Читать книгу Der Glückliche - Cord Frey - Страница 7

IV

Оглавление

Als er elf Jahre alt war, es war im Sommer, wurde er das erste Mal für eine Lüge vom lieben Gott bestraft. Einige Zeit zuvor hatte er einen Schulfreund besucht, der in einem großen Haus mit riesigem Garten am Stadtrand wohnte. Dieter. Er hatte schon mehrfach bei Dieter übernachtet, jedes Mal ein Mordsspaß. Jetzt wollte er das wieder tun, Dieter wollte das auch, nur die Eltern des Freundes waren damit überhaupt nicht einverstanden. Irgendwann in den Monaten zuvor, als Felix das letzte Mal dort geschlafen hatte, das heißt: dort schlafen wollte, hatten er und Dieter die Nacht zum Tag gemacht, gespensterten die ganze Nacht durch das Haus und brachten viel Unruhe herein, so dass letztendlich die ganze Familie keine Nachtruhe fand. Dieters Eltern hatten dann mit seinen Eltern telefoniert, diesen klargemacht dass sie einen Übernachtungsbesuch von Felix nun nicht mehr wünschten; überhaupt sei er ja ein nervöses und wohl auch ungezogenes Kind. Seine Eltern hatten darauf irgendwie überhaupt nicht reagiert, lediglich als er sich wieder einmal mit seinem Freund treffen wollte ermahnte ihn seine Mutter, sich gefälligst zusammen zu reißen, schließlich wolle sie sich nicht schon wieder Gedanken über das Verhalten ihres Sohnes machen müssen.

An diesem Tag, als die beiden Freunde nun die Nacht gerne gemeinsam, am liebsten in dem kleinen Zelt, das im Garten aufgestellt war, verbringen wollten, war dieser Wunsch von Felix noch nicht einmal vollständig ausgesprochen worden, als Dieters Eltern ihn mit lautem Lachen daran erinnerten wie die Sachlage ja denn nun sei, dass er sich solche Wünsche auch für die Zukunft sofort aus dem Kopf schlagen könnte. Sicher, er durfte zu Besuch kommen, vielleicht nicht zu oft, aber er solle tunlichst am Abend auch wieder nach Hause verschwinden.

Er hatte die Eltern seines Freundes eigentlich immer sehr gerne gehabt, dachte, dass auch sie ihn gut leiden konnten; irgendwie war das nun nicht mehr der Fall. Es war ihm nicht klar warum das nun so gekommen war, eigentlich hatte er nichts getan was die Meinung dieser Leute so ändern konnte, hatte sie nie angelogen, war nie irgendwie frech oder sonst etwas; er war ja eigentlich ein ganz lieber, normaler, aufgeweckter Junge. Vorlaut war er nicht, er ließ sich nur nicht gern, auch und sicher auch gerade von Erwachsenen nicht, von anderen Leuten bevormunden. Oft schluckte er so etwas, fühlte dann eine hilflose Wut in sich heraufsteigen, meistens aber tat er dann doch was er wollte. Heimlich, versteckt zwar, immer hoffend das ihn keiner erwischte; oft kam es dann doch raus und es gab Ärger. Aber so war es bei ihm nun mal, er konnte, wollte nicht anders, er sah es als sein Recht an.

Auch an diesem Abend sah er sich im Recht. Er wollte bei seinem Freund übernachten, Spaß haben, in dem schönen Garten bleiben; auf keinen Fall heute wieder zurück in die Stadtwohnung seiner Eltern. Verdammt, er hatte Ferien, es war warm, die Vögel sangen und er wollte auf jeden Fall dieses kleine Stückchen Freiheit genießen, das eine solche Sache jedes Mal für ihn bot.

Später dann wusste keiner der beiden mehr wer nun zuerst die Idee hatte, Dieters Eltern etwas von einem Überfall, dem zerstörtem Fahrrad und der damit verbundenen Unmöglichkeit nach Hause zu fahren, zu erzählen. Felix verabschiedete sich also nach Hause, fuhr mit seinem Fahrrad zur nächsten Ecke, riss dort, mit Hilfe eines kleinen Schraubenschlüssels aus der Satteltasche den Schlauch aus dem Vorderrad, nahm dann die Kette vom Zahnkranz, schmierte sich Dreck ins Gesicht, um dann humpelnd und scheinbar verheult wieder bei den Eltern seines Freundes aufzutauchen.

Er sagte, man hätte ihn überfallen!

Zuerst ein wenig Überraschung, dann Fassungslosigkeit - ein Überfall in dieser Vorstadtsiedlung? Felix erzählte dann die Geschichte, dass er ein paar Straßen weit gefahren sei und ihn dann ein paar Typen angehalten hätten. Sie hätten Geld von ihm gewollt, als Wegzoll, und ihn dann mit einem Messer bedroht. Dann hätten sie ihm sein Fahrrad weggenommen, es auf den Boden geworfen so dass es kaputt ging. Er hätte dann zusammen mit seinem Rad gerade noch fliehen können.

Die Geschichte die er da erzählte kam ihm selbst reichlich konstruiert vor, es schien aber dass man ihm sie abnehmen würde. Dieters Vater schien aufrichtig bestürzt zu sein; er sagte zu Felix, dass er sich jetzt erst einmal hier im Hause aufhalten solle, er selbst wolle dann Felix‘ Eltern anrufen, die sollten ihn dann abholen. Der Plan schien nicht aufzugehen.

Felix und Dieter gingen die Treppe hinauf, als ihnen die nächste dumme Idee in den Sinn kam. Sie riefen Dieters Vater, schrien aus Leibeskräften, erzählten, dass die bösen Jungs vor dem Haus aufgetaucht seien und nun wohl auf Felix warten würden.

Der Vater rannte mit einem Knüppel in der Hand zur Haustüre raus, stockte kurz - es war ja niemand da - und schien zu verstehen.

Wortlos machte er kehrt, kam ins Haus zurück, nahm Felix auf die Seite und forderte ihn auf, noch einmal genau zu erzählen was sich zugetragen hatte. Felix wurde rot, ihm war klar dass er beim Lügen ertappt war. Und wenn es vielleicht auch nicht ganz allein seine Idee war, er musste jetzt dafür gerade stehen. Das kannte er schon.

Er versuchte sich herauszuwinden, erzählte die Geschichte noch einmal, etwas ausführlicher und geschmückter. Erst als Dieters Mutter meinte, man solle doch die Polizei rufen, brach das ganze Gerüst langsam in sich zusammen. Kurz versuchte er das Ganze noch abzumildern, es sei ja nicht so schlimm gewesen, gab dann aber zu, dass alles an der Sache gelogen war und er sein Fahrrad auch selbst kaputt gemacht hatte; er wollte doch so gerne bei seinem Freund bleiben, und man möge doch, er bettelte, seinen Eltern davon nichts erzählen.

Die aber wurden schon am Telefon von der ganzen Angelegenheit unterrichtet. Abgeholt hatten sie ihn dann nicht, vielleicht aus Ärger, so dass Felix dann zu Fuß nach Hause ging, sein kaputtes Fahrrad an der Hand.

Zuhause klemmte ihn sich sein Vater zwischen die Knie; wenn er seinen Sohn auch sonst nicht anrührte, er hasste es auf den Tod wenn jemand log. Als Felix die Tracht Prügel bezogen hatte, blieb für ihn von diesem Tag nichts außer Demütigung.

Seinen Freund Dieter besuchte er danach vielleicht noch drei oder viermal, dann brach der Kontakt ab. Auch den neuen Namen, denn sich Dieters Eltern für ihn ausgedacht hatten, konnte er nicht ertragen. Sie nannten ihn den ‘Schauspieler’.

Als ihn dann einige Wochen später die göttliche Strafe traf, konnte er diese zuallererst überhaupt nicht als solche erkennen; er hatte die Sache mit Dieter eigentlich schon vergessen, vielleicht auch nur verdrängt, aber seine Angst war im Moment des Geschehens einfach zu groß um irgendwelche Zusammenhänge zu erkennen.

Ein etwas größerer Junge, Jan, den er vielleicht als Erwachsener mit dem Wort ‘Bekannter’ umschrieben hätte, hatte auf irgendeine Weise mit einem verwahrlosten Schrebergarten zu tun, der an einem kleinen Bach lag, der sich durch eine etwas heruntergekommene Wohnsiedlung in einem Viertel neben dem kleinstädtischen Industriegebiet schlängelte. Felix hatte dieses Viertel eigentlich immer gerne gemocht, kleine Zwei- bis Vierfamilienhäuser - erbaut in einem Stil, wie er in den Jahren vor dem zweiten Weltkrieg wohl üblich war -, kleine Vorgärten, meistens Rasenflächen dahinter, ein kleines Bisschen so hatte er sich seine eigene Idylle vorgestellt. Noch mehr gemocht hatte er die Tatsache, dass der große Junge ihn gefragt hatte ob er ihm denn nicht helfen wolle den Schrebergarten wieder etwas herzurichten; er würde seinen Eltern gehören, oder der Großmutter, die einfach zu alt war um sich darum zu kümmern, vielleicht auch irgendeinem anderen Verwandten - etwas unklar war die ganze Geschichte schon, aber sollte das irgendetwas bedeuten? Felix freute sich sehr, wenngleich er den anderen nicht unbedingt leiden konnte. Jan war ein ziemliches Großmaul, ein Angeber der über alles Bescheid wusste, der alles besaß und die tollsten Sachen auftreiben konnte - nur nicht gerade im jeweiligen Moment, dazu waren seine Bezugsquellen einfach zu wichtige Personen, um sie spontan mit einer solchen Kleinigkeit zu belästigen, Leute bei einem Geheimdienst und solches Zeug. Außerdem war er einigermaßen abstoßend - auf einem irgendwie aufgeblähten, fleischigen Körper saß ein Kopf der eher an eine Art Ausstülpung als an ein wichtiges Körperteil erinnerte, mit roten Flecken im sonst bleichen Gesicht. Irgendwie dachte man bei dieser Erscheinung an einen prallen Luftballon, eher vielleicht auch an eine Presswurst, die an den entsprechenden Stellen Abschnürungen zum Ausbilden der Extremitäten hatte. Aber dafür, einmal seine Auffassung von Vorstadtromantik leben zu können, übersah Felix diese für ihn eher unangenehmen Tatsachen sehr gern.

Ein paar Tage zuvor hatte er sich, eher zufällig, mit Jan getroffen – man traf sich mit Jan eigentlich immer nur zufällig; meistens ging man so die Straße entlang und Jan war dann auf einmal irgendwie da - und sie fuhren mit ihren Fahrrädern etwas in der Gegend herum. Irgendwann erzählte Jan dann die Geschichte vom Schrebergarten, machte den Vorschlag, der Felix so beglückte, und zusammen machten sie sich auf den Weg. Zuerst kurz durch das Industriegebiet, dann schließlich in die Siedlung; mit dem Rad nur etwa eine Viertelstunde von der Wohnung der Eltern entfernt.

Ein wenig seltsam war es schon, dass Jan keinen Schlüssel für das Vorhängeschloss an dem kleinen Gartentürchen hatte. Stattdessen stieg er einfach darüber hinweg, forderte Felix auf ihm zu folgen - den Schlüssel würde er das nächste Mal mitbringen -, ging in einen kleinen, einigermaßen intakt erscheinenden Schuppen und setzte sich dort auf eine Holzbank. Felix folgte ihm, setzte sich ihm gegenüber auf eine umgedrehte Holzkiste, hörte zu welch Pläne Jan mit diesem Garten hatte und wie er sich vorstellte diese Ziele zu erreichen. Ein wenig anspruchsvoll klang es schon, exotische Blumen sollten dort wachsen und eine neue Gartenlaube sollte gebaut werden.

Felix war irgendwie nicht wohl bei der Sache. Er glaubte nicht, dass die beiden sich hier aufhalten sollten, die ganze Geschichte hier war doch einfach zu unglaubwürdig; aber trotz der Zweifel blieb er stumm; er kam einfach nicht gegen das großspurige Geschwätz des anderen an. Zwar würde der ihn vielleicht nicht gleich auslachen oder sogar einen Feigling nennen, bei dem wichtigtuerischen Rumgemache des Anderen aber hatte er immer das Gefühl als Verlierer und Idiot aus einer Diskussion hervorzugehen; es war demütigend. Also blieb er still, zog mit, als Jan begann die alten Weinflaschen, die umgekehrt als Wegbegrenzung in die Erde eingegraben waren, herauszuziehen, und steckte sie in eine Plastiktüte die er im Schuppen gefunden hatte.

So arbeiteten sie etwa eine dreiviertel Stunde gemeinsam; Felix hörte zu, welche neuen Dinge der andere zu berichten hatte, dann wollte dieser nach Hause und sie trennten sich mit einer Verabredung für den nächsten Nachmittag, halb vier.

Zuerst wollte Felix dann am nächsten Tag eigentlich nicht zum Schrebergarten fahren; das Wetter war nicht besonders, es hatte die meiste Zeit geregnet, und nach wie vor wollte er der ganzen Sache irgendwie nicht trauen. So sehr gefiel ihn der Garten dann auch nicht; eher waren es ein paar Quadratmeter öder Acker, umgeben von einer verkrauteten Wiese und ein paar krüppeligen Bäumen in diesem fremden Stadtviertel. Als die Sonne dann schließlich herauskam setzte er sich doch noch auf sein Rad und fuhr los. Besser zu dieser Verabredung erscheinen, als dass Jan dann noch bei ihm Zuhause aufkreuzte und ihn wieder einmal als dummen Jungen dastehen ließ.

Er war schnell angekommen und sah schon von weitem, dass außer ihm noch niemand eingetroffen war, kletterte dann über das Gartentürchen, ging zum Schuppen und setzte sich auf die Holzkiste. Etwa eine dreiviertel Stunde hatte er gewartet, dann wurde es ihm zu blöd; er fragte sich ob er denn nicht bereits schon vorher das Gefühl hatte, dass Jan heute nicht auftauchen würde. Endlich stieg er wieder über das Gartentürchen, setzte sich auf sein Fahrrad und fuhr los.

Ein kleines Stück neben dem Garten führte ein Fußweg durch ein dorniges Gebüsch, um dann etwas weiter zwischen zwei Siedlungshäusern wieder auf die Straße zu treffen. Dort bog er ein und sah gleich die Handvoll Jugendliche, alle etwas älter als er, die sich laut lachend miteinander unterhielten. Er hatte augenblicklich ein ungutes Gefühl, vielleicht eine Vorahnung, und wollte nur schnell an ihnen vorbei. Er dachte sich, wenn er nun etwas langsamer fahren würde, dann würde er vielleicht überhaupt nicht auffallen, und das war falsch gedacht.

Gerade war er an der Gruppe vorbeigefahren, als ein etwas größerer Junge laut schrie dass er stehen bleiben solle. Sofort hatte er Felix’ Rad am Gepäckträger gefasst; das Rad stoppte sogleich und Felix fiel herunter. Ob er denn nicht wisse dass das hier ein Fußweg sei, ob er denn das Schild nicht gesehen hätte?! Felix sah kein Schild. Gewiss, der Weg war mit einem Pfosten abgesperrt, Autos konnten hier keine fahren, ein Schild aber, das die Durchfahrt hätte verbieten können gab es nicht.

Für diese laut geäußerte Feststellung gab ihm der andere einen leichten Stoß auf die Schulter, die übrigen Jugendlichen, es waren scheinbar gleich viele Jungs wie Mädchen, glotzten ihn dämlich an und er glaubte, dass sie sich ein Lachen verkneifen mussten. Felix hatte fürchterliche Angst, wenn er doch nur von hier abhauen könnte. Also sagte er, dass er das Schild nun sehen könne, dass es ihm leid täte, er würde es nicht mehr tun.

Das schien halbwegs Erfolg zu haben: der andere erklärte ihm, dass er sich hier nun nicht mehr sehen lassen und jetzt verschwinden solle - das Rad hätte er dabei aber gefälligst schieben!

Felix schob, er weinte. Eine Demütigung, gewiss, aber die Hauptsache war, nicht verprügelt zu werden.

Erst ein paar Meter weit war er gekommen, als die Jugendlichen johlend hinter ihm her rannten. Als sie ihn eingeholt hatten, packte ihn schließlich ein anderer Junge am Kragen, schrie ihn an, er sei doch der, der mit dem Fetten die Flaschen aus dem Garten geklaut hätte. Für diesen Diebstahl gäbe es jetzt Ärger. Felix weinte noch mehr, versuchte zu erklären was Jan ihm am Tag zuvor über den Schrebergarten erzählt hatte; sie nannten ihn weiter einen Dieb. Alle lachten ihn aus - er wusste nur zu genau wie sie sich über seine Schwäche, seine Angst freuten. Und er hatte fürchterliche Angst! Der erste Junge ergriff wieder das Wort und sagte ihm, dass er für diesmal noch davongekommen sei. Dann zog er ein kleines Messer aus der Tasche und stach es in den Vorderreifen des Fahrrades; mit einem Zischen entwich die Luft, der Reifen war sofort platt. Das nächste Mal würden ihm mit diesem Messer die Pulsadern aufgeschnitten, das sei ja wohl klar. Dann ließen sie ihn gehen.

Zu Hause traf er seine Mutter in der Küche an. Sie saß dort am kleinen Tisch, trank Kaffee mit einer Nachbarin, und war über das rote, verheulte Gesicht ihres Sohnes nicht sonderlich erfreut. Schluchzend erzählte er die Geschichte, die ihm widerfahren war. Die Nachbarin schien vielleicht ein wenig entsetzt, schüttelte dazu aber nur den Kopf. Sein Vater kam aus dem Wohnzimmer, hörte sich die Geschichte an, griff zu seiner Jacke und verließ das Haus. Er hatte sich dann mit dem Ehemann der Nachbarin auf den Weg zu der Siedlung gemacht und die Jugendlichen dort tatsächlich angetroffen; die gaben alles zu, eher stolz und frech, es sei nun mal so in ihrer Straße. Damit war für Felix Vater die Sache erledigt, er drohte noch für den Wiederholungsfall mit der Polizei und ging dann mit dem Gefühl nach Hause, den Ansprüchen seines Sohnes genügt zu haben.

Seine Mutter dann sah ihm tief in die Augen. Er wisse ja sicher, dass ihn der liebe Gott hier für seine Lüge bei Dieter bestraft hätte - denn nun sei ja genau das passiert, was er sich damals ausgedacht hatte.

Das stimmte. Und Felix wusste: der liebe Gott hatte ihn bestraft.

Viele Freunde gab es nie. Oft hatte er sich gefragt, sein ganzes bisheriges Leben lang wohl, ob er eigentlich überhaupt jemals unter den ganzen Jungs mit denen er sich so traf, einen wirklichen Freund hatte. Mit Mädchen traf er sich, zumindest bis er seine erste feste Freundin kennerlernte, ohnehin sehr ungern. Er hatte bei diesen immer das Gefühl dass sie ihn nicht ernst nahmen; sicher lachten sie ihn hinter seinem Rücken aus, zumindest aber schienen sie ihn nicht sonderlich zu beachten, sprachen kaum etwas mit ihm - er wusste ja auch nicht viel zu sagen.

Es gab dazu eine Begebenheit die er nicht vergessen konnte, an die er sich manches Mal erinnerte, vor allen Dingen wenn er sich fragte wie ihn die anderen Menschen wohl sahen.

Er war zu einem Geburtstagfest eingeladen. Das Geburtstagskind war der Sohn einer Bekannten seiner Mutter; als die Mütter sich damals kennen lernten und dann einige Zeit miteinander verbracht hatten, hatte Felix auch den Sohn der Bekannten kennen gelernt und sich dann etwas mit ihm angefreundet. Klaus hieß dieser und war überhaupt so sehr anders als er selbst. Mit seinen zwölf Jahren hörte Klaus vor allen Dingen gerne klassische Musik, die, wie Felix meinte, eigentlich eher was für ältere Erwachsene war. Klaus schien sich mit Fragen auseinander zu setzen die Felix nie in den Sinn gekommen wären und wie sie vielleicht in den Köpfen von Leuten auftauchten die irgendwann einmal etwas Wichtiges studieren würden - schließlich ging er ja auch auf das Gymnasium. Auch hatte Klaus‘ Vater einen angeseheneren Beruf als ihn sein eigener Vater hatte; er musste auch einiges mehr an Gehalt bekommen, denn nur so konnte sich die Familie das große Haus leisten, das natürlich auch in dem Viertel der Stadt lag in dem nur so bedeutsame Menschen wie der Zahnarzt zu dem Felix ging, der Chef des Krankenhauses in dem sein Vater arbeitete, und eben auch Klaus’ Vater, der Bankdirektor, wohnten.

Überhaupt, wie sie sich untereinander benahmen. Es schien, als dass es dort nie Ärger unter den Familienmitgliedern gab. Über alles, was wichtig war wurde zuerst einmal diskutiert; auch Klaus’ kleine Schwester, sieben Jahre alt und rotzfrech, sollte dabei ihre Meinung sagen. Letztendlich entschieden die Eltern was zu tun sei, aber es war immer klar, dass sie dabei auch die Wünsche ihrer Kinder berücksichtigten. Überhaupt schienen sie alles, was die Kinder sagten auch sehr ernst zu nehmen und besprachen ihre Probleme in einem ruhigen, und wie Felix auch meinte, sehr klugen Tonfall. Das fand er seltsam; von zuhause war er es gewohnt, dass Vater oder Mutter die Entscheidungen trafen und er sich zu fügen hatte, denn Ordnung müsse ja schließlich sein. Dort gab es auch klarere Worte und nicht so ein klugscheisserisches Herumgemache, von dem sein Vater meinte, dass man damit sowieso nichts auf den Punkt bringen würde.

Klaus’ Familie erinnerte Felix irgendwie an die Lehrer in seiner Schule, an Leute, die immer etwas höher gestellt waren als seine eigene Familie und er selbst. Er fand es eigenartig wie diese Menschen einander behandelten. Und er nahm diese Leute nicht sehr ernst, da war er der Meinung seines Vaters: nicht gescheit labern, sondern reden wie es normale, auf dem Boden gebliebene Leute miteinander tun.

Klaus’ Vater beschäftigte sich in seiner Freizeit mit dem Zusammenbau von irgendwelchen elektronischen Gerätschaften; ein ganz normaler, nicht mit solch wundervollen Gütern ausgestatteter Mann wie sein eigener Vater hatte für so etwas keine Zeit - dem blieb zur Entspannung nur das abendliche Fernsehprogramm.

Zur Geburtstagsfeier waren noch fünf, sechs andere Jungs eingeladen; fast alle kannte er, mit keinem hatte er jemals näher etwas zu tun gehabt. Einer dieser Jungs war Georg, von dem Klaus sagte, dass dieser sein bester Freund sei. Etwas eifersüchtig war Felix schon, schließlich hatte er keinen besten Freund, wollte aber auch nicht unbedingt so sehr viel mit Georg zu tun haben; auch der schien in einer anderen Welt zu leben als er selbst.

Felix war nur froh an diesem Nachmittag dabei sein zu dürfen - er wurde nicht sehr oft zu Geburtstagsfeiern eingeladen. Oft tat es ihm sehr weh, wenn er mitbekam wie die anderen sich auf ein solches Ereignis freuten oder am nächsten Tag davon berichteten. Aber natürlich sah er ein, dass er einfach nicht dazugehören sollte. Die meisten anderen wollten einfach nichts, oder zumindest nicht viel, mit ihm zu tun haben; sie hatten dafür wohl schon ihre Gründe. Beliebt war er nicht, das hatte er akzeptiert. Da verbrachte er seine Zeit, notgedrungen, lieber allein.

Während sie alle so dasaßen und Kuchen aßen hatte Felix nicht sehr viel gesprochen. Zu den Themen um die es ging konnte er ohnehin nicht so sehr viel beitragen; eigentlich hatte er von Anfang an auch nicht zugehört, niemand sprach ihn direkt an, so dass er schnell begriff wie wenig wichtig seine Gegenwart für die anderen Geburtstagsgäste war. Vielleicht waren sie auch einfach nur unsicher, wussten nicht wie sie mit ihm umgehen sollten - er fühlte sich so anders als die anderen es zu sein schienen.

Gehörig unsicher war auch er. Gleich nachdem er das Haus betreten hatte, begann er Faxen zu machen, sprang herum; laut lachend erzählte er Witze - Witze der Art, wie sie sein Vater auch immer erzählte, meistens dann wenn Besuch kam oder man zu irgendeiner Familienfeier eingeladen war. Über die Reaktion der anderen Gäste wunderte er sich nicht sonderlich, denn die Verwandten reagierten oft ähnlich auf die Sprüche des Vaters, verdrehten die Augen, nach dem fünften Mal Erzählen war die Sache nun wirklich nicht mehr sehr lustig, manche lächelten höflich, aber allen sah man an wie peinlich die Situation war.

Auch Felix begann die Peinlichkeit zu begreifen. Und die anderen? Konnten die denn nicht erkennen wie gut er drauf war? Wie gut er drauf sein wollte?!

Nach dem Geburtstagskuchen schickte Klaus’ Mutter alle in den Garten; es war der erste wirklich milde Frühlingstag, die Bande sollte sich im Freien austoben. Für Felix war es herrlich in einem Garten herumspringen zu können. Niemand der hier nicht dazugehörte konnte sich in die Spiele einmischen, niemand rief vom dritten Stockwerk herunter dass nun endlich Ruhe herrschen solle, es konnte auch kein Fußball einfach so auf die Straße rollen; und selbst wenn es geschehen würde: hier fuhren kaum Autos. Die Sonne schien, die Stimmung war ausgelassen, ein schönes Geburtstagsfest, auch die anderen schienen ihn nunmehr als einen Gleichwertigen zu behandeln, alles war gut - so dachte er.

Irgendwann überkam es sie alle; sie rauften, warfen sich zu Boden, zwickten und knufften sich, ein wilder Haufen halbwüchsiger Jungs. Felix warf sich Georg in den Rücken, rang ihn zu Boden und trommelte mit den flachen Händen auf seinen Rücken. Es geschah vollkommen ohne Hintergedanken, wohl nur aus einfacher, nun überbordender Lebensfreude, aber auch mit der Rücksichtslosigkeit wie sie einem gegenüber aufkommen kann, den man zuvor noch gar nicht wirklich leiden mochte. Erst als Georg anfing zu schreien, die Arme über dem Kopf verschränkte und herzzerreißend zu heulen begann, erkannte Felix dass er es übertrieben hatte. Oh, er übertrieb es oft, das war nichts Neues. Georg war aber wohl auch einmal besonders empfindlich, so brauchte man sich ja auch nicht aufzuführen.

Es war still geworden im Garten, die anderen warteten scheinbar ab was als nächstes geschehen würde. Georg hatte sich sofort wieder gefasst, er war jetzt nur ärgerlich, stand dann auf, sagte dass es ihm nun reichen würde, er ginge nach lieber nach Hause. Felix tat es leid, er überlegte, ob er sich entschuldigen müsste, er wollte wirklich niemandem Leid antun, war dann aber still: besser so, jetzt nichts Falsches sagen.

Georg ging ins Haus um seine Sachen zu holen, er machte ernst, und Klaus wurde böse. Er ging auf Felix zu, schrie ihn an, dass, wenn dieser seine Gäste vergraulen würde, er sofort gehen müsse. Felix lachte; nicht weil er ihn nicht ernst nahm, eher weil er hoffte, auf diese Weise die Situation zu entspannen. Weil er hoffte, dass Georg nun doch bleiben wollte und nicht der ganze Nachmittag versaut würde und das sie erkannten, dass alles nur Spaß war. Nicht ernst gemeint, nicht böse.

Georg ging. Felix blieb noch eine halbe Stunde, und als er ging war klar, dass Klaus ihn nie wieder einladen würde.

Was an diesem Nachmittag geschehen war tat Felix leid. Auch, und eigentlich noch viel mehr, tat es ihm leid, dass er das Gefühl hatte bei der Geburtstagsfeier nicht wirklich willkommen gewesen zu sein. Schließlich war er derjenige, der den anderen vertrieb, den Klaus als ‘Gast’ bezeichnet hatte; ihn selbst hatte niemand so genannt. Gedanken darüber, welches Verhalten der Beteiligten nun angemessen gewesen wäre, wollte er sich keine machen. Er versuchte diese Schmach, zu der er selbst fast alles beigetragen zu haben schien - so sah er die Angelegenheit - am liebsten schnell vergessen.

Er wusste nie, ob seine Mutter etwas von dieser Geschichte erfahren hatte. Einige Tage später zumindest sorgte sie dafür, dass er diese nie vergessen würde, dass sie ihm immer als Beispiel für seine Unbeliebtheit haften blieb.

Eine seiner Tanten war zum Kaffeebesuch erschienen, man saß gemeinsam am Esstisch. Durch eine unbedachte Bewegung, Felix wusste nicht wie es geschehen konnte, stieß er die Tasse seiner Mutter vom Tisch. Der Inhalt ergoss sich über den Teppich, und er wusste dass es jetzt Ärger geben würde. Seine Mutter kochte vor Wut, das spürte er, aber sie sagte nur, und das in nicht mal sonderlich lautem Ton, dass er doch gefälligst aufpassen solle. Schließlich drehte sie sich zur Tante, und erzählte dieser, dass es ja kein Wunder sei, dass ‘der da’ keine Freunde hatte, so rücksichtslos wie er nun einmal wäre.

Und Felix wusste, sie hatte recht. So wie er wahr, wahrhaftig war es da kein Wunder, dass niemand sein Freund sein wollte.

Der Glückliche

Подняться наверх