Читать книгу ADHS bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen - Cordula Neuhaus - Страница 11
Hypothesen und Theorien
ОглавлениеVerhaltensforscher überlegten lange, ob nicht eben doch mangelnde Einübung von Regeln in der Erziehung oder zu wenig Gleichmäßigkeit im Alltag die Ursache für die typischen Verhaltensmuster bei ADHS sein könnten.
Inzwischen behaupten manche »Kritiker«, dass alles, was ein Mensch tue, für ihn Sinn mache, da er es sonst nicht täte – unter der orthodox-psychoanalytischen Annahme, dass auffällige Kinder mit ADHS-Symptomen raffinierte Mechanismen entwickelten, um ihre »nicht verarbeiteten (negativen) Erfahrungen loszuwerden« – d. h. alle Schwierigkeiten sind, so die Grundannahme und -behauptung, reaktiv entstanden.
Einzelne (wohl eher populärwissenschaftliche?) Neurowissenschaftler versuchen nach wie vor, ihre Erkenntnisse über das Zusammenspiel von Anlage, Umwelt und dem sich entwickelnden Gehirn (speziell bezüglich dessen Plastizität) im Sinne der psychodynamischen Sicht entgegen die vielfältigen gut belegten Befunde der Genetik oder der Neuropsychologie zu ADHS zusammenzutragen.
Eine nicht unerhebliche Zahl psychoanalytisch denkender/handelnder Fachleute vermutet bis heute, dass Kinder »hyperaktiv« reagierten, weil sie entweder unbewusst schon vor der Geburt abgelehnt worden seien oder Bindungsstörungen zu ihrerseits traumatisierten, bindungsunsicheren Müttern entwickeln würden, welche selbst Schwierigkeiten mit der Stressregulation haben. Entsprechend erlebten diese Mütter beispielsweise ein schreiendes Baby vor allem als Stress und könnten nicht angemessen fürsorglich reagieren. Dies könnte schon den Boden für entstehende Gewalt gegenüber dem Kind bereiten. Verbunden damit ist die Forderung, das Kind möglichst schon früh im Leben psychoanalytisch zu behandeln.
Der Begriff Trauma wird derzeit leider sehr schnell benutzt. Dabei zeigen Beobachtungen und Untersuchungen, dass selbst bei katastrophalen Ereignissen (wie zum Beispiel die Zerstörung des World Trade Centers am 11.09.2001) etwa acht bis neun von zehn Personen damit zurechtkommen, ohne eine Störung zu entwickeln.
Viele Sozialmediziner, Sozialpädagogen, Sonderpädagogen hinterfragen einen »biologistisch inspirierten Normalitätsbegriff«, was bedeutet, dass sie sich dagegen wehren, dass Kinder mit chemischer Korrektur ihrer scheinbar unzureichenden Steuerungsmechanismen im Gehirn zu erwünschten »normalen« Verhaltensweisen gebracht werden sollen.
In der systemischen Theorie geht man davon aus, dass das Kind seine Realität und Umwelt selbst gestaltet und mit seinen Möglichkeiten des Verhaltens reagiert – mit der Einschätzung, dass das typische Verhalten eines Kindes mit ADHS Ausdruck einer sinnvollen Selbstorganisation des Bewusstseins sein könne und als Ausdruck der Selbstbestimmung des Betroffenen verstanden werden müsse.
Entsprechend wird für die frühe Bildung hierzulande gefordert, auf kindliche Neugier und natürliche Lernbereitschaft zu vertrauen, mit der Forderung, dass Erwachsene ihnen vor allem helfen müssten, aktive Erforscher ihrer Lernumwelt zu werden. Bei diesem Vorgehen besteht die Vorstellung eines freien, unabhängig selbstmotivierten Kindes, das eigenständig Wissen erwerben will und kann – Leitbild sogar in der sonderpädagogischen Praxis!
Die Kinder mit Lernstörungen (oft in Verbindung mit ADHS) profitieren belegbar nicht von diesen kindzentrierten freien Ansätzen, erfahren auch keine Unterstützung durch »indirekte« Ansätze wie sensorische Integration, Psychomotorik, Kunst- oder Musiktherapie bei ihren ganz konkreten Schwierigkeiten, sich Grundfertigkeiten des Lesens, Schreibens, Rechnens aneignen zu müssen.