Читать книгу ADHS bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen - Cordula Neuhaus - Страница 13

Einige kritische Worte

Оглавление

Es ging in den vorigen Abschnitten nicht um eine generelle Infragestellung oder gar Abwertung der Psychoanalyse und deren Denkmodellen und Behandlungsansätzen an sich. Dasselbe gilt auch für die klassische systemische Familientherapie.

In jüngster Zeit wird jedoch nicht nur über Literatur und Vorträge vermehrt ADHS als eigenständiges Störungsbild mit neurobiologischem Verursachungshintergrund abgelehnt von offensichtlich regelrecht »konfessionell« anmutenden Fachleuten in der »kritischen Medizin«, Psychoanalyse und Systemtheorie mit einem heftigen Überschwappen in die Pädagogik und Sonderpädagogik. Alarmierend ist vielmehr, dass auch in den Ausbildungen der Sozialpädagogen, Sozialarbeiter und Heilpädagogen entweder völlig veraltetes oder sehr merkwürdiges »Wissen« vermittelt wird.

Im sogenannten »multiperspektivisch-sozialpädagogischen Fallverstehen« geht man konkret so weit, dass es zwar eine medizinische und eine psychologische Diagnose geben mag (in der z. B. ein Störungsbild beschrieben wird, der kognitive und emotionale Entwicklungsstand), diese aber durch eine »systemische Netzwerkdiagnose«, der Struktur und der Dynamik der Familie und deren soziale Einbindung zu erweitern sei.

Pädagogisch müsse man die Funktionsbereiche der Motorik, der Wahrnehmung, des Gedächtnisses und des Verhaltens einschätzen, um eventuellen Förderbedarf festzustellen.

Die sozialpädagogische Diagnose »rundet« das »multiperspektivistisch-sozialpädagogische Fallverstehen« ab und beinhaltet jeweils Einschätzungen der sozialen Intelligenz, des Sozialverhaltens, der Rollenzuschreibung, des Selbstwerts, der Strategien zur Lebensbewältigung und der Ressourcen. Dabei wird dann ganz klassisch heruminterpretiert über Frühverwahrlosung, psychosoziale Regulationsstörungen und Bindungsunsicherheiten. Im Team müsse dann vorbesprochen werden, wie beispielsweise eine »Selbstüberforderung« einer Mutter abgebaut oder Beziehungen und Erziehungskompetenzen »geklärt« werden könnten.

Spieltherapie zur Klärung von Geschwisterkonflikten wird dann selbstverständlich angeboten, gezielte Hilfe zum Beispiel bei den Hausaufgaben durch eine »sozialpädagogische Familienhilfe« oder die Suche nach einer geeigneten Schule jedoch nicht.

Bei solchen Ansätzen, die beispielsweise Mitarbeiter des Jugendamtes in ihrer Sichtweise vornehmen, reflektiert das Team dann, ob es eine Familie über- oder unterfordert, welche Rahmenbedingungen nötig seien, damit Veränderungen zugelassen werden können, welche Strukturen hinderlich oder förderlich in dieser Arbeit sind – und welche Fördermethoden von hyperaktiven Kindern in der Einrichtung des Teams erwünscht, akzeptiert, abgelehnt oder tabuisiert sind.

Es geht hier nicht darum, engagierte Mitarbeiter im Helfernetz schlecht zu machen, aber ein solches Vorgehen ist gerade bei ADHS und Begleitstörungen wenig bis nicht hilfreich, oft sogar verschlechternd, dauert lang und kostet viel.

Je mehr Fachleute sich vor den belegbaren, evidenzbasierten Möglichkeiten verschließen, Betroffenen mit ADHS wirkungsvoll zu helfen, desto bunter wird das Angebot an unterschiedlichsten »Helfern«, selbsternannten Coachs, angeblich hilfreichen »Kügelchen« und Nahrungsmittelergänzungen.

Leider wird von vielen Therapeuten, die psychoanalytisch oder tiefenpsychologisch fundiert arbeiten, behauptet, dass alle psychischen Störungen mit allen Behandlungsansätzen der Richtlinienpsychotherapie behandelbar seien. Bei ADHS ist als effektive Behandlungsmethode wissenschaftlich jedoch nur die Verhaltenstherapie belegt.

Hierbei scheint es keine Rolle zu spielen, dass es nicht wenige Kinder und Jugendliche mit Lernstörungen gibt, die (noch) nicht über eine ausreichende Fähigkeit verfügen zu planen, sich zu organisieren, strategisch vorzugehen sowie notwendige Lern- und Gedächtnisstrategien nicht hinreichend beherrschen, nicht ausreichend konzentriert sind – und die am besten lernen, wenn eine Lehrkraft gut geplant schrittweise übend und schnell konkret rückmeldend ihnen hilft, »richtig« wahrzunehmen und umzusetzen.

Mit dem Vorwurf, dass Eltern und auch Lehrer sich eine organische Verursachung in biologistischer oder reduktionistischer Sichtweise der Medizin wünschten, wird beispielsweise als eine pädagogische Kernfrage formuliert, wenn ein Kind sich nicht richtig konzentrieren kann: »Welches emotionale Beziehungsangebot muss ich anbieten, damit das Kind innerlich zur Ruhe kommen und sich auf ein Sachthema konzentrieren kann?«

Entsprechend wird kritisiert, dass man eine Teilleistungsstörung, ein Merkfähigkeitsdefizit oder Ähnliches als »monokausale Erklärung« in einer »Oberflächenstrukturdiagnostik« mit vielen Trugschlüssen in vermeintlicher Exaktheit diagnostiziere. Mit einer Vermischung von Beschreibung und Erklärung der Verhaltens- und Leistungsprobleme würde »gewagt simplifizierend« direkt auf Funktionsstörungen des Gehirns zurückgeführt.

Wird mit aktuellsten Erkenntnissen aus den Neurowissenschaften auch bezüglich anderer Störungsbilder argumentiert, heißt es speziell von psychodynamisch oder systemisch denkenden Fachleuten, »man habe eben eine andere Sichtweise«. Es wird auch gefragt, warum man diese nicht »stehen lassen könne«. Hilfsweise wird dann auf einen »Schulenkrieg« der Psychotherapieansätze verwiesen.

Für Eltern von Kindern mit auch nur geringsten Schwierigkeiten wird es generell zunehmend problematisch, sich zu orientieren, da mittlerweile frühe Bildung und Schule an sich neu erfunden wird in systemisch-konstruktivistischer Richtung. Das bedeutet, dass man keinen Entwurf darüber vorlegen könne, wie Schüler und Lehrer miteinander lernen sollen. Es gehe darum, wie man lernen wolle. Lernen solle nicht zum Problem gemacht werden mit der Hypothese, dass das Erfinden neuer Lernwelten im Prozess des Redens und der Erarbeitung von Handlungsübereinkünften entstehe.

Konkret heißt das: Kinder sollen schon sehr früh (d. h. bereits im Kindergarten!) selbstständig, eigenständig, selbstmotiviert entdecken, forschen, sich in der Freiarbeit entscheiden und sich im Team und Gruppenprozess positiv einbringen. Kinder sind aber keine zu klein geratenen Erwachsenen.

ADHS bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen

Подняться наверх