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Ein Strom aus Energie bahnt sich seinen Weg von der Fußspitze bis unter meine Kopfhaut. Sie prickelt, als trüge ich eine Mütze, durch deren Maschen Tausende von Volt fließen. Mit einem Mal bin ich hellwach.

Aus allen Richtungen kommen Puzzleteilchen in Windeseile angeflogen und vereinen sich zu einem faszinierenden Bild: Jeffs Antlitz.

Ich stehe auf, koche mir eine Familienportion Espresso und setze mich in meinen Schaukelstuhl auf die östliche Terrasse. Eingehüllt in die Weichheit und Wärme meiner Decke aus Yakwolle strotze ich minus vier Grad.

Die Sonne kriecht hinter der scharfen Linie des Horizonts hervor, bis sie schließlich wie ein flambierter Pfirsich darüber schwebt. Dort verweilt sie, als wäre sie zu erschöpft, um weiter zu steigen, und verteilt ihr Feuer zu allen Seiten.

Ein neuer Tag, ein neuer Anfang.

An wie vielen brennenden Sonnenaufgängen habe ich schon hier gesessen, mit den falschen Träumen? Will ich mich wirklich mit ihm einlassen? Aber was soll schon passieren? Der anfängliche Zauber wird sich bald verflüchtigt haben. Er wird weit weg sein. Da wird es unmöglich, Nähe aufzubauen. In gewissem Sinne ist das perfekt. Eine Art ›Special Operation‹. Alles wird locker und leicht sein, niemand wird leiden. Ich will nicht leiden. »Okay, Mister Bond«, sage ich laut und reibe mir die Hände.


Es gibt keinen Grund, durch den Ausstellungsraum zu schleichen und auf Samtpfoten die Holzstufen in die Werkstatt zu tapsen, außer dem, Charlotte zu überraschen.

Sie steht, mir den Rücken zugewandt, in der Küche und gießt Kaffee in die Thermoskanne. Ich trete lautlos an sie heran und wedle mit der Papiertüte dicht an ihrem Ohr.

»Huch, ich hab dich gar nicht gehört.«

»Das will ich hoffen.«

»Mhmm, riecht pfundig.«

»Apfelstrudel, noch warm.«

Mein Grinsen muss wie Vanillesoße über mein Gesicht laufen, denn Charlotte sagt nur: »Nein.« Sie ohrfeigt mich, springt zum Holzbüfett und reißt eine Schublade nach der anderen auf.

»Hey!« Ich reibe mir die Wange. »Was soll denn das?«

»Dass Gefahr im Verzug ist. Das lässt sich ganz bequem in deinem Gesicht ablesen und du sagtest einmal, wenn das der Fall sein sollte, soll ich dir eine knallen.« Sie streckt mir ein DIN-A4-Blatt hin. »Komm. Nimm es.«

Ich lege meinen Kopf schief und lese die Überschrift ›AFP‹, darunter ›Anti-Frustrations-Programm‹. »Ich bitte dich. Ich war nicht zurechnungsfähig als ich das verfasst habe.«

»Das bist du jetzt auch nicht. Du wolltest ein Sabbatjahr einlegen, innerlich wachsen, dich mit niemandem einlassen und schon gar nicht verknallen. Ich les mal vor. Notfallmaßnahmen: Anmeldung für zwei Golfturniere mit Ziel Handicap vierunddreißig, Anmeldung für den Marathon in Berlin –«

»An meinem Handicap arbeite ich schon, das kann man streichen.«

»Keinen Alkohol, keine traurige Musik. Zwei Wochen lang um sechs –«

Ich reiße ihr den Zettel aus der Hand, zerrupfe ihn und werfe die Schnipsel in die Luft. »Das ist ja peinlich.«

»Hey! Das Wichtigste stand unten –«

»Sich durch Regeln einzuengen, wie dumm ist das denn! Ich habe meine Einstellung modernisiert, sozusagen.«

Charlottes eisblaue Augen verengen sich. »Musst du auch die Freiheit und den inneren Frieden modernisieren, die dir so wichtig waren?«

»Nein, aber ich muss dazu nicht wie eine Nonne leben, oder? Regelmäßiger befriedigender Koitus fördert das innere Gleichgewicht und gehört zur Gesundheitsvorsorge einer modernen Frau.« Ich nehme zwei Kuchenteller mit Zwiebelmuster aus dem Büfett, stelle sie auf den Tisch und lege die Apfelstrudel darauf.

»Bevor du auf deinen komischen Berg gegangen bist, wolltest du aber genau das tun.«

»So ist das halt, Charlie, wenn man Dinge überdenkt.« Ich lege die Apfelstrudel auf die Teller. »Und jetzt setz dich.«

»Gut, wie du meinst. Ich habe getan, worum du mich gebeten hast. Jetzt erzähl mal.« Charlotte weiß, wenn ich sie Charlie nenne, werde ich langsam mürrisch. Sie schenkt uns Kaffee ein.

»Wir waren beide in einer Superposition.«

Charlotte verdreht die Augen.

»Das ist ein Begriff aus der Quantenphysik. Fred muss darüber referieren, sonst wüsste ich das auch nicht. Das ist eine Überlagerung zweier –«

»Eine Indianerweisheit lautet: Alles, was einmal war, ist immer noch, nur in einer anderen Form.«

Ich überlege. »Diesmal ist es anders. Aber egal, dem Ganzen sind ohnehin Grenzen gesetzt. Denn er wird am Samstag das Land verlassen.«

»Das Land verlassen? Ist er ein Krimineller?«

»Nein, aber diesen Satz wollte ich schon immer mal aussprechen. Wir werden am Mittwoch unser erstes offizielles Date haben.« Ich quetsche ein Stück vom Strudel ab.

»Wie ist er denn so?«

»Imposante Erscheinung, unterkühlter Charme, eine Stimme wie Nougat und dieser Blick, mhmm … Außerdem hilft er einem aus dem Mantel.«

»Das ändert natürlich alles. Sein Name ist aber nicht Superman, oder?«

»Nein, Batman.« Ich lache. »Er ist schwarz.«

»Afrikaner?«

»Amerikaner und seine Haut hat in etwa diese Farbe.« Ich zeige in ihren Kaffee, in dem die Milch, die sie eben hineingegossen hat, sich wie eine Milchstraße in einem Universum spiralförmig ausbreitet.

»Wie alt?«

»Fast vierzig.«

»Nicht zwanzig Jahre älter als du?«

»No, Ma'am.«

»Und was ist nun dein Plan, du hast doch sicher einen, oder?«

»Ich werde im Lager noch einen Brocken Ton holen. Amonia kriegt ein Männchen.«

»Das hab ich nicht gemeint.«

»Ich weiß. Ich werde einen kühlen Kopf bewahren und leise und leicht wie eine Sommerbrise sein.«


Das Lokal im Ambiente der Siebziger schwimmt in einem Meer aus bronzefarbenem Licht und das Stimmengemurmel liegt wie Gischt darüber. Wellenförmige Schablonen ziehen sich quer über die rechte Wand und werden von der Rückseite her bestrahlt.

Ein hagerer Mann, der mit einem Karl-Lagerfeld-Pferdeschwänzchen nur ein Kunststudent sein kann, lotst uns zu einem Tisch im Randbereich. Die Gäste hätten eben abgesagt. Glück für uns.

Jeff hilft mir aus dem Mantel. Bewunderung wäre etwas zu hoch gegriffen, aber die Bände, die sein Gesicht spricht, genieße ich.

Er durchquert den Raum in Richtung Garderobe. Seine Art zu gehen ist Musik für meine Augen.

»Gefällt dir, wo du bist?«, frage ich ihn, nachdem er zurück ist und mir gegenüber Platz genommen hat.

»Dein Geschmack ist exquisit. Und ich bin traurig.«

Hab ich richtig gehört? Traurig? Ich gebe mir keine Mühe, meine Überraschung zu verbergen, denn die Dunkelheit ist auf meiner Seite. »Warum?«

»Seit sieben Jahren bin ich in Stuttgart«, er schüttelt den Kopf, »offensichtlich habe ich was verpasst.«

Es wäre gelogen zu behaupten, es würde mich nicht freuen, das zu hören. Am liebsten würde ich über den Tisch hechten, direkt in seine Arme.

Der Kellner kommt. Jeff bestellt eine Piña Colada und einen Pinot Noir für mich. Die Beleuchtung wird gedimmt und eine fünfköpfige Band betritt die Bühne. Sie beginnen ohne Vorreden mit dem fetzigen Stück ›A Night In Tunisia‹. Der Herr am Nebentisch rutscht auf seinem Sessel hin und her, als säße er auf Hornissen. Seine Freundin daneben stampft zur Unterstützung der Base mit ihren Stiefelhacken auf den Boden.

Mein Blick gleitet zu Jeff, heimlich und leise.

An ihm ist alles zauberhaft: der goldene Glanz auf seinen Gesichtszügen, die feinen Schattierungen um die Nasenflügel, die geschwungenen, dichten Wimpern, die wie Flügel schlagen, wenn er blinzelt. Er strahlt unendliche Ruhe aus. Meine ist dahin. Als er sich die Lippen benässt, verglühe ich.

Unsere Getränke werden serviert. Jeff greift nach seinem Longdrinkglas, als wäre es der Heilige Gral, und wir trinken uns zu. Er nippt unbeteiligt daran; seine Körperhaltung ist steif. Ich schlinge meine Finger um den Bauch des Weinglases, nehme einen Riesenschluck daraus und wende meinen Blick zur Bühne, ohne hinzuschauen.

Hinter seiner Facette tobt ein Meer der Gefühle, das fühle ich. Heute Nacht möchte ich seine Lippen zwischen meinen Schenkeln spüren, sein Gewicht auf mir und seinen Namen schreien, wenn ich komme. Ich will in seinem Meer ertrinken.

Ich drehe meinen Kopf zu ihm, und sein Blick durchbohrt mich wie eine Lanze. Ob er weiß, dass ich nach ihm lechze? Bestimmt. Wahrscheinlich wusste er es schon in der Sekunde, als sich unsere Blicke das erste Mal trafen.

Nun sitzen wir uns noch immer gegenüber wie zwei Fremde, und in ein paar Tagen ist er weg! Die Uhr läuft! Ticktack-ticktack-ticktack! Warum zum Geier macht er mir keinerlei Avancen? Irgendwas läuft hier falsch. Doch aus dem Augenwinkel sehe ich, wie sein Blick über mich gleitet, als täte er etwas Verbotenes.

Nach der Zugabe der Band klatsche ich, bis meine Hände brennen wie Feuer.

Jeff lacht mir zu, völlig unbekümmert, als hätten wir noch alle Zeit der Welt.

Es ist dreiundzwanzig Uhr, als wir das Lokal verlassen. Die Absätze meiner Stiefel hallen auf dem nackten Betonboden des Parkhauses. Es sind nur noch wenige Schritte zum Auto und ich beiße mir auf die Zunge, um nicht die Frage zu stellen.

Jeff bleibt vor der Beifahrertür stehen, greift in die Innentasche seines Mantels und zieht den Autoschlüssel heraus. Wir schauen einander schweigend an: ein Augenblick voller Intimität. Meine Augen brüllen nach einem Kuss. Meine Lippen brüllen nach einem Kuss.

Blutrote Lettern pulsieren zwischen uns. Er muss sie sehen: K u s s K u s s K u s s.

Doch sein Mund öffnet sich keinen Spalt.

Mein Gott, küss mich doch endlich. Tu es. Bitte!

Er blickt hinunter auf den Schlüssel in seiner Hand, hebt seinen Blick und schaut mir in die Augen. Im nächsten Moment höre ich das ›Klack‹, mit dem sich die verfluchten Türen öffnen.

Die blutroten Lettern lösen sich auf und mit ihnen die Intimität, die uns wie ein elektrisch aufgeladenes Feld umgeben hatte. Der Raum zwischen uns füllt sich mit Einsamkeit und in meinem Mund bleibt ein metallisch-bitterer Geschmack zurück.

Was ist nur los mit dem Mann? Trage ich ein Schild um den Hals: ›Anfassen verboten‹, oder sollte ich den ersten Schritt machen?

›Ey Mann, ich bin bereit, Mann! Congratulations! Du hast mich gargekocht, lass uns mal ein Nümmerchen schieben, oder besser eine große Nummer. Was sagste, ey?‹

Er hält mir die Tür auf und ich steige ein. Das dumpfe ›Whuuumm‹, als er sie zuschlägt, erschüttert mich wie ein Beben. Jeff fährt aus dem Parkhaus und verlässt die Stadt über den Westen: durch den Heslacher Tunnel, die Serpentinen, die sich wie eine Viper am Waldfriedhof vorbeischlängeln, Friedhof wie aus, vorbei, tot.

Außer banalen Bemerkungen deutet nichts darauf hin, dass er andere Absichten verfolgt als die, die Nacht allein in seinem Bett zu verbringen.

Mit einhundertzwanzig Stundenkilometern rast er auf der B27, vorbei am Hotel ›Dormero‹, das jenseits der Windschutzscheibe erleuchtet auftaucht. Jeff fragt mich, ob die Temperatur angenehm sei. Obwohl die Klimaanlage zweiundzwanzig Grad anzeigt, fröstelt es mich. Mein ganzer Körper ist ein einziger verspannter Muskelstrang. Er nimmt die Ausfahrt Echterdingen und fährt ebenso am ›Holiday Inn‹ vorbei.

Wie gern wäre ich ihm nahe, so nah wie möglich. Aber ich will nicht wie ein Sexluder wirken und bekomme meinen Mund nicht auf. Dafür hasse ich mich.

Er biegt brav in die Fabrikstraße ab und hält hinter meinem Wagen. Wird er sich jetzt bei laufendem Motor verabschieden? ›Ciao, war nett. Ich verschwinde dann mal aus deinem Leben.‹

Was bleibt von dem Zauber? Der Duft seines Rasierwassers, das mich an Irland, Hochmoore und die Riffs erinnert, an schäumende Wellen, die sich gegen sie werfen und Unmengen von Energien freisetzen und sich schließlich zurückziehen, ohne etwas ausgerichtet zu haben. Wie in den brandenden Wellen, so schäumt es auch in mir.

Aber, welch Wunder: Er stellt den Motor ab.

Ich reibe an meinem Ohr, aus Nervosität. Die Sekunden zischeln wie an einer Zündschnur. Gleich wird alles vorbei sein.

Herr Runner steigt aus, umrundet das Auto, öffnet die Tür und reicht mir seine Hand. Ich setze erst den rechten, dann den linken Fuß in die frostige und abweisende Nacht.

Jeff lächelt das Lächeln eines Zufriedenen und hebt seinen Arm, damit ich mich einhaken kann. Mit getragenen Schritten geleitet er mich zu meinem Auto, als wären wir auf einer Beerdigung.

Ich fuhrwerke absichtlich umständlich in der Handtasche nach dem Autoschlüssel. In der Ferne heult eine Sirene und ich will schreien: ›Hierher! Kommen Sie, verhaften Sie diesen Mann!‹

Ein Manöver des letzten Augenblicks wäre jetzt nötig, um das Ende abzuwenden und den Anfang von etwas Neuem zu schaffen. Immer noch krame ich in der Handtasche und befürchte, es beginnt suspekt zu wirken.

»Danke für den schönen Abend, Sofia. Ich habe ihn sehr genossen«, höre ich ihn sagen.

Danke! Das kommt einer schallenden Ohrfeige gleich und ich mache mir ernsthaft Gedanken über mein Manöver und blicke ihn an, in dieser speziellen Art, die ein Mann nicht missdeuten kann.

»Du musst vorsichtig fahren, die Straßen sind rutschig.«

Ich senke den Kopf. Auf seinen glänzend polierten Lederschuhen spiegelt sich die traurige Wahrheit: Er verschmäht mich.

Aber ich spüre diese starke Verbindung. Sollte ich mich so täuschen? Traut er sich nicht – wegen der Hautfarbe?

Entschlossen, das Manöver des letzten Augenblicks einzuleiten, öffne ich die Lippen einen Spalt, zu unbedeutend noch, als für die Forderung eines Kusses gehalten zu werden, aber doch einladend genug.

Unsere Blicke treffen sich. Seine Augen schimmern wie die Oberfläche eines tiefen Sees in einer kristallklaren Winternacht, auf der sich das Mondlicht spiegelt. Da gibt es keine Wellen, die sich irgendwo hineinstürzen.

Der Mann, den ich nicht mehr wiedersehen werde, küsst mich auf die Wange, als wäre ich seine Schwester. Ich schäme mich für meine Gedanken und komme mir verdorben vor.

Die Minuten sind abgebrannt.

Das war’s. Ende.

Ich steige in mein Auto und hinter meinen Augäpfeln bildet sich ein Meer von Tränen. Ich starte den Motor und rüttle an dem Schaltknüppel. Wo ist denn dieser scheiß Rückwärtsgang? Und warum zum Henker grinst Jeff so? Verdammt! Ich reiße den Hebel in die richtige Position, stoße einen Meter zurück und höre das verzweifelte Quietschen des Gummis am Randstein. Endlich und absichtlich langsam fahre ich aus der Parklücke, vielleicht würde er mich noch aufhalten wollen. Aber nein. Er steht nur da, mit diesem buddhaähnlichen Lächeln.

Mein Herz will bersten und durch die Windschutzscheibe springen, zu ihm – in seine Arme. Er winkt mir zu, und ich entferne mich von ihm, Meter um Meter, bis er im Rückspiegel auf die Größe eines Mensch-ärgere-Dich-nicht-Männchens geschrumpft ist.

Aaah! Am liebsten würde ich ein Stück aus dem Lenkrad beißen. Danach folgt etwas sehr Simples: Das Gefühl, nicht begehrt zu sein, unwichtig zu sein.

Die bleich beleuchtete Straße, gesäumt von schattenhaften Bäumen, die Nachtwache halten und ihre knochigen Äste ins schwarze Nichts strecken, rollt sich wie eine Trauerschärpe vor den Lichtkegeln aus und gibt mir den Rest. Ich lasse den Tränen freien Lauf und trete das Gaspedal durch.


Dicke, fröhliche Flocken schneien aus dem Himmel und ich hasse jede einzelne davon. Schlimmer ist nur noch die knallgute Laune von Charlotte. Wenn sie mit einem Trällern auf den Lippen in der Werkstatt erscheint, hat es nicht nur saure Gurken zum Frühstück gegeben.

»Hallolele«, flötet sie, doch als ich mich umdrehe, versiegt ihr Lachen. »Sag mir sofort, dass du deshalb so aussiehst, weil er dich nicht hat schlafen lassen.«

»Nun, in gewisser Weise stimmt das, aber ich will nicht darüber reden.« Ich drehe mich weg, schwenke zurück. »Okay. Was willst du wissen.«

Nach einer knappen Schilderung der Ereignisse, vor allem derer, die nicht vorgefallen sind, verschwindet sie aus der Werkstattküche mit einem ›Ojemine …‹, in der Umkleidekammer. Unterdessen hole ich aus dem Gewölbekeller, eine Ebene tiefer, einen Zehn-Kilo-Brocken braunen, schamottierten Tons. Als ich wieder hochkomme, hockt Charlotte bereits breitbeinig auf ihrem Schemel und knetet einen Strang Ton für den Schwanz des Erdmännchens, das sie vor drei Tagen begonnen hat.

Ich wuchte den Ton auf die Töpferscheibe.

»Hm, schwul wird er ja wohl nicht sein, oder?«

»Charlotte!«

»Vielleicht hat er einen Schuss weg? Ich hab mal eine Doku gesehen über ehemalige Soldaten.«

»Das heißt Veteranen.«

»Meinetwegen. Manche drehen durch und –«

»Ich drehe auch gleich durch!« Ich greife nach dem Skalpell und stoße es in den Ton. »Es ist aus. Ich mache Schluss. Schluss. Schluss.« Wie von Sinnen hacke ich in den Ton.

Charlotte schaut von ihrer Arbeit auf, aber ich höre nicht auf, sondern hacke weiter hinein, bis er so löchrig wie ein verfluchtes Sieb ist. Nennenswert besser fühle ich mich dadurch jedoch nicht.

»Wie lange, sagtest du, ist er noch hier?«

»Vier Tage.«

»Und vier Nächte.« Sie ritzt den Ton an der Stelle ein, an der das Erdmännchen seinen Schwanz erhalten wird. »Wenn er dir so gefällt, ergreif doch die Initiative; ist doch nur ›Gesundheitsvorsorge‹. Deine Worte. Warum hat er dich wohl angesprochen?«

Ich halte meine Drehscheibe an. »Das geht nicht. Erstens geht es mir nicht nur um Sex und zweitens verliere ich den Respekt vor mir, wenn ich mich ihm an den Hals werfe. Und seit wann denkst du so liberal? Passt das zu fünfundzwanzig Jahren Ehe?«

»Vierundzwanzig.« Charlotte legt ihr Skalpell zur Seite. »Was auch immer es ist, es ist eben nur für vier Tage – und vier Nächte. Was sagtest du? Leise und leicht wie eine Sommerbrise?«

Ich hasse sie. Immer muss sie das letzte Wort haben.


Als hätte man mich mit einem Eimer Eiswasser übergossen, schnelle ich aus der Rückenlage hoch. Mein Nachthemd klebt wie eine zweite Haut an mir und ich schnappe nach Luft.

Die Ziffern der Uhr leuchten mich rot an: 4.30 Uhr. Heute ist Samstag. Der Samstag. In wenigen Stunden wird er aufbrechen und in sein blödes Brüssel fahren. Bei diesem Gedanken wird mein Gesicht ganz heiß. Sollte ich nicht ein paar Baldriparan einwerfen und weiterschlafen, bis er weg ist? Ich schlage die Bettdecke zurück, stehe auf und schlurfe aufs Klo.

Aber seine Augen lügen nicht und ich weiß, was ich fühle, und ich weiß, dass er auch etwas fühlt.

Zwei Stunden lang wälze ich dieses Wissen im Bett hin und her und denke dabei immer wieder an Charlottes Worte: ›Ergreif doch die Initiative‹. Schließlich stehe ich auf – mit einem Plan.

Nach einer Dusche und einer Familienportion Espresso marschiere ich mit dem Handy in den Werkraum, der sich in einem Anbau auf der Westseite der Ranch befindet und in dem ich mich, trotz verglasten Daches, behütet fühle.

Es ist zwölf Minuten nach neun. Das Handy klingelt dreimal, viermal. Ich ziehe die Plastikhülle vom Körper des Adlermännchens, das ich vor zwei Nächten begonnen habe, und streiche über die kühle Oberfläche. Es klingelt das fünfte Mal. Vielleicht ist die Idee doch nicht so gut …

»Hello«, tönt es in mein Ohr.

»Hi Jeff, du – du gehst heute, nicht wahr?« Stottere doch nicht!

»Ja?«

Ich grabe meine Finger tief in den weichen Tonkörper und straffe meine Schulter. »Ich würde dich gerne noch einmal sehen.«

Stille.

Oh-oh. Er sagt nichts mehr. Ich krümme meine Finger zu Krallen und lausche in den Hörer.

»Um vierzehn Uhr will ich los. Wir könnten uns um elf Uhr downtown treffen, am Karlsplatz?«

»Ja, äh … das ist perfekt.« Meinetwegen könnte es auch Kathmandu sein. Jaaa! Mein Herz macht einen Satz.

Vor einer Minute hat Jeff aufgelegt, doch ich halte das Telefon immer noch an meine hämmernde Brust gedrückt.


Am Schlossplatz in Stuttgart halte ich mich links, Richtung Karlsplatz, der mit seinem Trödlermarkt an den Samstagen stets überfüllt ist. Statt eines verschwiegenen Ortes schlägt er einen belebten Platz als Treffpunkt vor. Warum?

In dem Getümmel rollen mir die Reifen eines Kinderwagens über den kleinen Zeh. Ich beiße die Zähne zusammen und steuere weiter auf die Mitte des Platzes zu, mit dem alles überragenden Denkmal Kaiser Wilhelms, der, hoch zu Ross, mit einem Spitzhelm auf seinem Haupt, bis zum See am Theaterhaus blicken könnte, wäre er nicht aus Stein.

Genau dort steht Jeff. Am Fuße des Monuments, ebenso erstarrt wie Ross und Reiter über ihm.

Auf der ersten Stufe der Freitreppe, die von sitzenden Löwen flankiert wird, bleibe ich stehen und blicke zu ihm hoch.

Beide Hände sind in den Tiefen seiner Manteltaschen vergraben und die Nickel-Sonnenbrille kann nicht seine ernste Miene kaschieren. Oder ist es Traurigkeit? Er kommt die Stufen herunter und nach einem »Hallo«, das so frostig klirrt wie die vergangene Winternacht, nimmt er mich an der Hand und zieht mich über den Platz. Die Menschenmenge teilt sich vor uns.

»Passen Sie doch auf, das ist kein Durchgang!« Ein Händler blökt mich an, als wir zwischen zwei Marktständen durchwuschen und ich an die Ecke seines Tisches stoße. Im letzten Moment fängt er das gerahmte Bild auf, auf dem die Hepburn lasziv an einer langen Zigarettenspitze kaut.

Jeff dreht sich nicht um, sondern zieht mich weiter, bis vor den Eingang des Deutsch-Amerikanischen Zentrums, das früher einmal ein Waisenhaus war. Hier lässt er meine Hand los und sie füllt sich wieder mit Wärme.

Mister Runner nimmt seine Sonnenbrille ab und in seinen Augen tobt ein Gewitter. »In zwei Stunden werde ich fahren. Was willst du von mir, Sofia?« Wieder packt er meine Hand, als wolle er sie ausquetschen.

Hat er eben gefragt, was ich von ihm will? Mein Magen schrumpft zu einem giftigen Kern zusammen und meine Zunge fühlt sich pelzig an.

Was um Himmels willen antwortet man auf so eine Frage? Irgendwas läuft hier völlig falsch! Wie auch immer. Auf keinen Fall darf die Antwort das Wort ›Liebe‹ beinhalten. »Eines Tages will ich dich spüren«, höre ich mich sagen und mir ist, als hätte man mir es eingeflüstert.

Wusch – wusch. Seine Gesichtszüge sind wie ausgetauscht.

»Okay. Warum nicht gleich?«

›Gleich‹? Wie? Was? Was meint er mit ›gleich‹? Ich verstehe das alles nicht. Ist er sauer? Falls ja: Warum?

Seine Augen sind wie zwei Strahler auf mich gerichtet und ich komme mir vor wie eine Schwerverbrecherin bei einem Verhör.

Mit der Antwort »Ich bin … indisponiert« winde ich mich heraus und zwinge mich, seinem Blick nicht auszuweichen.

Sein linker Mundwinkel geht nach oben, aber ich weiß immer noch nicht, worauf ich geantwortet habe.

Millimeter um Millimeter nähert sich mir sein Gesicht. Ich schaue ihm in die Augen, spüre seinen Atem. In meiner Vorstellung küssen wir uns bereits leidenschaftlich. Meine Lippen prickeln, gleich wird er seine auf meine pressen, aber anstatt mich zu küssen, raunt er mir ins Ohr: »Nächstes Wochenende werde ich zurückkommen. Für dich.«

Er richtet sich auf und schaut mich noch einen Moment lang durchdringend an, bevor er sich umdreht und geht.

Ich bleibe wie paralysiert stehen und beobachte, wie sich der Spalt in der Menschenmenge, in den er hineingeschlüpft ist, wie eine Wunde schließt.

›Für dich.‹ Wie süß das klingt.

Es fühlt sich an, als sei ich das erste Mal verliebt.

Korrigiere. Nicht das erste Mal.

Eher so, als sei es das letzte Mal.

Du

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