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Zwei Tage vor dem Gipfel
ОглавлениеSeit dem frühen Morgen tagt der Gipfel der Solidarität in der ehemaligen Kampnagelfabrik. Tausende diskutieren in Workshops über eine gerechtere Weltordnung, hören sich Vorträge über Themen aus allen Ecken und Winkeln dieser Erde an. Manchmal aus Ecken, von denen Cairo noch nie gehört hat.
Es ist ein buntes und aktives Völkchen, welches sich mit den Problemen der Welt beschäftigt, jenseits von Freihandelsabkommen und Nationalstaaten.
Euphorisch zieht Cairo an den Infoständen im Foyer vorbei und Isa hinter sich her.
»Nicht so schnell«, protestiert sie. »Du mit deinen zwei Metern kannst alles überblicken. Aber ich hier unten? Was kann ich schon sehen?«
Cairo lacht und vergisst den Einwand seiner Freundin.
»Weißt du, das hier ist die Welt, nicht der blöde Gipfel in zwei Tagen. Hier wird über die Probleme der Menschen gesprochen, der ganzen Menschheit.«
Begeistert zeigt er auf einen Stand indigener Ureinwohner Brasiliens, die über die Zerstörung ihrer Lebensumwelt durch Bergbaukonzerne informieren. Bevor Isa sich damit beschäftigen kann, hat Cairos bereits einen anderen Stand im Visier.
»Und da, Nomaden aus der Sahara. Marokko hat seit Jahren ihr angestammtes Gebiet okkupiert.«
»Wollen wir nicht mal an irgendeinem Stand einen Kaffee trinken? Irgendwie wird mir das gerade zu viel, ein Thema nach dem anderen.«
Cairo ist nicht begeistert von der Idee; er hat noch mehrere Podiumsdiskussionen auf dem Zettel, bei denen er gerne zuhören möchte. Aber da der Vorschlag von Isa kommt, stimmt er zu.
»Und wo?«
»Da gibt es Kaffee.«
Isa weist mit der rechten Hand auf einen der aufgebauten Versorgungsstände.
»Und da steht auch Hakim und schnackt mit Nele und Bernd.«
»Dass wir zwischen so vielen Menschen bekannte Gesichter treffen – echt cool.«
Isa, der eben die wechselnden Themen zu viel waren, stört es nicht, viele Bekannte zu treffen.
»Kaffee mit Milch?«
Cairo vergisst ständig, wie seine Freundin ihren Kaffee trinkt. Auch ein halbes Jahr Zusammenwohnen hat daran nichts geändert. Er glaubt, den Grund zu kennen: Wenn er morgens zur Arbeit geht, schläft Isa noch. Ihre Vorlesungen an der Uni fangen später an als seine Arbeit in der Werkstatt.
Er stellt sich an der Kaffeeschlange an und Isa gesellt sich zu Hakim, Nele und Bernd.
»Ich findet es super hier«, begrüßt sie die Dreierrunde und erntet Zustimmung.
»Wir wollten gerade weiter. Kommt ihr mit?«, fragt Bernd.
»Wohin denn?«
»Thema Demokratie und Gerechtigkeit. Und vor allem zu dem Stand, der über die Umstände von Svens Tod informiert. Dort ist ein Kondolenzbuch ausgelegt, in das ich gerne etwas schreiben möchte.«
Sie warten, bis Cairo mit lauwarmem Kaffee in Pappbechern zurückkommt. Sich eng aneinander haltend schieben sie sich durch das Gedränge der Besucher.
Nach einer Weile entdecken sie den gesuchten Stand. Seine Frontseite ist mit einem Tuch versehen, auf das jemand mit makelloser Schrift Die Täter müssen bestraft werden geschrieben hat.
Cairo wird schweigsam, Isa steigen Tränen in die Augen und Nele geht wortlos zum Kondolenzbuch. Wofür? schreibt sie hinein und Wir vergessen dich nicht.
Hakim und Bernd diskutieren mit der Frau am Stand. Schnell sind sie sich einig, dass Svens Tod ein staatlicher Mord war.
»Die schützen sich gegenseitig. Ich wette, der Mörder wird für immer frei bleiben.«
Hakims Wut ist nicht verraucht, und Bernd empfindet es als Skandal, dass nicht ernsthaft nach dem Polizisten gesucht wird, der Sven zu Fall gebracht hat.
»Und wenn Sven einfach nur gestolpert ist?«
Nele mischt sich ein. Sie tut sich schwer mit der Schublade Mord. Selbst wenn sich ein Verursacher für Svens Sturz finden ließe, und selbst wenn sich derjenige oder diejenigen finden ließen, die in der panischen Situation Sven auf den Kopf und in den Rücken getreten haben – juristisch wäre das kein Mord. Aber moralisch?
»Nele, was bist du spitzfindig geworden! Wird man so, wenn man die fünfzig überschritten hat?«, ärgert sich Bernd.
»Wie meinst du das?«
»Es war ein konkreter Mensch, der den Einsatzbefehl für einen absolut übertriebenen Polizeieinsatz gegeben hat. Und der trägt die Verantwortung. Und wenn sich nicht ermitteln lässt, wer Sven umgestoßen hat und über ihn hinweggetrampelt ist, dann doch der, der den Befehl gegeben hat. Seinen Namen kann man herausfinden. Alles andere ist Quatsch. Die Befehlsgeber sollten wir nicht laufen lassen; solche Zeiten müssen ein für alle Mal vorbei sein.«
»Zumindest trägt er die moralische Verantwortung.«
»Täter bleibt Täter«, stößt Cairo zu den Diskutanten und gibt seinen Senf dazu.