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Im Stechschritt eile ich auf den Ausgang des Einkaufszentrums zu, Eier und Bananen unter den Arm geklemmt. Ziemlich sicher werde ich zu spät zur Verabredung mit Hardy kommen, und trotzdem drossle ich mein Tempo, denn da ist diese Gestalt an der Delikatessentheke.

Er starrt auf die Oliven hinter der gewölbten Glasscheibe. Er trägt einen anthrazitfarbenen Wollmantel und aus seiner linken Faust baumeln die Finger eines Lederhandschuhs. Auf dem tiefen Braun seiner Haut liegt ein goldener Schatten; sein Haar ist kurzgeschoren, als wäre er beim Militär. Er ist hochgewachsen. Wie sind wohl seine Augen? Bernsteinfarben wie Tigeraugen? Ich werde langsamer. Was soll das, Sofia!

Er dreht sich um. Unsere Blicke treffen sich und aus dem Ozean der Zeit löst sich die eine Sekunde, die alles verändern wird.

Ein gleißender Strahl dringt in mich und bringt Licht in die Dunkelheit meiner Seele, die ich in diesem Augenblick spüre wie seit Ewigkeiten nicht mehr.

Das ist nicht gut. Gar nicht gut.

Er blickt mich vollkommen ernst an und strahlt zugleich eine unbezähmbare Energie aus. Seine Augen schreien.

In der ersten Sekunde dringt sein Blick tief in mich hinein, bis in den hintersten Winkel meiner Kammer, in dem die Sehnsucht hockt, bewacht von Angst.

Ich sollte wegschauen, stattdessen erwidere ich seinen Blick und sehe darin einen wunderschönen Abgrund – einen, der mich willkommen heißt.

In der zweiten Sekunde verschmelzen der Fremde und ich. Ich bin chancenlos. Meine Kopfhaut prickelt. Meine Lippen glühen.

Ich sehe ihn über mir, spüre seinen Atem auf meiner Haut. Seine Zunge leckt um meinen Nabel, schlürft mir einen Tropfen Sehnsucht daraus und füttert mich wieder damit. In dem Dunkel meiner Kammer wächst eine Blume. Ihr Duft raubt mir den Verstand.

In der dritten Sekunde fühle ich mich berauscht. Es ist eine Sünde, an ihm vorbeizugehen. Aber es wird doch nicht mehr getanzt, nicht wahr? Nicht wahr, Sofia? Hörst du? Die Absätze meiner Stiefel hallen wie Hilfeschreie auf dem Boden.

Es sind nur noch wenige Schritte zum Ausgang.

Gleich ist es vorbei. Gleich ist es vergessen.

Die doppelte Glastüre wird sich in der Mitte spalten und zwei Welten voneinander trennen, sobald sie sich hinter mir wieder schließt.

Die Lichtschranke über der Tür erfasst mich. Ich bleibe stehen und drehe mich ein letztes Mal um.

Sein Blick schießt wie zwei Harpunenspitzen durch die Narben uralter Wunden, meiner Wunden, und ich fühle einen heißen Stich.

Die zweite Tür öffnet sich. Jemand rempelt mich an und eine Bassstimme dröhnt über mir: »Passen Sie doch auf!«

Das alles muss nicht passieren, rede ich mir ein, eile hinaus ins Freie, auf den Parkplatz und zu meinem Auto, das mir wie eine Rettung erscheint. Obwohl ich sprinte, ist mir, als falle ich in die Tiefe. ›To fall in love‹, genauso ist es.

Ich stelle den Einkauf auf den Boden neben das Auto und öffne die Beifahrertür. In meiner Brust hämmert es. Kehr um. Kehr um. Und eine seidenfeine Stimme flüstert: ›Steig ein‹. Sie sagt: ›Fahr weg‹.

Doch jetzt sagt sie nichts mehr, denn ich fege sie beiseite, wie alles andere auf dem Beifahrersitz: Kräuterbonbons, Kleingeld, Tankbelege, Büroklammern, ein einzelner Ohrring. Ich klappe das Handschuhfach auf und finde einen Kuli. Auf einem Kassenbon notiere ich meinen Namen und meine Telefonnummer und: ›Do you like coffee?‹

Mit Riesenschritten strebe ich wieder zurück Richtung Markt und erstarre, als er mir entgegenkommt.

Er trägt keine Uniform, bewegt sich aber genauso, nur geschmeidiger. Bei jedem seiner weiten Schritte weht sein Mantel auf. Mit der blaugetönten Nickelbrille, mit der er seine Augen verhüllt hat, sieht er verboten gut aus.

Er bleibt vor mir stehen und nimmt sich in einer nonchalanten Bewegung die Brille von der Nase.

In diesem Moment perlt die Aufregung wie von einem Schirm von mir ab. Ich hebe meinen Blick.

Sein Gesicht zeigt keine Gefühlsregung, doch seine Augen schimmern wie dunkler Whisky vor einem Kaminfeuer.

Ich liebe Feuer. Ich liebe Whisky.

Wieder dringt sein Blick in meine Welt, und er sinkt wie ein Anker tief und tiefer – ins Supertief.

Die Zeit dehnt sich wie ein endloses Aum und schrumpft einen Moment später auf einen winzigen Punkt zusammen: diesen Augenblick.

»Das hast du verloren«, sagt er auf Englisch und reicht mir meinen Lederhandschuh. »Du hattest es ziemlich eilig.« Seine Stimme ist tief und samtig weich.

»Oh. Danke«, antworte ich, ebenfalls auf Englisch, und nehme den Handschuh so, dass ich seinen Daumen und Zeigefinger berühre.

Er streckt mir seine Hand entgegen. »Jeff Runner, how do you do?«

Ich lege meine Hand in seine. »Sofia Sanders. How do you do?«

Sein nicht überschwängliches Lächeln wirkt unterkühlt, jedoch grandios auf seinen Lippen, die mich an reife Kirschen erinnern. Süße Kirschen, zum Hineinbeißen.

Knallrot leuchtende Buchstaben tauchen vor mir auf: K u s s. Ich lecke mir über die Lippen. Mein Mundraum ist ausgetrocknet und heiß wie im Innern eines Ofens.

Er löst seine Hand, und sofort fehlt sie mir.

Schließlich sprudeln die Worte heraus, als hätte jemand zwei Hähne gleichzeitig aufgedreht.

»Möchtest du –«, beginnt er.

»Ja, ich wollte dir eben –« Ich fummle den Zettel aus der Jackentasche und reiche ihn ihm.

Er betrachtet ihn und ich sehe, wie das Stück Papier in seinen Fingern flattert.

Als er wieder hochsieht und sich unsere Blicke treffen, ist der Glanz aus seinen Augen verschwunden. Ich schlucke.

»Vielleicht hast du ein paar Minuten Zeit für –«, sagt er.

»Ich bin verabredet … zur Messe … leider.« Ich wedle mit dem Arm in nördliche Richtung und ein Teil meiner Ruhe verfliegt mit dieser Geste. »Vielleicht morgen?«

»Morgen habe ich Dienst. Ich arbeite in den Kelleys.« Er deutet zum Flughafen, jenseits dessen sich die Kelley Barracks befinden, Militärstützpunkt der US-Streitkräfte. »Aber am Montag hab ich frei.«

Bevor ich antworte, zähle ich im Geiste von einundzwanzig bis dreiundzwanzig. »Montag … sollte klappen.« Ja, denn ich würde alles absagen am Montag, selbst ein Rendezvous mit dem Ex-Präsidenten Obama. »Jetzt muss ich aber los, sonst komm ich zu spät.«

»Ich ruf dich an.« Er reicht mir seine Hand zum Abschied.

»Okay, Mister Runner.« Ich drehe mich um und wandle wie benommen zu meinem Auto zurück. Immer wieder murmle ich seinen Namen. Jeff-Jeff-Jeff. Er klebt wie Karamell auf meiner Zunge. Noch einmal drehe ich mich um. Er steht immer noch da und lächelt wundersüß.

Es war eine gute Idee, rückwärts eingeparkt zu haben; es erlaubt mir jetzt, mit Eleganz aus der Parklücke zu stoßen. Ich steige ein und starte den Motor; er schnurrt sexy, bis ich ihn beim Anfahren abwürge. Mit einem verbissenen Lächeln starte ich ihn erneut und fahre schwungvoll aus der Parkbucht.

Dass die Leute sich nach meinem Wagen den Kopf verdrehen, bin ich gewohnt. Viele heben den Daumen nach oben oder winken. Manche fuchteln ganz wild und wollen mir dadurch zu verstehen geben, dass sie mitfahren möchten. Einen schneeweißen Ford Galaxy Skyliner, Baujahr 1959, noch dazu mit roten Ledersitzen, sieht man nicht allzu häufig. mehr hoffe ich, Jeffs bewundernder Blick gilt nur mir allein und nicht dem Wagen.

Er hebt seine Hand zum Gruß, als ich an ihm vorbeituckere, und ich nicke ihm zu. Mein Gesicht wird warm und ein Zittern fährt durch meinen Leib. Die ersten Minuten meines Lieblingslebens haben soeben begonnen.


Wie auf einem Luftkissen schwebt der Skyliner auf dem Flüsterasphalt Richtung Echterdingen, entlang des Flughafengeländes und vorbei an der US Air Base. Am Kreisverkehr in Echterdingen fahre ich rechts in das östliche Industriegebiet.

Hardy steht mitten auf der Stadionstraße und trippelt hin und her. Ob es vor Kälte oder Ungeduld ist, lässt sich schlecht sagen, denn er ist permanent in Bewegung. Schließlich haben zwanzig Jahre Tennissport ihre Spuren hinterlassen.

Die Art und Weise, wie er mich an sich drückt und mich busselt, verrät mir, dass er auf Entzug ist – von menschlicher Wärme.

»Nur sieben Minuten zu spät. Ein neuer Rekord.«

»Sorry, aber ich musste noch etwas –« Ich reiße mich von ihm los und beuge mich ins Auto. Nach wilder, aber erfolgloser Suche schäle ich mich wieder heraus und klatsche mir auf die Stirn. »Nein! Ich bin über die Eier und die Bananen gefahren.«

»Du bist waaas?« Hardy hebt seine buschigen Augenbrauen und lacht erbarmungslos, dabei schlägt er sich immer wieder mit der Hand aufs Knie.

Ich lehne mich mit verschränkten Armen gegen die Autotür. »Wenn du fertig bist, können wir ja losgehen.«

Hardys Lachen verebbt in krähenartigen Lauten. »Okay, Frau Oberschussel.« Er bietet mir einen Arm zum Unterhaken an und wir marschieren zum Ende der Straße, durch die Unterführung der B27 auf den verschneiten Feldweg, der zum Messegelände führt.

Der Himmel über uns spannt sich wie ein Satintuch, in glänzendem Blau – ein Himmel mit unbegrenzten Möglichkeiten.

»Sobald es wärmer wird, musst du mit mir auf die Driving Range«, sagt Hardy.

Hab ich meine Telefonnummer auch richtig aufgeschrieben?

Hardy schüttelt meinen Arm. »Ach, bevor ich’s vergesse: Habt ihr einen Termin gefunden?«

»Ja. Am Montag.«

»Am Montag? Willst du mich veräppeln? Allein die Vorbereitung braucht doch Monate.«

Erst nach fünf Schritten dämmert mir, wovon Hardy spricht.

»Oh, du meinst die Ausstellung. Hab das Angebot nicht angenommen. Mal sehen, vielleicht im Herbst.«

Hardy seufzt. »Diese Leute lassen sich nicht ständig abweisen.«

Der hard’sche Ex-Tennislehrer-Schulmeisterton wirkt wie ein puhlender Finger in meinem Gewissen. »Ich kann das einfach nicht haben.«

»Soll ich dir sagen, was ich davon halte?«

»Nein.« Nach zwei Schritten füge ich hinzu: »Die Zeit ist noch nicht reif.«

»Die Zeit hat damit gar nichts zu tun.« Hardy stellt sich vor mich und legt beide Hände auf meine Schultern. »Du musst zu dem stehen, was in dir steckt.«

»Ich will diesen ganzen Rummel nicht. Mein Leben soll leise sein.«

»Du bist das dem Namen Sanders schuldig, meinst du nicht auch?«

»Hardy, wir wollten nur auf die Touristikmesse gehen, schon vergessen?«

»Es tut dir nicht gut –«

»Ich weiß schon, was mir guttut, vielen Dank.« Hardy und seine fürsorgliche Seite.

Nachdem Mercedés auf einem Golfplatz von einem Blitz tödlich getroffen wurde, ist er ein anderer Mensch geworden. Er hat die Tennisanlage verkauft und ist zum eingefleischten ›Alleinbleiber‹ geworden. Jetzt golft er wie ein Besessener und ihn interessiert nur noch, ob in seinem Flight jemand ein einstelliges Handicap hat und wann und wo das nächste Golfturnier stattfindet.

Wenn man etwas verliert, was man liebt, wird man eben anders.


Nach der Messe lasse ich mir ein heißes Bad ein. Die Rhythmen des Bossa nova rauschen durch das Badezimmer und es tut unendlich gut, zuerst die Zehenspitzen, den Fuß, das Bein und schließlich den ganzen Körper in das Nass zu tauchen.

Meine Brüste ragen wie zwei Bojen über der zart schäumenden Wasseroberfläche und die Flämmchen der Teelichter auf dem Wannenrand flackern hin und her, kleine zappelige Minifreudenfeuer.

Ich lausche dem samtigen Sound des Baritonsaxofons von Stan Getz, kämme mit den Fingern durch das Wasser und setze so kleine Sorgloswellen in Gang. Über alldem schwebt der Duft von Rosenholz- und Sandelholzöl und ich inhaliere ihn mit vollen Zügen. Schließlich klappen meine Lider nach unten und sein Gesicht taucht vor mir auf.

›My name is Jeff and I like coffee.‹ Seine Lippen öffnen sich, rot und prall wie reife Kirschen, zum Küssen gemacht und verlockend nah. K u s s … Buchstaben tauchen vor mir auf, sie schillern wie Seifenblasen. K u s s … sie zerplatzen mit einem Plopp und bilden sich aufs Neue.

Sein Lächeln war kühl, aber hinter seinen Augen verbarg sich etwas – war es Schmerz? Er wird wohl in der Army sein, wenn er in den Kelley Barracks arbeitet. War er im Krieg? In Afghanistan, Irak, Syrien? Hat er all das Schreckliche erlebt, was man in den Nachrichten hört? Er ist schwarz. Bekommt er das zu spüren? Ob er schon eine weiße Frau hatte? Vielleicht wäre ich die Erste. Oh, là, là …

Mit den Zehen greife ich nach dem harten Naturbadeschwamm auf dem Wannenrand und schaukle mit dem Körper vor und zurück, bis die Wellen ihn zu mir gespült haben. Ich drücke ihn über meinem Gesicht aus und der Wasserstrahl rinnt mir über Stirn, Augen, Nase und Lippen. Lippen, die geküsst werden möchten. Meine Hände gleiten schwerelos über die aufgestellten Brustspitzen hinunter zum Bauchnabel. In meiner Vorstellung jedoch sind es nicht meine, sondern seine Hände. Es waren große Hände. Ich rutsche so tief in die Badewanne, bis die Ohren unter Wasser sind und die Haare wie Tang auf der Wasseroberfläche schwimmen. Astrud Gilberto singt mit ihrer kindlichen Stimme brav ihren »Summer Samba«; es klingt weit entfernt, wie ein leiser Sommertraum, geträumt an einem Winterabend.

Das Brummen des Handys auf dem Waschtisch durchkreuzt meine Fantasien. Ich schnelle hoch, als hätte mich eine Qualle verbrannt, reiße das Frottierhandtuch von der Stange und tupfe mir das rechte Ohr trocken. Als ich mich nach dem Telefon strecke, rutscht das Handtuch in die Badewanne, saugt sich mit Wasser voll und versinkt.

Auf dem Display leuchtet der herrlichste fremde Zahlenstrang, den ich je gesehen habe. Ich konzentriere mich darauf, extrem entspannt zu klingen, bevor ich »Sofia Sanders« in den Lautsprecher hineinhauche.

»Hi, ich bin’s.« Sein Begrüßungssingsang kribbelt wie ein feiner Strom direkt zwischen meine Schenkel. Er muss ein Stimmbildungstraining oder etwas Ähnliches hinter sich haben.

»Schön, dich zu hören«, flöte ich, was die Untertreibung des Jahrhunderts ist. Zufrieden gleite ich wieder ins Wasser und spüre sogleich auch eine lächerliche Angst, er könne meine Gedanken durch den Hörer wahrnehmen, inklusive jener, die ich bereits gedacht habe.

»Wie war es auf der Messe?«

»Ganz interessant.« Deine Whiskyaugen waren überall, denke ich.

»Übrigens war es reiner Zufall, dass wir uns getroffen haben. Hätten sie eine Stunde vorher das gehabt, was ich wollte, wäre ich gar nicht dort gewesen.«

»Somit war es doppelter Zufall. Ich war auch nur dort, weil ich … etwas vergessen hatte.« Es war Bestimmung.

»Wo bist du, Sofia, es klingt so –«

»In der Badewanne«, antworte ich wahrheitsgetreu. Die Kombination ›Badewanne-Sofia‹ muss wohl seine Fantasie beflügeln. Für einige Sekunden herrscht absolute Stille. Schließlich haucht er ein »Schööön!« in den Hörer und es verursacht ein Seebeben mittlerer Stärke in meinem Unterleib.

»Das viele Laufen auf der Messe … meine Füße … äh, du verstehst.« Mein Gott, krieg ich keinen vernünftigen Satz hin?

»Ich verstehe. Dann stör ich dich nicht weiter. Ich ruf dich morgen wieder an, wenn’s dir recht ist.«

»Gut. Bis dahin.« Widerwillig lege ich auf und strample mit den Beinen im Wasser.

Morgen werde ich ihn wiedersehen! Am liebsten würde ich einen Köpfer in die Badewanne machen oder von einem Zehn-Meter-Brett springen.

Das Leben ist doch gerecht.


Als Treffpunkt hatte ich das Industriegebiet im Westen Echterdingens vorgeschlagen, das mit vorzüglicher Parkmöglichkeit ausgestattet ist.

Instinktiv suche ich nach einem sportlichen Fahrzeug wie das auf der anderen Straßenseite: Es ähnelt einem 911er Porsche und die Person darin lacht mir zu.

Ich parke in einer riesigen Parklücke, drei Autos vor ihm.

Jeff öffnet mir die Tür. Ich schwenke die Beine hinaus und ergreife die mir dargebotene Hand. Es gibt kein Küsschen auf die Wange.

»Das ist ein erlesenes Automobil.«

»Hallo Jeff. Danke, das ist es. Baujahr ’59, gehörte meiner Mutter. Äußerlich ein Oldtimer, technisch aber auf dem neuesten Stand. Es ist Liebe pur.« Ganz bewusst schaue ich nicht ihn an, sondern das Auto. Ein Lächeln kann ich mir jedoch nicht verkneifen.

»Das verstehe ich. Es ist leicht, sich darin zu verlieben.« Jeff schwenkt seinen Blick zu mir.

Ich schaue zur Seite wie ein siebenunddreißigjähriges Schulmädchen.

Wir fahren mit seinem Wagen zum ›Chez Amis‹, einem Lokal im Ortskern. Der Loungebereich im unteren Teil des Gebäudes ist montags geschlossen und so müssen wir mit dem Bistrobereich vorliebnehmen. Bereits auf den Stufen zum Eingang hört man jemanden brüllen wie ein Feldwebel, der seinen Rekruten die Leviten liest. Nach kurzer Stille folgt mehrstimmiges Gegröle.

Jeff öffnet die Tür, eine Serviette fliegt von der Theke. Alle verstummen und vier Köpfe drehen sich wie auf Kommando zu uns herum und starren Jeff wie einen Außerirdischen an. Einer wischt sich mit dem Handrücken den Schaum von den Lippen.

Dann starren sie mich an. Aus dem Lautsprecher plärrt eine blecherne Stimme irgendeinen Song aus den Achtzigern. Doch schließlich, als hätten sie ein Signal empfangen, hebt einer der Gäste sein Bierglas. »Und wisst ihr, was ich gemacht habe?«

Jeff und ich nehmen an einem Ecktisch Platz und er bestellt beim Kellner die Getränke. Er tut es auf Deutsch, mit einem weichen ›r‹.

»Mein Deutsch ist nicht so gut.« Er lacht und seine elfenbeinfarbenen Zähne schimmern in dem dunklen Gesicht.

»Ich finde es schön.« Und ungemein sexy.

»Danke, aber besser, wir bleiben beim Englisch. Du sprichst übrigens ausgezeichnet. Das ist auch gut, sonst hätten wir ein Problem.«

Er spricht in der Wir-Form.

»Warst du schon mal in den Staaten?«

»Leider nicht. Dazu müsste ich in ein Flugzeug steigen.«

»Du hast Flugangst? Meine Mutter auch.« Aus seinem Mund klingt es wie ein neuer Volkssport.

»Wirklich? Deine Mutter ist mir sympathisch. Wo lebt sie?«

»North Carolina.«

Der Kellner bringt die Getränke und zündet die Kerze auf dem Tisch an.

»Jetzt wird es noch richtig romantisch.« Ich balle die Hände unter dem Tisch zu Fäusten und denke dabei an die progressive Muskelentspannung von Jacobson. Anspannen – loslassen – anspannen – loslassen.

Jeff betrachtet mich mit diesem melancholischen Whiskyblick und mir wird ganz warm ums Herz. Jetzt fällt mir auch eine zwei Zentimeter lange Narbe über seiner rechten Augenbraue auf, die ein paar Nuancen heller ist als die übrige Haut. Ihr Ende verläuft im äußeren Teil der Augenbraue.

»Wie lange bist du schon in Deutschland?«, frage ich.

»Sieben Jahre. Ich liebe Stuttgart.«

Oh, là, là … ›ich liebe‹ aus seinem Mund zu hören, klingt gruselig schön. Sag‘s noch einmal.

»Und du?«

»In Waldenbuch.«

»Alleine?«

Ich schmunzle. »Mit meinem Sohn. Er ist achtzehn.«

»Du bist also nicht verheiratet?«

»Oh nein. Nein. Nein.« Ich winke ab, als wäre dieser Gedanke völlig abwegig. »Das ist schon lange her.«

»Ich war auch mal verheiratet.«

»Tatsächlich?«

»Ja. Aber Soldatenehen sind schwierig.«

»Andere auch. Kinder?«

Er schüttelt den Kopf. »Mittlerweile bin ich zu alt dafür. Dieses Jahr werde ich vierzig.«

Wer hat diesen Mann gehen lassen? Wer auch immer es war: Die muss bescheuert gewesen sein. Aber gut für mich. ›Ladys, das Spiel ist aus! Sie können alle auf der Stelle nach Hause gehen. Der Gewinner dieses einzigartigen Mannes ist: Sofia Sanders. Applaus! Applaus!‹

Jeff hat offensichtlich nicht die Absicht, das Thema weiter zu vertiefen.

»Was machst du bei der Army?«

»Ich bin so etwas wie James Bond für Maschinen. Ich organisiere und überwache Transporte für Special Operations. Alles, was sich nicht bewegt, bewege ich beziehungsweise sorge dafür, dass es sich bewegt.«

»Ich liebe James Bond«, knallt es wie ein Pistolenschuss aus meinem Mund. »Meine Freundin und ich haben eine Töpferwerkstatt.«

Er sieht mich an wie ein U-Boot. »Und was macht man da?«

»Skulpturen. Charlotte modelliert riesige Insekten und ich Greifvögel. Adler sind meine Favoriten.«

»Das Symbol der Unabhängigkeit. Wunderbar. Sitze ich vielleicht mit einer berühmten Künstlerin zusammen und weiß nichts davon? Sanders … Sofia Sanders …« Er schwenkt den Namen im Mund hin und her wie einen Schluck Wein. »Mit so einem Namen musst du berühmt werden.«

»Meine Mutter war es. Aber ich sehe mich nicht so. Ich muss nicht berühmt sein. Alles hat seinen Preis, weißt du?«

»Hm, aber du stellst aus, oder?«

»Nur in der Mühle, in der wir auch arbeiten. Dort gibt es zwei Ebenen dafür.«

»Nicht in einer Galerie oder einem Museum?«

»Ich operiere undercover sozusagen, so wie du.«

»Mein Großvater sagte immer, eine Gabe ist auch eine Verpflichtung.« Er hebt sein Glas und wir stoßen an. Der Orangensaft rinnt mir rasant die Kehle hinunter.

»Du bist also Soldat?«

»Nicht mehr. Im Oktober bin ich offiziell aus der Army ausgeschieden. Vor einigen Wochen habe ich einen Zweijahresvertrag unterschrieben. Ich werde weiterhin für das US-Government arbeiten, aber als Zivilperson und in Belgien.«

Wie? Belgien für zwei Jahre? Mir ist, als würde ein Jagdflieger durch meine Schäfchenwolken schießen: Meine Hoffnung faltet sich zusammen wie ein Umzugskarton von Ikea. Klapp. Klapp. Klapp. Scheiße! Scheiße! Scheiße!

»Aber an den Wochenenden werde ich öfter zurückkehren.«

»Wozu?« Ich lege die Hand in den Schoß und grabe die Fingernägel in den Handballen.

»Ich vermisse Stuttgart schon jetzt.« Sein Blick ist undurchdringlich wie ein Dschungel, aber etwas verbirgt sich darin. Und dieses ›Etwas‹ verbindet uns.

»Wo genau wird das sein?«

»SHAPE, nicht weit von Brüssel. Ich weiß noch nicht, welches Haus ich nehmen soll. Es gibt drei zur Auswahl.«

»SHAPE? Was ist das?«

»Supreme Headquarters Allied Powers Europe. Hauptquartier der alliierten Streitkräfte in Europa.« Er konzentriert sich auf jedes Wort und starrt in den Orangensaft. »Ich hoffe, wir sehen uns noch einmal, bevor ich abreise.«

Nein, nein! Ich will die Geschichte dieser Narbe kennenlernen und deine Lippen auf meinen spüren.

K u s s … die Buchstaben schweben aus seinem Mund, und ich lecke jeden einzelnen mit der Zungenspitze ab.

»Wann gehst du denn?«, frage ich, obwohl ich von abreisen überhaupt nichts hören will.

Sein Gesichtsausdruck ist noch trostloser als vor der Diagnose ›Wochenendbeziehung‹. »Am Samstag.«

»Am Samstag? Welchen?«

»Kommenden.«

Nein! Die Antwort trifft mich wie ein Geschoss mitten ins Gesicht und ich schaue zur Seite, um meine maßlose Enttäuschung zu verbergen.


Außer dem Gleiten der Scheibenwischergummis ist im Wageninnern nichts zu hören. Schneeflöckchen schweben wie weiße Ministerne vom Himmel. Will er bloß einen fünftägigen One-Night-Stand? Falls ja, wäre bis zu meinem Auto ausreichend Zeit, um die Frage zu stellen.

Jeff schaut mich von der Seite an, und ich bin mir sicher, dass hinter seiner Stirn etwas vorgeht, aber ich habe keinen blassen Schimmer, was es ist.

Ich schenke ihm ein unschuldiges Doris-Day-Lächeln und atme gleichmäßig ein und aus. Es heißt doch immer, man soll sich auf das Atmen konzentrieren. Bitte schön: Das hilft überhaupt nichts!

Jeff biegt in die Fabrikstraße und hält hinter dem Ford. Was werde ich antworten, falls er mich fragt: ›Willst du noch mit zu mir und etwas trinken?‹ – ›Ja, aber nur mit Gummi?‹, oder: ›Erst, wenn ich die Geschichte deiner Narbe kenne?‹

Jeff öffnet mir die Wagentüre und ich steige aus. Er sieht mich an, ohne einen Piep von sich zu geben. Er öffnet seinen Mund. Kältewölkchen strömen heraus, sonst nichts. War’s das jetzt?

Ich lasse die Riemen meiner Handtasche von der Schulter gleiten, um nach den Schlüsseln zu suchen. Unter meinem Wollmantel donnert mein Herz.

»Danke für den schönen Abend«, sagt er.

»Magst du Jazz?«, höre ich mich fragen.

»Ob ich Jazz mag?« Er zieht eine Augenbraue nach oben, die mit der Narbe.

»Es gibt da ein Jazzlokal in Stuttgart, ›BIX‹, vielleicht kennst du es? Hättest du Lust, am Mittwoch dorthin zu gehen?«

Die Überraschung ist noch nicht aus seinen Zügen gewichen, als er mit einem »Ja, gerne« antwortet. Süße Hormone durchfluten mich.

Er beugt sich zu mir herunter. Sein Blick taucht in meine Augen wie ein Lot, das man ins Wasser lässt, um die Tiefe zu messen. Ich nehme sein Rasierwasser wahr – ein leichtes Kokosaroma. Er kommt noch näher. Seine Lippen berühren meine rechte Wange, und ich recke meinen Hals, um es noch ein wenig länger auskosten zu können; doch der Moment schmilzt dahin wie ein Eiskristall in einem zauberhaften Winternachtstraum.

Du

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