Читать книгу Der Glückliche - Cord Frey - Страница 5
II
ОглавлениеVom Leben, dass er führte in der Zeit bevor er verrückt wurde gab es nach seiner Auffassung nicht sehr viel Interessantes zu berichten – auf jeden Fall sprach er nicht sonderlich gerne darüber und versuchte oft jede Erinnerung zu vermeiden.
Geboren wurde er in einer Stadt, die seit ihrem Bestehen als ein Beispiel für Provinzialität und unterschwelliges Spießbürgertum galt. Seine Eltern, beide hatten bei seiner Geburt die Zeit der Jugendblüte schon länger hinter sich gelassen, ließen ihn, in den jungen Erwachsenenjahren war er aus unerfindlichen Gründen auf die Tatsache ein ‘Protestant’ zu sein besonders stolz, in einer evangelischen Kirche auf den Namen Felix taufen, und hatten fortan jedes Gefühl der Zuneigung zu ihm abgestellt.
Sein Vater, Roland, ein gestandenes Mannsbild und von Beruf Verwaltungsangestellter im örtlichen Krankenhaus, tat sich nach außen hin dadurch hervor, dass er seinen bis dato halbwegs erwachsenen Sohn, später auch dessen wenige Bekannte, bei teilweise vernichtenden Sauftouren finanziell unterstützte; sich mit diesen, wenn man sich dann in einer der Kneipen und anderen eher als Alkoholikertreff benennbaren Örtlichkeiten traf, ein wahres Bacchanal lieferte.
Nach innen, seiner Familie zugewandt, war er einfach nur da; die Vaterfigur am ehesten mit der Hilfe eines zumindest halbwegs gepflegten ‘Arschlochbartes’ darstellend - so nannte einmal jemand diese Art von Bart, die sich aus einer Kombination aus Schnauzer und Kinnbart lediglich um die Mundöffnung anordnet. Ein Arschloch war dieser Roland sicherlich nicht, eher ein amorphes Gebilde mit der Ausstrahlung eines schwarzen Lochs; scheinbar gleichmütig und über den Dingen stehend, in Wahrheit aber auf das Einfachste desinteressiert an allem was in der Welt geschah, auch nahezu vollkommen lethargisch eingestellt dem, was seinen Lieben - seinen Lieben, der sich mit Heavy-Metal zudröhnende Bub und die von frigiden Phasen gebeutelte, ihn schon seit dem Beginn ihrer Bekanntschaft sexuell vollkommen unterversorgt zurücklassende Ehefrau - und ebenso ihm selbst den Tag über so begegnete. Vielleicht war er auch nur ein frustrierter, perspektivenloser und viel zu früh gealterter, spießiger deutscher Kleinstadtehemann, gequält durch das Bewusstsein seiner eigenen Unzulänglichkeit, dem Fehlen der Vollkommenheit weswegen ein Mensch wie er ja eigentlich auf diese Welt kam, ein Mann der allzu zeitig seine Freiheit, seine Wildheit, sein sachte revolutionäres Inneres aufgeben musste. Felix interessierte sich hierfür nicht sonderlich, es war ihm letztendlich egal. Er hatte einen Vater, das reichte.
Auf der anderen Seite stand die Mutter. Felix fand es nie wirklich seltsam, dass, wenn ihn irgendjemand nach dem Namen seiner Mutter fragte, er zuerst einmal etwas nachdenken musste wie dieser denn nun lautete. Meistens fiel er ihm auch recht schnell ein, er tat dann trotzdem so als müsse er erst noch überlegen; er hasste es den Namen auszusprechen: Isolde. Davon abgesehen dass dieser Name für seine Ohren vollkommen bescheuert klang, benannte er einen Menschen, der eigentlich nur durch permanentes strenges Hochziehen der Augenbrauen, allzu hektisches und überfordertes Getue schon am Frühstückstisch, vor allen Dingen aber auch durch einen recht ausgeprägten Geruch nach Seife den Mitmenschen in Erinnerung blieb. Für ihn war seine Mutter so eine Art Gouvernante, wie sie eigentlich schon seit dem Untergang des Kaiserreiches ihre Daseinsberechtigung verloren hatte. Vor allen Dingen nervte sie ihn. Schon als kleiner Junge wollte er ihr von den Dingen die er den Tag über so erlebt hatte, am liebsten überhaupt nichts erzählen. Es könnte ja irgendetwas dabei sein was seine Mutter in Aufregung versetzte, etwas worüber sie sich Sorgen machen musste.
Felix wollte nicht dass sie sich Sorgen machte. Wenn sie das tat musste er sich auch Sorgen machen; meistens darüber, wie er seiner Mutter nur den Anlass zur Sorge geben konnte. Sie war immerhin seine Mutter, die Frau die ihn unter Schmerzen geboren hatte, das hatte sie ihm ja auch oft genug erzählt. Der durfte man nicht irgendwelche Beklemmung antun, denn sie wollte ja nur dass ihr Sohn glücklich und gesund ist.
Als er in die Pubertät kam, es mag wohl begonnen haben als er so etwa elf Jahre alt war, war ihm der Mutter gegenüber nichts unangenehmer als dass diese herausfinden könnte, dass er sich nun langsam zu einem Mann entwickeln würde. Er erkannte früh die Freuden der Selbstbefriedigung und wichste bei jeder nur erdenklichen Gelegenheit; möglicherweise aber auch nur so ausgeprägt, wie es die meisten Jungs in seinem Alter taten. Einmal beobachtete er seine Mutter wie sie seine Unterwäsche aussortierte um sie in die Waschmaschine zu stecken. Dabei musste sie die Flecken in den Unterhosen bemerkt haben; er glaubte, dass sie den Kopf schüttelte und so etwas sagte wie: “Dass auch noch!”. Dabei seufzte sie, sah wieder einmal sehr sorgenvoll aus. Felix wäre am liebsten gestorben.
Dass sich die Sorgen seiner Mutter vor allen Dingen aus der Sorge speisten, Sorgen haben zu müssen, wurde ihm einige Jahre später dann eindeutig klar gemacht. Er hatte sich hin und wieder die Frage gestellt, ob sie denn tatsächlich dachte, dass es in seinem jungen Leben keine Probleme gab. Er erzählte ihr nie etwas, wenn sie auch den Verwandten und Freundinnen immer wieder berichtete, wie gut doch das Vertrauensverhältnis zwischen Eltern und Sohn war, man würde sich ja alles sagen können. Tatsächlich schien es ihr ganz recht zu sein wenn Felix seine Angelegenheiten für sich behielt. Es gelang ihm hervorragend sich zu verstellen, keine Mine zu verziehen wenn sein Herz auch in noch so viele Teile zersprungen war. Die Mutter schien nie zu bemerken wie sehr er sich quälte - irgendwann später wusste er dann sehr genau, wie sie es wirklich meisterlich vollbrachte seine Schmerzen zu übersehen -, aber er war auch ein Könner der Selbstbeherrschung. Einer, der am liebsten versuchte sich selbst zu trösten.
Einmal aber funktionierte das Ganze nicht sonderlich gut. Er saß im Wohnzimmer auf dem Sessel, dachte an den Vormittag und den rothaarigen Erich aus der Parallelklasse, der ihm Schläge angedroht hatte, weil Felix an diesem Morgen das lange versprochene Geburtstagsgeschenk für ihn schon wieder nicht dabei hatte. Das Geschenk bestand ursprünglich eigentlich nur aus einem Zweimarkstück, dass er Erich versprochen hatte um mal schnell einen Schluck aus der Bierflasche zu nehmen, die ein paar Jungs in der Mauerecke hinter dem alten Schlachthof kreisen ließen. Als er die zwei Mark dann am nächsten Tag in der Schule nicht dabei hatte, erhöhte Erich den Betrag, zur Strafe auf fünf Mark, die Felix dann gefälligst bis Erichs, am übernächsten Tag stattfindenden Geburtstag abzuliefern hatte. Woher er das Geld nehmen sollte wusste er nicht, fünf Mark waren für ihn eine Menge, so dass der Betrag durch zusätzlich anfallende Strafgebühren auf stattliche zehn Mark anwuchs. Am heutigen Morgen schließlich hatte Erich genug von seinem Schuldner, ging in der kleinen Pause nach der Mathestunde direkt auf ihn zu und verpasste ihm eine schallende Ohrfeige. Ohne ihm Zeit zu lassen sich zu wehren - sich irgendwie gewehrt oder gar zurückgeschlagen hätte er ohnehin nicht, dazu war seine Angst einfach zu groß - versicherte ihm der Rote, seine, Felix, dumme Fresse zu Brei zu schlagen, wenn am nächsten Tag das Geld nicht endlich da wäre. Felix schluckte es.
Am Nachmittag saß er nun auf dem Sessel, hatte Angst vorm nächsten Tag, als seine Mutter das Zimmer betrat und ihn ansah. Irgendwie war sie für diesen Moment wohl nicht in der Lage die Gefühlswelt ihres Sohnes zu ignorieren - dazu waren die Sorgen zu wahrhaftig. Sie setzte sich ihm gegenüber auf das Sofa, sah ihn weiter an, um ihn endlich zu fragen was denn los sei?!
“Nichts”
“Ich seh‘s Dir doch an”, ihre Augenbrauen wanderten nach oben, das Gesicht versteinerte. “Wir haben uns doch versprochen, uns alles zu erzählen!!”
“Es ist nichts!!!”
Sie wurde böse. Er sah, wie sie wütend wurde; mein Gott, wie musste sie ihn hassen!
“Es ist wirklich nichts, ehrlich!”
“Wenn Du Sorgen hast, dann muss ich mir auch Sorgen machen. Du weißt, dass mir Sorgen nicht gut tun?!”
“Es ist nichts!”
Sie entspannte sich wieder, alles war wieder gut, und Felix wusste was er von dieser Frau für sein weiteres Leben zu erwarten hatte: nichts! Wohl hatte sie doch noch einen Anspruch an Ihren Sohn gefunden, nämlich nie auch nur an einem Schimmer seiner Gedanken teilhaben zu wollen! In Ordnung!
Das Problem mit Erich löste er mit einem Zehnmarkschein, den er seinem Vater am Abend aus dem Geldbeutel klaute und am nächsten Tag mit zur Schule nahm.
Isolde selbst war für sich voller Selbstmitleid über ihre Rolle in dieser unguten Welt. In ihrem Elternhaus sah sie sich immer wohl behütet, obwohl sie es als ungerechtes Schicksal empfand als jüngste von vier Schwestern geboren worden zu sein. Die Großen durften immer alles, durften ausgehen, machten gute Schulabschlüsse, ergriffen interessante Berufe und gingen in die weite Welt hinaus. Ach - nur sie musste zu Hause bleiben und der Mutter bei der Hausarbeit helfen. Sie sei zu jung, das war gemeines Geschwätz. Später einmal wusste sie, dass ihre Eltern sie doch nur um die wunderbare Zeit des Wirtschaftswunders bringen wollten; warum sonst war ihre Mutter an Multipler Sklerose erkrankt, musste ausgerechnet von ihr gepflegt werden?! Der Vater arbeitete als Nachtwächter in der Eisengießerei am Güterbahnhof und brachte dabei nicht sehr viel Geld mit nach Hause; gerade genug um die Miete für die Dachwohnung und die notwendigen Lebensmittel zu bezahlen - sie war so sehr wütend darüber dass es allen anderen Menschen besser ging als ihr. Alle anderen Menschen, die sie sowieso nicht beachteten, die sich nur für sie interessierten wenn sie etwas von ihr wollten. Wie ihr Lehrherr, Schneider Lange.
Nachdem sie ihren Volksschulabschluss gemacht hatte, ging sie in seine kleine Schneiderei in die Lehre, einen Block weiter als die elterliche Wohnung. Der Schneider war ein strenger Lehrmeister, ganz besonders streng an dem Tag als er sie in die kleine Abstellkammer zerrte, ihr Höschen unter dem Rock hervorriss und sie in den Arsch fickte. Schließlich wolle er sie ja nicht schwängern, hatte er dabei noch gesagt. Sie ließ es über sich ergehen, verdrängte den Schmerz und spürte nur wenig Ekel als er in ihr kam und verlor hierüber nie mehr ein Wort. Schließlich hatte ihr Vater auch schon einmal den Finger in ihr gehabt; ihre Rolle als Frau war für sie klar.
Bald danach hatte sie Roland kennen gelernt, ein langweiliger und unscheinbarer Typ wie sie meinte. Er lernte auf einer Fachschule irgendeinen Verwaltungsberuf, die Eltern wohl besser gestellt als ihre eigenen, und hatte vor, einen wirtschaftlich gesicherten Lebenslauf einzugehen. Irgendwann heiratete sie ihn, der Sex war zumindest erträglich und mit anderen Männern wollte sie ohnehin nichts ausprobieren, bekam einige Fehlgeburten, um dann endlich nach fast achtzehn Jahren Ehe, gerade noch vor Torschluss, ihren Sohn in die Welt zu setzten. Die an sie gestellten Erwartungen hatte sie erfüllt, jetzt konnte sie ihr gesichertes Leben in Ruhe genießen, sie hatte es sich verdient. Sie hasste den Gedanken dass ihr irgendein anderer dazwischen kommen könnte.