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VI
ОглавлениеFelix’ Schulzeit war im Sommer seines siebzehnten Lebensjahres beendet. Er hatte einen mittelmäßigen Realschulabschluss hingelegt, nicht dass er zu dumm gewesen wäre, es hatte ihn nur nie wirklich sonderlich interessiert was einem Menschen im Unterricht so alles beigebracht werden sollte. Er war auch einigermaßen froh, die Tortur des nicht enden wollendenden In-die-Schule-Gehens hinter sich gebracht zu haben; er konnte die meisten seiner Klassenkameraden ohnehin nicht ausstehen, umgekehrt war es wohl auch so.
Sicher, es gab ein paar Jungs mit denen er sich gut verstand, wenn diese auch nicht pausenlos mit ihm zusammen sein wollten und sich hin und wieder auch Lügen ausdachten um nicht jeden Nachmittag mit ihm verbringen zu müssen, so waren sie für ihn doch seine Freunde - Schulfreunde eben, nichts Ernstes, nichts Dauerhaftes. Oft fuhr er mit dem einen oder anderen auf seinem Fahrrad durch die Wälder am Stadtrand, machte Lagerfeuer in einer alten Kiesgrube; war eigentlich sehr froh, die Dinge zu tun, die ein Junge in seinem Alter seiner Meinung nach so tat. Er konnte an diesen Dingen teilnehmen, auch wenn er dabei oft das Gefühl hatte, dass die anderen sich in seiner Gegenwart nicht immer so sehr wohlfühlten und dass dieses ganze Glück des Dabeiseins doch nur ein allzu zerbrechliches Gebilde, ein Genuss auf Zeit war.
Felix wusste nur zu genau, wie schwierig es für die anderen doch war ihre Freizeit mit ihm zu verbringen. Seine Ansprüche waren hoch; er hatte genaue Vorstellungen wie so ein Nachmittag abzulaufen hatte, und er hatte wenig Verständnis dafür wenn seine Begleiter nicht ganz so mitziehen wollten wie er sich das wünschte. Schließlich hatte er sich, wenn man sich dann in der Schule zu einem Treffen verabredet hatte, den restlichen Vormittag ganz genau überlegt wie alles ablaufen und was man gemeinsam zu erleben hatte. Er hatte sich Gedanken über den perfekten Nachmittag gemacht, seine Ideen waren gut, und wenn die anderen nur mitziehen wollten, würden sie seiner Meinung sein.
Oft wollten diese dann aber nicht und Felix war zutiefst verletzt. Seine Ideen kamen nicht immer an - und es war schlimm wenn er es nicht schaffte sie bei den anderen durchzusetzen. Dann wurde ihm bewusst wie wenig ihn die anderen akzeptierten, wie wenig sie zu schätzen wussten was er für sie tun konnte. Er hatte sie auf die Idee mit der Kiesgrube gebracht, ohne ihn wüssten die doch gar nicht was in aller Welt sie dort anfangen sollten.
Noch schlimmer war es für ihn, wenn ein Junge bei einem solchen Unternehmen auftauchte den er nicht sonderlich leiden konnte. Meist zerfleischte er sich den ganzen restlichen Tag mit der Frage, warum sein Begleiter den anderen überhaupt mitgebracht hatte und ob es nicht ausreichend gewesen wäre, mit ihm, Felix, seine Zeit zu verbringen?!
Er war dann sehr still; während die anderen sich mit einer Sache beschäftigten stellte er sich demonstrativ auf die Seite, tat dann irgendetwas anderes, irgendetwas, dass mit dem Grund warum man an diesen Ort gegangen war, meist überhaupt nichts zu tun hatte. Die anderen beobachteten diese Aufführung meist mit großem Unbehagen und verstanden nicht den Anlass für sein merkwürdiges Verhalten. Dabei wollte Felix doch nur ihre Anerkennung. Er wollte dass sie bemerkten, dass er sich das alles nur für sie ausgedacht hatte; er könnte ihr wirklicher Freund sein, für jeden der beste Freund - sie sollten nur endlich sehen welchen Einsatz er immer wieder für sie brachte. Sie sahen es nicht, und so ließ er die undankbaren Arschlöcher dann alleine und fuhr lieber nach Hause. Von sich selbst wurde er noch nie enttäuscht.
Wie gerne hätte er sich anders benommen und wäre ebenso gerne über seinen Schatten gesprungen, nur dass es ihm einfach nicht gelingen sollte. Mit jedem Tag aber den er ein kleines bisschen älter wurde verstand er auch ein kleines bisschen mehr, warum sein bescheuertes und überhaupt nicht cooles Verhalten bei seinen Schulkameraden nicht ankam und warum sie, wahrscheinlich zu Recht, denken würden, dass er ein wirklich extrem unangenehmer Kerl sei, ein Flachwichser eben. Im Grunde, das war klar, hätte er sich nur für sein blödes Benehmen entschuldigen müssen - vielleicht wäre dann alles gut geworden. Aber, hätte er sich so geändert dass es den anderen aufgefallen wäre, hätte er tatsächlich eine Entschuldigung ausgesprochen, die anderen würden seine Schwäche erkennen: diese Blöße wollte er nicht ertragen müssen. Gerne hätte er es gehabt, dass sie erkannten dass er eigentlich ein freundlicher, liebenswerter Junge war; wenn dieses so mancher nicht vermutet hätte, wäre er sicher nicht mit ihm zusammen gewesen. Er hatte nicht viele glückliche Momente in seinem jungen Leben, das Bisschen was ihm da blieb sollte nur einfach perfekt sein, einfach so, wie es für ihn vollkommen war.
Als die Schulzeit, und damit wahrscheinlich auch die Zeit in der er die Nachmittage mit seinen Kameraden verbrachte, zu Ende ging, beschloss er, in die Jungs nichts mehr zu investieren. Sie mochten ihn als unerträglich in Erinnerung behalten, von ihm aus eben als Idioten; nach der Schule begann eine neue Zeit. Den Menschen denen er dann über den Weg lief sollte ein anderer Felix, einer mit dem man gerne seine Zeit verbrachte und dessen Freundschaft einem auch wichtig war, begegnen. Er wollte einen vollkommenen Neuanfang; etwas, das ihm später auch halbwegs gelingen sollte.
Am Tag des Schulabschlussfestes war er dann aber trotz allem sehr erleichtert darüber, dass seine Klassenkameraden nicht nur bei jedem anderen, mit Namen zur Zeugnisausgabe nach vorne Gerufenem in frenetischen Jubel ausbrachen, sondern dieses ebenso auch bei ihm taten. Vielleicht warf das Neue seinen Schatten voraus; er konnte hoffen.
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Felix nie einen Gedanken über einen natürlich dann jetzt zu erlernenden Beruf verschwendet oder gar geplant, auf sonst irgendeine Art und Weise Geld zu verdienen. Eine Zeitlang einmal überhaupt nichts zu tun, diese Aussicht schien ihm ganz angenehm; Druck von den Eltern bekam er vorerst wahrscheinlich nicht, das bisschen Geld dass er brauchte würde er versuchen von ihnen zu schnorren. Vielleicht erst mal ein halbes, vielleicht auch ein ganzes Jahr - nur herumhängen, ganz etwas anderes machen. Dieser Gedanke war ihm an sich wirklich angenehm; er wusste nur nicht so wirklich, was so anderes er denn eigentlich so genau machen wollte.
Als sie in der Schule irgendwann einmal geübt hatten ein Bewerbungsschreiben zu verfassen war es der Lehrerin sehr wichtig, dass die Schüler in ihrem Lebenslauf auch etwas über ihre Hobbys oder andere Dinge mit denen sie sich im Privatleben beschäftigten, hineinschrieben. Felix war nichts eingefallen; zuhause tat er am liebsten gar nichts, vielleicht herumballern auf seinem Computerspiel, allerhöchstens noch Musik hören. Zeug, das den ganzen Tag im Radio lief, mehr eigentlich nicht. Er hatte nie irgendwelchen Vereinen angehören wollen, denn er wusste nicht was man in einem solchen Zusammenschluss überhaupt zu suchen haben könnte. Mit anderen Leuten gemeinsam irgendwelche Dinge tun, die diese wiederum dann doch auch nur taten um ihre Zeit totzuschlagen - das wollte er nicht!
So hatte er nichts mit dem er sich beschäftigen konnte, seine Eltern schienen dankenswerterweise einzusehen dass der Junge jetzt erst einmal eine Pause brauchte, und so tat er das, was er eigentlich schon lange einmal machen wollte: er ging das erste Mal in seinem Leben in eine Kneipe.
Die Kneipe, die sich Felix ausgesucht hatte war eine ganz besondere; zumindest für ihn. Er wollte nicht in irgendeine Kaschemme, irgendeine Eckkneipe, wie solche, in die sein Vater oft verschwand wenn ihm das häusliche Eheleben einmal mehr allzu viel abzuverlangen schien. “Mal gepflegt einen heben” nannte es sein Vater, “sich zur Besinnungslosigkeit saufen“ seine Mutter, und das vor allen Dingen dann, wenn der Vater weit nach Mitternacht mit einem meist sagenhaften Alkoholpegel wieder zu Hause erschien und vor lauter Doppelbildern im Gehirn auch gerne mal die einzelnen Stufen im Treppenhaus übersah. In der Regel verursachte er dabei einen Heidenlärm, manchmal sang er auch und schimpfte bisweilen etwas vor sich hin; wahrscheinlich wegen irgendwelcher rosa Elefanten die ihm dann begegneten - zumindest stellte sich Felix das so vor.
Seiner Mutter schien es schon lange gleichgültig geworden zu sein wenn ihr Ehemann in einem solchen Zustand dann den Weg in die eheliche Wohnung zurückgefunden hatte; in dieser Nacht hatte sie dann vor ihm ihren Frieden, in den ein, zwei folgenden Nächten sowieso, da arbeitete das schlechte Gewissen in ihm.
Ein ungeheures Theater veranstaltete sie am folgenden Tag dann trotzdem jedes Mal. Meist schrie sie ihn an und warf ihm vor, was sich denn die Nachbarn dazu für eine Meinung bilden sollten; wohl wissend, dass die Nachbarn sich eher schon an die Treppenhausgeräusche als an ihr Gekeife gewöhnt hatten. Das Geschrei, zusammengenommen mit den vorwurfsvollen Blicken die der Vater meist in den nächsten Tagen von den Nachbarn zugeworfen bekam, jedenfalls glaubte dieser dass es so sei, steigerte das schlechte Gewissen nicht unerheblich. Felix’ Mutter genoss es sichtlich ihren Mann so zurückhaltend, fast duckmäuserisch zu erleben, sein Vater hingegen sah in dem sichtbaren Hochgefühl seiner Frau nichts anderes als die Bestätigung seiner Unvollkommenheit. Tief in sich drin wusste er dass sie recht hatte; er wollte es aber nicht anders, brauchte diese Trunkenheitszustände so sehr. Ein gepflegtes Gespräch unter gleichgesinnten Männern, wenn es denn auch so oft in besoffenem Gegröle endete.
Was Felix brauchte war etwas vollkommen anderes. Er wollte endlich andere Leute treffen, sie kennen lernen, eben vielleicht auch Freunde finden. Gleichgesinnte sollten es auch hier sein, wenn ihm zu diesem Zeitpunkt auch nicht ganz klar erschien worin denn die Gemeinsamkeiten liegen könnten; er würde sich schon anpassen, das war für ihn kein Problem.
Er hatte sich den ‘Schimmelpilz’ ausgesucht, ein Laden, den schon von weitem ein eher verruchter Hauch umwehte. Der ‘Schimmelpilz’ lag in einer kleinen Seitengasse in der Innenstadt und bis auf die Straße hörte man dort die Heavymetal-Klänge die Felix seit kurzem so geil fand. Irgendwo, er konnte sich nicht mehr genau erinnern, hatte er ein paar solcher Lieder gehört und sie gefielen ihm auf der Stelle. Schnelle Rhythmen, harte Gitarrenriffs - das konnte etwas für ihn sein; mehr auf jeden Fall als die ganze Popscheiße, die den lieben langen Tag über im Radio rauf und runter dudelte. Er hatte sich dann ein paar CDs zugelegt mit Gruppennamen die ihm bekannt vorkamen. Solche hatten seine Schulkameraden damals auch schon gehört und es machte auch nichts, dass die ganzen Gruppen vielleicht schon nicht mehr wirklich aktuell waren. Die Musik schien sein Lebensgefühl anzusprechen, sie hatte etwas Zeitloses.
Zunächst aber einmal musste er die anderen kennen lernen - und davor hatte er Angst. Er war bisher noch nie einfach irgendwo wirklich selbstsicher herein marschiert, diese Kneipe aber wollte er auf jeden Fall ausprobieren, es würde schon gut gehen. Sicher, er erwartete dort auch Leute die vielleicht auch einmal gerne eine Schlägerei vom Zaun brechen würden, Rockertypen. Sie müssten sich ja aber nicht automatisch gleich mit ihm anlegen, er würde schon nicht als erstes die Jacke voll bekommen.
Als er sich dann eines Spätnachmittags endlich dazu entschlossen hatte den ‘Schimmelpilz’ zu besuchen wurde er zuallererst einigermaßen enttäuscht. Die Kneipe war noch geschlossen, öffnete erst abends um sieben.
Er war wirklich unzufrieden als seine Spontanität, die ihm den notwendigen Mut geben sollte den Blicken zu begegnen, zunichte schien. Den Blicken, die ihn mit Sicherheit treffen würden wie sie wahrscheinlich jeden treffen, der als Neuankömmling irgendwo in irgendetwas hinein geriet.
Noch nie war es ihm gelungen jemand anderem länger als nur einen Moment in die Augen zu sehen. Er fürchtete, der andere könnte sich durch seinen Blick provoziert fühlen; er hätte nicht gewusst was er hätte sagen sollen, sollte ihn deswegen einer ansprechen oder gar unfreundlich werden. Wenn er den Blicken nicht begegnen konnte hatte er ohnehin das Gefühl, die anderen würden sich ihm dadurch überlegen fühlen. Nie wieder hätte er dann die Möglichkeit, dass sie in ihm einen Gleichwertigen erkannten.
Es war jetzt kurz nach fünf, er wusste nicht was er mit der Zeit die ihm blieb bis es endlich sieben Uhr wurde, anfangen sollte. Ihn verließ der Mut. Die ganze Sache lieber ein anderes Mal wagen, das schien ihm für den heutigen Tag sinnvoller zu sein. So ging er wieder nach Hause.
Es hatte dann noch zwei Wochen gedauert, ehe er das nächste Mal vorm ‘Schimmelpilz’ stand. Immer wieder hatte ihn der Mut verlassen, und auch eine Art angeborene Schwerfälligkeit spielte dabei eine erhebliche Rolle; sein Leben lang schon und immer ohne besonderen Anlass fiel es ihm immer wieder einmal ganz besonders schwer seinen Hintern in die Höhe zu bekommen, um eine schon lange geplante Sache durchzuziehen.
Einen Großteil dieser vierzehn Tage verbrachte er auf dem Bett liegend, hörte seine neue Musik und soff literweise Bier.
Das war auch so etwas, etwas dass sich für ihn zu einer Ausdrucksform für sein neues Leben entwickelt hatte. Sicher, er hatte früher schon hin und wieder mal ein Bier trinken dürfen, meist an irgendwelchen Familienfeiern oder an Weihnachten, nach der Bescherung am Heiligen Abend. Dort geschah es dann in der Regel ohnehin, dass sich Mutter und Vater, jeder für sich, die Lampe ausgossen; sein Vater schlief dann meistens sehr früh schon auf der Küchenbank ein, seine Mutter begann dann irgendwann fürchterlich zu heulen, ob des durch das Verhalten ihres Ehemannes solcherart verdorbenen Weihnachtsfestes. Normalerweise trank sie dann noch drei, vier mittelgroße Gläser eines abartig süß riechenden Likörgesöffs, um dann, teilweise recht heftig schwankend - sonst trank sie ja auch nicht viel, in Richtung Schlafzimmer zu verschwinden. Wenn sich dann ihr Sohn sogar eine Alkoholvergiftung zugezogen hätte, sie hatte genug mit ihrem eigenen Leid zu tun.
Felix selbst hingegen hatte bis vor kurzem noch nie einen Rausch erlebt; es interessierte ihn bis dahin auch nicht sonderlich wie sich so etwas anfühlen könnte. Er fand es einigermaßen witzig, welchen Gesichtsausdruck die Leute bekamen wenn sie heftig einen über den Durst getrunken hatten, das war auch schon alles.
Vor einigen Tagen nun war er in den Supermarkt gegangen, er wusste nicht einmal ob er eigentlich hätte volljährig sein müssen um dort Alkohol einkaufen zu dürfen, und hatte sich eine Palette Dosenbier besorgt. Das Bier war billig, und die Kassiererin hatte nicht einmal aufgesehen als sie ihm den Betrag, den er zu zahlen hatte, nannte, sein Geld nahm und in die Kasse steckte. Die Palette hatte er dann zu Hause neben sein Bett auf den Boden gestellt, die Musik bis zum Bersten der Lautsprecherboxen aufgedreht und mit wahrer Freude eine Dose nach der anderen geöffnet und ausgetrunken. Schnell bekam er ein wirkliches Hochgefühl: so mussten sich die anderen Jungs auch fühlen: wild, cool - und vor allen Dingen: wirklich frei!
So stand er also wieder vor der Kneipe, von deren Betreten er sich ach so viel, im Grunde doch nur ein neues Leben erhoffte. Schon lange, dass war ihm in den vergangenen zwei Wochen klar geworden, ging es ihm nicht mehr nur um irgendwelche Freunde; er wollte ein so richtig wilder, nach Möglichkeit recht gefährlich wirkender Typ werden. Die Leute sollten Respekt vor ihm bekommen, er wollte wilde Partys, Rockkonzerte - das sollte jetzt in seinem Leben eine Rolle zu spielen beginnen! Und er wollte endlich eine Frau!! Er wollte sich verlieben, eine Freundin haben, die ihn küsste wenn sie sich begegneten, jemanden zum Festhalten. Und natürlich wollte er endlich Sex! Endlich erfahren wie das so ist, wie es sich anfühlt eine Frau zu vögeln!
Die gleichen Sorgen wie beim ersten Versuch, den ‘Schimmelpilz’ so locker zu entern, plagten ihn auch jetzt wieder. Er hatte sich extra eine enge Jeans, ein verwaschenes T-Shirt und seine Lederjacke angezogen; das sollte eigentlich die richtige Kleidung sein!? Endlich nahm er sich zusammen und ging durch die Tür.
Drinnen war er zuallererst etwas erstaunt: es sah doch ein wenig anders aus als er es sich vorgestellt hatte. Durch das Wabenglas der Fensterscheiben war von außen nichts zu erkennen, aber er vermutete dass es dort, dem Ruf entsprechend, eher wie auf einer Müllhalde statt wie in einer Hardrock-Tränke aussah. Wie so eine Tränke aussehen sollte wusste er selbstverständlich auch nicht, aber auf den ersten Blick erkannte er dass der ’Schimmelpilz’ wohl ein klassisches Beispiel hierfür sein musste. In einem großen, rechteckigen Raum stand eine Theke, die sich wie ein langgestrecktes Hufeisen fast bis zur Eingangstür zog, Barhocker waren darum angeordnet. Links und rechts der Theke waren bogenförmige Bänke mit runden Tischen in jeweils einer Reihe aufgestellt. Die Tische hatten Brandflecke und Ränder von Gläsern, sahen überhaupt aus als hätte man sie schon länger nicht abgewischt, darüber hingen vergammelte Korblampen die einen ausgesprochen schummrigen Lichtschein verbreiteten. Links neben dem Eingang stand ein Billard-Tisch und ein Kicker, da würden wohl die ganz Harten ihre Spiele veranstalten. Die Wände waren von einer vergilbten, von Nikotin schon fast speckigen, hellen Blümchentapete bedeckt; Poster mit irgendwelchen Monster- und Fantasy-Motiven hingen daran, ein oder zwei Plakate von vergangenen Rockkonzerten. Wie der Fliesenboden hätte die gesamte Einrichtung dringend eine Grundreinigung benötigt. Schwerer Rock-Rhythmus dröhnte durch den Laden und kurzgesagt schien er sich in das genaue Gegenteil seiner elterlichen Wohnung begeben zu haben - Felix gefiel es außerordentlich gut.
Außer ihm saßen an einem der Tische noch zwei Typen mit langen Haaren und Jeanshemden. Sie musterten ihn nur kurz und er setzte sich an die Theke; eine nicht mehr ganz so junge, dabei ziemlich hagere Frau mit langen roten Haaren begrüßte ihn freundlich und fragte, was er denn gerne zu Trinken wolle.
Sein erstes Bier hatte er recht schnell ausgetrunken; er fühlte sich jetzt ein wenig lockerer, und die Frau hinter dem Tresen gefiel ihm auch irgendwie; wahrscheinlich würde er sich auf die heute Nacht einen runterholen, so als Erinnerung auf den ersten Eindruck hier, in etwa.
Irgendwann füllte sich der Gastraum: Typen, wahrscheinlich keiner älter als fünfundzwanzig, die meisten mit langen Haaren und nicht unbedingt gepflegter Kleidung. Viele von ihnen schienen sich zu kennen, redeten und soffen miteinander, zwei spielten Billard.
Dann setzten sich Leute an den Tresen, auf die freien Plätze links und rechts von ihm, und begannen ihn anzulabern: belangloses, betrunkenes aber dennoch freundliche Geschwätz – Felix laberte mit; und er fühlte sich dazugehörig.
Irgendwann war er solcherart betrunken, dass er mit jedem neuen Schluck würgen musste. Aber er und die anderen hatten miteinander geredet, gelacht. Niemand hatte ihn dumm von der Seite angemacht oder sonst in irgendeiner Form abfällig behandelt. Scheinbar akzeptierten sie ihn, und das war ein gutes Gefühl. Als er sich dann schließlich auf den Nachhauseweg machen wollte, für heute war es genug - nicht gleich beim ersten Mal übertreiben, forderte ihn einer der anderen auf sich doch bald mal wieder blicken zu lassen, sie wären fast jeden Abend hier.
Felix war aufrichtig glücklich!
Zu Hause erwartete ihn seine Mutter, wollte wissen wo er gewesen sei und warum er in einem solchen Zustand nach Hause kommen würde; um Gottes Willen: die Nachbarn!
Die Ohrfeige, die er als Reaktion auf sein betrunkenes Lachen und die Bemerkung, dass ihr das doch egal sein könne, wie ihr ja sonst auch immer alles was mit ihm zu tun habe egal wäre, spürte er durch den Alkoholnebel nicht sonderlich. Sie kochte, umso mehr als sie sehen musste, dass der Schlag auf das Ohr sein Grinsen nicht von seinem Gesicht wischen konnte, sagte aber nichts weiter und funkelte ihn nur an; jetzt musste sie sich wieder einmal Sorgen machen - Pech für sie!
Felix ging in sein Zimmer, zog sich aus und legte sich ins Bett, um sich sogleich wieder aufzurichten und auf den Teppich zu kotzen.
Er hatte es geschafft, hatte Leute kennen gelernt. Leute die sich für ihn zu interessieren schienen. Er war ein genauso wilder Geselle geworden wie sie, an nur einem Abend; so sollte es sein, so wollte er es.