielen Dank nochmal für alles.«

»Similia similibus curentur. Ähnliches durch Ähnliches heilen.«

Hat Fred das nicht auch einmal gesagt? »Ist das nicht das Motto der Homöopathie?«

»So ist es.« Er legt die Hand auf seine Brust. »Das gilt für alles.«

»Ich werde dran arbeiten.«


»Darf ich?«

Ich löse meinen Blick von der schneeweißen Landschaft, die am Fenster vorbeizieht, und schaue in ein gebräuntes Gesicht, aus dem mich zwei blaue Augen anstrahlen. Sie glitzern wie die Oberfläche eines Eissees an einem sonnigen Wintertag. Der Besitzer dieser Augen sieht in seinem Tweed-Sakko und der Fliege am Hemdkragen wie ein zu junger Professor aus.

»Natürlich«, antworte ich.

Der Pseudoprofessor hievt seine abgewetzte Lederreisetasche auf die Gepäckablage und nimmt mir gegenüber Platz. »Als Geologe bin ich es gewohnt, bei jedem Wetter draußen zu sein, aber es ist schon verflucht kalt.« Er reibt sich die Hände und streckt mir eine davon entgegen. »Larson Lindqvist.«

»Sofia Sanders.«

»Und ich weiß, woran Sie jetzt denken.«

Verblüfft schaue ich ihn an.

»An Schokolade, nicht wahr?« Er lässt meine Hand los, und ich muss lächeln, denn er hat recht.

Und ich weiß, woran Sie denken, Herr Lindqvist. Ich lehne mich wieder in den Sitz zurück und ziehe das Handy aus meiner Handtasche, um mir noch einmal die Bilder des ersten Tages anzuschauen. Die Kinder werden sich freuen.

Ein anderer Zug rast an uns vorbei und ich schrecke zusammen.

»Frau Sanders, haben Sie mich nicht gehört?«

»Sorry, haben Sie etwas gesagt?«

»Allerdings. Was führt Sie hierher? Geschäft oder Vergnügen, wenn ich fragen darf?«

»Beides. Meine Arbeit ist für mich Vergnügen.«

»Sind Sie in der Touristikbranche?«

Ich überlege, wie ich antworten soll, denn ich bin mir nicht sicher, ob ich dieses oder überhaupt ein Gespräch führen will. »Nein. Ich bin Töpferin. Ich fertige Skulpturen, hauptsächlich Greifvögel, vor allem aber Adler.«

»Kunsthandwerk, interessant. Mhm. Und Ihr Mann lässt Sie hier in der Wildnis ganz allein herumspringen?«

Jetzt weiß ich, dass ich dieses Gespräch nicht führen will, und schwenke den Blick hinaus auf die Landschaft.

»Entschuldigung, ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten.« Er korrigiert die Position seiner Fliege.

Abermals greife ich in die Handtasche, diesmal aus purer Verlegenheit, und ziehe den ausgedruckten Fahrplan heraus: Noch vier Stunden bis Stuttgart, ohne umsteigen.

Stille breitet sich im Abteil aus, und wo immer ich auch hinschaue, fühle ich seine Blicke wie heiße Strahler auf mir. Auf meinem Gesicht, meinen Brüsten, meinen Knien und dazwischen.

Durch die Lautsprecher wird Prien am Chiemsee angesagt und kurz darauf beginnt der Eurocity mit dem Bremsmanöver.

»Oh! Hier muss ich umsteigen!« Ich schieße wie eine Rakete hoch und stoße dabei meine Handtasche vom Sitz. Der gesamte Inhalt purzelt auf den Boden: Lippenstift, ein kleiner Kosmetikspiegel, Geldbörse, Handgel zum Desinfizieren und meine Hausschlüssel.

Sofort ist der Prof neben mir auf den Knien und recht mit den Fingern meine Sachen zusammen.

»Danke«, nuschle ich und stopfe alles zurück in die Tasche. »Und noch eine gute Reise, Herr Lindqvist.« Ich stehe auf und nehme meine Jacke vom Haken.

»Haben Sie nicht etwas vergessen?« Er greift mit der Hand an mir vorbei und präsentiert mir mein Handy. »Sie könnten es hier vergessen haben, und ich würde mich in drei Tagen mit Ihnen treffen, um es Ihnen wiederzugeben.«

Als ich es nehmen will, zieht er seine Hand zurück und fixiert mich. »Manche Begegnungen sind zu kostbar, um sie achtlos liegen zu lassen. Ich denke, diese gehört dazu.«

»Guter Einfall, sehr kreativ.« Ich nehme das Handy, als würden Flammen daran züngeln. »Gefällt mir, aber heute nicht, vielen Dank.« Und auch morgen und übermorgen nicht.

Seine Augen verdunkeln sich.

Ich beiße die Zähne zusammen und flüchte aus dem Abteil, durch den Speisewagen und drei weiteren Waggons, bis ich schließlich ein leeres Abteil in der zweiten Klasse gefunden habe. Ich dränge mich in die Ecke des Sitzes, atme tief durch und schließe die Augen.

Den wärmenden Sonnenstrahlen auf meinem Gesicht verdanke ich es einzunicken, obwohl ich mich in die entgegengesetzte Fahrtrichtung gesetzt habe. Ich sehe die Schnipsel im Wind tanzen. Ja, es hat sich ausgetanzt und es fühlt sich an wie kostbare Freiheit.


Mit nur wenigen Minuten Verspätung erreicht der Zug den Stuttgarter Hauptbahnhof, die zweitgrößte Baustelle Deutschlands. Ich begebe mich zum Taxistand auf der Ostseite des Gebäudes.

Die Taxifahrer sind alle mehr oder weniger stark mit ihren Handys beschäftigt. Nur einer lehnt lässig an seinem Mercedes wie ein Cowboy vor einem Saloon und stößt Rauchwolken aus.

Mein Handy klingelt und auf dem Display grinst mich Charlotte an. Ich streiche über das grüne Hörersymbol.

»Wir müssen reden. Hier ist eben eine halbe Tonne Ton geliefert worden. Die Bestellung kam von dir!«

»Vielen Dank! Ich hatte eine gute Reise. Und wie geht’s dir?«

»Mach keine Witze!«

»Es ist durchaus möglich, dass mir ein klitzekleines Fehlerchen unterlaufen ist.«

Sie ächzt. »Wann kommst du?«

»Heute nicht mehr. Mach dir keine Sorgen. Ich lasse es wieder abholen.«

Charlotte schweigt, und ich füge hinzu: »Dann lass ich es zu den Ställen bringen, die sind doch als Lager gut geeignet.«

»Mhm. Die Idee ist gar nicht so blöd. Okay. Wie war deine Reise?«

»Scherzkeksin. Wir sehen uns morgen Nachmittag.« Ich lege auf.

»Wohin darf ich Sie bringen?« Der Taxifahrer nimmt einen tiefen Zug von seiner Zigarette, die er zwischen Daumen und Zeigefinger hält, lässt sie fallen und tritt sie mit der Spitze seines Cowboystiefels aus.

»Nach Waldenbuch, bitte.«

Während er meine Reisetasche im Kofferraum verstaut, steige ich ein und schmiege mich in den beheizten Sitz. Im Wageninnern riecht es nach Orange und Leder, bis sich der Cowboy mitsamt seiner Duftwolke aus Zigarettenrauch und herbem Aftershave hinters Steuer setzt. Er legt seine Fingerspitzen auf den Zündschlüssel und schaut mich an.

»Es liegt ein bisschen versteckt, im Wald. Ihr Navi wird das Signal verlieren, weil wir einen Schleichweg nehmen werden.«

»Das ist Ihre Fahrt, Lady. Sie sagen mir, wo’s langgeht. Und nennen Sie mich doch Wayne. Ich bin ein großer Fan von John Wayne, wissen Sie?« Er schenkt mir ein extra cooles Cowboy-Lächeln.

Einen Kilometer vor dem Ziel verliert das Navigationsgerät das Signal, und ich navigiere Wayne auf der schmalen Straße zwischen schneebestäubten Wiesen hindurch zur Ranch.

Er fährt im Schritttempo durch das Holztor, die schnurgerade Auffahrt entlang. »Wow, das ist ja eine richtige Ranch!« Er hält dicht vor den Treppen der Veranda und reibt seine Fingerknöchel an den Bartstoppeln seines Kinns. »War das nicht mal ein Poloplatz? Wissen Sie, ich interessiere mich sehr für Pferde und alles, was damit zu tun hat.«

»Das ist schon lange her.« Ich lege siebzig Euro auf die Konsole. »Stimmt so.«

»Oh! Vielen Dank! Warten Sie, ich helfe Ihnen mit dem Gepäck.«

Wayne holt die Reisetasche aus dem Kofferraum und hechtet die vier Verandastufen nach oben. Es sieht tatsächlich so aus, als würde er galoppieren. An der letzten Stufe stolpert er beinahe.

»Tut mir leid«, rufe ich ihm zu, »die oberste Stufe ist ein bisschen höher.«

»Kein Problem.« Er trippelt auf der Stelle hin und her, und es hat den Anschein, als wolle er noch etwas sagen, aber er horcht nur auf, denn hinter der Haustüre hört man Rammstein grölen. Er lupft einen imaginären Hut und grinst über das ganze Gesicht. »Einen schönen Tag noch, Ma'am.« Mit einem Satz hopst er die Stufen hinunter, steigt in seinen Wagen und braust davon.

Ich drücke die Klingel. Rammstein verstummt und Fred steckt seinen Kopf heraus. »Hi Mom, hast du deine Schlüssel verloren? Aber ich hab noch nicht aufgeräumt. Musste lernen. War die Reise gut?« Er lässt mich ein und huscht davon.

Ich hänge meine Daunenjacke in der Garderobe auf und schleiche durch die Diele, als würde ein Unheil auf mich warten.

Fred ist in der Küche und räumt in aller Eile die Teller in die Spülmaschine.

»Warum trägst du Badeschlappen?«

»Das sind Spezialschuhe, mit Magnetfeldern und Fußreflexgedönse, fördern die Konzentration. Wir schreiben bald eine Arbeit in Physikalische Chemie. Hab total viel gelernt. Deshalb sieht es hier auch so aus.«

»Sonst irgendwelche Vorkommnisse, Katastrophen, von denen ich wissen sollte?« Ich schaue mich nach allen Seiten um und entdecke auf dem Esstisch einen Berg von Zeitschriften und Flugblättern, der bereits die Höhe des Watzmann erreicht hat.

»Nee, alles gut.« Fred hackt das Besteck in den Besteckkorb. »Hast du gesehen, wie sie sich begatten?« Er hält in seinen Bewegungen inne und sieht mich an. »Das Adlerpärchen. Hast du gesehen, wie sie es getrieben haben?«

Ich lache. »Nein, das ist zu früh, aber er ist herrlich gesegelt und ich habe ein paar tolle Aufnahmen machen können.« Ich schlendere zum Esstisch und sichte die Post ohne Begeisterung. »Uff. Wieder eine Einladung von Flemming Stutenberg, und wieder werde ich dankend absagen.«

»Warum? Mach doch mal eine Ausstellung dort. Ich würde dir auch helfen bei der Logistik und so. Ich war noch nie in Amsterdam.« Er flackert mit den Augenbrauen.

»Keine Drogen.«

»Ohne Scheiß, warum lässt du’s nicht mal krachen?«

»Weil ich dieses ganze Tamtam nicht gebrauchen kann. Ich will meinen Frieden. Vielleicht werde ich mit den Kiddies was auf die Beine stellen. Das müsste allerdings von langer Hand geplant werden. Frau Armbruster ist stockkonservativ.«


»Sie sind spät dran, Frau Sanders!«, tönt es tags darauf aus dem schuhkartongroßen Büro.

Der Versuch, mich an ihr vorbeizuschleichen, scheitert kläglich. »Ich hatte Probleme mit der Übertragung der Bilder von –«

Frau Armbruster schaut mich mit übler Montagmorgenlaune an, und ich winke ab. »Also mit der Technik … Entschuldigung.«

»Sie wissen, dass Sie nicht jedes Mal überziehen können.« Die Zungenspitze der Heimleiterin blitzt aus ihrem Mundwinkel hervor wie der Schlangenkopf aus einer Felsritze.

Drei Jahre habe ich gebraucht, ihren bissigen Ton einzuordnen. Er dient als Schutzschild, denn im Innern ihrer Seele ist sie höchst verletzlich, na ja, zumindest nehme ich das an. Außerdem will sie Autorität demonstrieren.

»Frau Sandäääärs!« Die Kinder schreien und klatschen in ihre Händchen, als ich den Werkraum betrete. Die meisten haben schon ihre Schürzen an und hopsen vergnügt im Kreis. Nur Saras Gesicht wirkt trotzig.

»Wir machen heute etwas ganz Neues.« Ich zeige die Bilder sowie eine Videoaufnahme des Adlers. Zwanzig Augen verfolgen seinen Flug.

»So einen werden wir machen, in ganz einfacher Form.« Ich lege das Tablet zur Seite und wickle die Feder aus dem Pergamentpapier. »Das hier ist eine ganz besondere Feder, eine Stoßfeder. Wenn ein Indianer im Kampf sehr mutig war, durfte er so eine in seinem Kopfschmuck haben. Manchmal müssen wir auch kämpfen, wie ein Indianer. Der schlimmste Kampf aber ist immer der, den man gegen sich selbst führt. Zum Glück steckt in jedem von uns ein Adler.«

Mit Riesenaugen schauen sie mich an und ich reiche die Feder herum.

»Wir sind keine quakenden Frösche, nicht wahr?«

»Nein, nein! Keine Frösche, keine Frösche!« Die Kinder jubeln und breiten die Arme aus, hüpfen und quaken.

Es wärmt mir das Herz, sie so ausgelassen zu sehen. »Lasst uns anfangen.« Ich klatsche in die Hände. »Wir haben noch viel zu tun und die Zeit hat auch Flügel, wisst ihr? Immer dann, wenn man sie am meisten braucht, flattert sie davon.«

Es sollte sich bewahrheiten und ich tue genau das, was ich nicht tun sollte, nämlich überziehen.

Ich stecke meinen Kopf, mitsamt schlechtem Gewissen in Frau Armbrusters Büro, um mich rasch zu verabschieden.

»Auf ein Wort, Frau Sanders.« Ihre knochige Stimme geht mir durch Mark und Bein. Mit theatralischem Blick späht sie auf die Uhr an der Wand. »Es ist 12.08 Uhr. Zum einen. Zum anderen: Sie wissen, wie sehr wir Ihr Engagement und Ihre Unterstützung wertschätzen, aber ich bin mir nicht sicher, wie ich Ihre … Ihre Ideen finden soll.« Bei ›Ideen‹ verzieht sie ihren Mund, als würde etwas Ekliges auf ihrer Zunge kleben. »Sie überfordern die Kinder und setzen ihnen Flausen in den Kopf. Dies ist ein Kinderheim und kein Motivationsworkshop.«

»Die Kids brauchen das aber.« Ich richte mich gerade auf. »Stärke und Unabhängigkeit sind tragende Pfeiler in einem Leben, und wie Sie schon angemerkt haben, ist es kein Zuckerschlecken. Man kann nicht früh genug damit beginnen.«

Frau Armbrusters Miene versteinert sich wie üblich, doch der erwartete Widerspruch bleibt diesmal aus. »Auf Wiedersehen, Frau Sanders. Bis nächste Woche.«


Rechts und links von mir wiegen sich die mit Schnee befrachteten Tannenzweige, und das Liliputsträßchen gräbt sich wie ein Korkenzieher in die bewaldete Talsenke zum Kleinod unseres Schaffens: der Zachersmühle. Sie wurde von Charlottes Mann in jahrelanger Kleinarbeit und mit viel Liebe umgebaut.

Charlotte steht in gebeugter Haltung vor der geöffneten Tür des Brennofens. Er steht in der Küche, die dadurch ständig überhitzt ist, im Winter ein durchaus willkommener Nebeneffekt.

Ihre Mähne fällt wie ein üppiger Vorhang vor ihr Profil. Heute keine ›Pocahontas-Zöpfe‹, wie sie diese gerne, trotz blonder Haare, bezeichnet.

»Guten Morgen, meine Liebe. Kann man den Ofen schon ausräumen? Hab zwei Kisten Schrühbrand im Auto, vom Kinderkurs.«

»Hallo. Kann man.« Sie richtet sich auf, und obwohl ich nicht klein bin, überragt sie mich noch um einen halben Kopf. »Wie war deine Exkursion? Ist alles nach Plan gelaufen?«

»Bestens. In zwei Tagen wird übrigens der Ton abgeholt.«

»Hast du auch einen Adler gesehen? Und … hat er dich gesehen?«

»Sehr witzig. Ich hab tolle Bilder gemacht und sogar einen Film, na ja, Filmchen. Aber hier …« Ich greife in meine Handtasche, hole die Holzschatulle heraus und öffne sie.

»Okay? Hast du die von dem Vogel persönlich bekommen oder von einem neuen Verehrer?«

»Gerrit hat sie mir geschenkt.«

Sie schlendert zur Spüle, dreht den Wasserhahn auf und wäscht sich die Hände.

»Der Wildführer, du weißt schon.«

»Wie wild genau ist er eigentlich? Hat er –?«

»Nein. Nein. Nein.« Bei jedem ›Nein‹ schüttle ich den Kopf.

Sie dreht das Wasser ab, nimmt das Handtuch vom Haken und trocknet sich gründlich die Hände. »Aber gegen flirten ist doch nichts einzuwenden, oder willst du dir das jetzt auch noch abgewöhnen?«

»Nein, Charlie, ich will mir gar nichts abgewöhnen, aber für Beziehungskram habe ich weder Nerven noch Zeit. Und nur mal so gefragt: Wann feiert ihr eigentlich silberne Hochzeit? Ich mein ja nur.«

Charlotte tritt ganz nah an mich heran. »Das ist genau der Punkt. Selbst ich flirte mehr als du.«

»Und was soll das bringen?«

»Es ist ein harmloses Spiel. Nett, aber ohne Bedeutung.«

»Nichts ist ohne Bedeutung unter diesem Himmel. Alles, was du tust, zählt. Alles, was du nicht tust, übrigens auch. Vielleicht zählt das sogar noch mehr.«

»Du solltest dringend lockerer werden.«

»Ich bin locker. Sogar sehr locker.«

Charlotte verdreht die Augen und stapft aus der Küche in die Werkstatt, und ich rufe ihr hinterher: »Du findest niemanden, der so locker ist wie ich. Niemanden! Hörst du?«


»Du wirst perfekt werden«, sage ich zu Amonia, und der warme Tonschlicker tropft wie Blut von meinem Finger, hinein in den Spalt zwischen Flügel und Körper. »Der wird nicht mehr abbrechen. Außerdem wirst du noch ein Männchen bekommen, meine Liebe. So ein majestätisches Exemplar, wie ich es auf dem Teufelskopf gesehen habe.«

Entgegen meiner Gewohnheit habe ich Arbeit mit nach Hause genommen. Somit kann ich das Trocknen der Tonschichten überwachen und Sorge tragen, dass der Flügel nicht wieder abbricht.

Ich blicke auf die Uhr: Mist. Hastig decke ich das riesige Adlerweibchen mit Folie ab und wusche ins Bad, um mein Make-up aufzufrischen. Anschließend suche ich mehrere Minuten vergeblich nach dem Autoschlüssel. Fred. Er hat wohl Wagen gekapert und sich über die westliche Veranda herausgeschlichen.

Ich schlüpfe in den gefütterten, sandfarbenen Wildledermantel und die dazu passenden Stiefel und trete hinaus auf die östliche Veranda.

Die Morgensonne lugt gerade über die Baumspitzen und blendet mich. Ich schirme die Augen mit der Hand ab. Keine Spur vom Auto oder von Fred. Ich trappe die Stufen hinunter und überlege, den Rover zu nehmen. Genau in diesem Moment taucht der Skyliner hinter den ehemaligen Ställen auf. Er braust auf mich zu und kommt einen Meter vor meinen Füßen zum Stillstand. Fred streckt den Kopf zum Fenster hinaus und grinst mich frech an.

»Das ist kein Rennwagen«, sage ich, »darüber werden wir uns noch unterhalten.« Natürlich wissen wir beide, dass diese Unterhaltung niemals stattfinden wird. »Steig bitte aus, ich muss los. Hardy hasst Unpünktlichkeit, du kennst ihn doch.«

»Okay, aber bist du wieder da, bevor es dunkel wird?«

»Wohl kaum.« Ich taste nach dem Hebel, um den Sitz zu verstellen und steige ein.

»Schade. Ich wollte noch eine Runde mit Richie drehen.«

»Nehm doch den Rover.«

»Der ist aber langweilig. Willst du deine Handtasche auf dem Dach lassen?« Fred reicht sie mir durch das Fenster. »Und kannst du noch irgendwo Eier und Bananen besorgen? Das hast du gestern vergessen und morgen ist Sonntag. Du weißt schon, damit ich groß und stark werde.« Fred hebt seinen Arm und küsst seinen Bizeps.

»Meinetwegen. Und ich weiß, dass morgen Sonntag ist.«

Der Schnee stiebt hinter mir auf, als ich das Gaspedal durchtrete.

Du

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