Читать книгу Die Welt im Viertel - Cord Buch - Страница 30
Erster Gipfeltag, 18:00 Uhr
ОглавлениеJensen und Wiebke Maurer lassen sich von zwei Kollegen begleiten. Wer weiß, was sie im Viertel erwartet. Jensens Begleiter schweigen während der Fahrt, und er gibt sich seinen Gedanken hin.
Er hat sich über den Tag nur am Rande mit Nachrichten versorgen können. Connys Mörder schnell auf die Spur zu kommen, hält er für wichtiger.
Von den gewalttätigen Aktionen und Zerstörungen am Morgen hat er nur wenig mitbekommen. Dass diese unbehelligt von der Polizei, deren Priorität die Gewährleistung der Sicherheit der Staatsgäste ist, stattgefunden haben, hat ihn erschreckt und nachdenklich gemacht. Von den vielen friedlichen Protesten hat er nichts gehört. Sie stehen nicht im Fokus der Nachrichten.
Jensen fragt sich, wie es so weit kommen konnte und ob nicht all diejenigen recht gehabt haben, die einen G20-Gipfel in einer Großstadt für eine nicht so gute Idee gehalten haben.
Der Bürgermeister hat den Bewohnern ihre Sicherheit garantiert. Von diesem Versprechen ist nicht viel übrig geblieben. Und der Gipfel ist noch nicht vorbei. Jensen bricht das Schweigen im Auto und teilt seine Fragen mit seinen Kollegen.
»Tagelang sind aus allen Bundesländern Kolonnen von Mannschaftswagen in die Stadt gerollt. Vor Hotels, Tagungsorten und rund um das Rathaus sind Betonsperren aufgebaut worden, die neuerdings Legosteine genannt werden. Seit Tagen werden an Kontrollposten Passanten kontrolliert. An den Grenzübergängen wird kontrolliert und einigen Reisenden die Einreise verweigert. Trotzdem haben die Kollegen auf der Straße die Lage nicht im Griff. Was ist da los?«
»Die Stimmung hat sich in den letzten Tagen ganz schön hochgeschaukelt«, versucht sich Wiebke Maurer mit einer Erklärung. »Alle sind nervös. Kein Wunder, die Medien überbieten sich gegenseitig mit der Prophezeiung gewalttätiger Auseinandersetzungen. Und die Aktivisten diskutieren, wie sie sich gegen Polizeigewalt schützen können.«
»Hast du mitbekommen, dass der bei einer Blockade verletzte Demonstrant vor drei Tagen seinen Verletzungen erlegen ist?«, fragt Jensen.
»Ja. Tragisch. Die Stadtrundschau spricht von einem staatlichen Mord. Nicht direkt, nicht geplant, denn es mangelt juristisch gesehen an einer heimtückischen Tötungsabsicht. Aber das harte Vorgehen der eingesetzten Polizeieinheiten, der Befehl des Einsatzführers, all das hat den Tod des Jugendlichen zur Folge gehabt. Die Zeitung verlangt eine Untersuchung des Todesfalls und eine Bestrafung der Schuldigen.«
Jensen fragt sich, ob Nele den Artikel geschrieben hat. Er traut es ihr zu. Aber ihre Forderung wird nichts daran ändern, dass die bisherigen und die kommenden Ereignisse den Tod des Jugendlichen zu einer Randnotiz des G20-Gipfels werden lassen. In wenigen Wochen werden sich nur noch seine Familie und seine Freunde an ihn erinnern. Niemand sonst.
Sie parken vor dem Viertel und gehen zu Fuß weiter. Eine gute Idee, denn die meisten Zufahrtsstraßen sind gesperrt, entweder durch Polizeikräfte oder Demonstranten und Bewohner.
Die Straßen im Viertel gehören den Menschen. Die Stimmung schwankt zwischen gespannter Erwartung, latenter Aggressivität und unpassender Fröhlichkeit.
Hubschrauber kreisen im Himmel und verbreiten ihr ohrenbetäubendes Geknatter. Aufgeschreckt jagen Vögel durch die Luft und wissen nicht, wohin sie fliegen sollen. Wie halten die Anwohner das aus, fragt sich Jensen. Seit Tagen vierundzwanzig Stunden Hubschrauberlärm. Wie bekommen Eltern überhaupt ihre Kinder ins Bett? Er könnte bei dem Krach nicht vernünftig schlafen.
Er verzichtet darauf, die beiden Kollegen auf der Straße den Eingang zur Redaktion bewachen zu lassen. Wer weiß, welche Gerüchte im Viertel aufkommen, wenn Polizisten Posten vor der Stadtrundschau stehen, oder ob es für die beiden nicht gefährlich wird. Möglicherweise werden sie auch ohne Uniform erkannt. Manche im Viertel haben einen Riecher dafür.
»Moin«, begrüßt er Nele und Max und kommt sofort zur Sache. »Dann zeigen Sie mal.«
Bevor Nele antworten kann, reicht Max Jensen einen Ausdruck hinüber. Dieser hält ihn so, dass Wiebke Maurer mitlesen kann.
»Auf der Fahrt haben wir über den toten Demonstranten gesprochen. Jetzt taucht er in unserem Fall auf. Meinst du, der Brief ist echt?«
»Schwer zu sagen. Dagegen spricht, dass kein Insiderwissen offenbart wird. Vielleicht ein öffentlichkeitsgeiler Trittbrettfahrer mit einer kruden scheinpolitischen Stellungnahme. Es hilft nichts, da müssen Experten ran.«