Читать книгу ADHS bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen - Cordula Neuhaus - Страница 7
1 Einleitung ADHS – ein Spiegelbild heutiger Lebensbedingungen für Kinder?
ОглавлениеNach wie vor wird immer wieder von Kritikern und Skeptikern (mit und ohne spezifischen ideologischen Hintergrund) behauptet, dass unzulässigerweise der Einfachheit halber unterschiedliche Verhaltensstörungen unter der Diagnose ADHS zusammengefasst würden. Dabei seien die Auffälligkeiten wohl eher gesellschaftlich bedingt und ein Ausdruck von offensichtlich beeinträchtigten »Normalitätsvorstellungen«. Die Gesellschaft müsse sich eben ändern und schwierigen Kindern mehr Zeit und Zuwendung widmen. Das neurobiologische Erklärungsmodell des typischen »abweichenden« Verhaltens bei ADHS wird abgelehnt und die medikamentöse Behandlung als moralisch verwerflich verurteilt. Eine Journalistin fasst dies so zusammen:
»Eine minimale zerebrale Dysfunktion schränkt die Steuerungsfähigkeit des Gehirns ein, und fertig ist das Störungsbild – mit oder ohne Begleiterkrankungen, mit unterschiedlichen Ausprägungsgraden, die sich auf das Lernen, Verhalten und die Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen auswirken, die den Generalverdacht entkräften sollen, dass es sich bei ADHS um eine Modediagnose, Wunschkrankheit oder auch einen listig aufgefädelten Schachzug der Pharmaindustrie, Ärzteschaft und Psychologenzunft handelt, über die Erfindung neuer Krankheiten Kundenbindung zu betreiben« (Psychologie Heute 12/05).
2005 und 2008 berichtete »Spiegel-TV« sehr seriös in ausführlichen Sendungen über Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit ADHS. Die ARD strahlte den Film »Keine Zeit für Träume« 2014 und 2016 wiederholt aus. Ab und zu gab es auch von anderen Sendern mal gute kurze Beiträge – dennoch ist der Tenor der Presseberichterstattung bis heute, ADHS sei eine »erfundene« Krankheit.
Angesichts der Tatsache, dass bereits im Oktober 2002 am Bundesministerium für Gesundheit in einer interdisziplinären Konsensus-Konferenz zur Verbesserung der Versorgung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) zwölf Eckpunkte formuliert wurden und im August 2005 die Kurzfassung der Stellungnahme der Bundesärztekammer (der Vorstand) zu ADHS veröffentlicht wurde (nachfolgend im November 2005 ein Fragen-Antworten-Katalog ebenda), wirkt eine solche Aussage doch verwunderlich.
Die Schilderungen der Symptomatik im Kindes- und Jugendalter sind seit »Urzeiten« dieselben:
Bereits 250 v. Chr. klagt eine Mutter in einer Ode von Herondas über einen Jungen, der ihr den letzten Nerv raubt, nicht richtig lesen kann, die Tafel mehr verkratzt, als schön darauf zu schreiben, keine Hausaufgaben macht, mühsam Gelerntes schnell wieder vergisst, überall herumturnt, ständig irgendwelchen Blödsinn macht und »falsche« Freunde hat!
Später erkannte man solche Kinder im Zappelphilipp von Heinrich Hoffmann (1844) oder im Michel von Lönneberga von Astrid Lindgren mit seinen vielen impulsiven und kreativen Ideen wieder.
Die motorische Unruhe galt bei der Störung, die man heute ADHS nennt, über viele Jahre bei jüngeren männlichen Kindern als Hauptsymptom. Man bezeichnete sie als zu lebhaft, zu nervös oder später als »hyperaktiv«.
1902 beschrieb der englische Kinderarzt George Still nach systematischen Beobachtungen ergänzend eine abnorme Unfähigkeit, die Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten. Er beobachtete auch, dass diese Kinder immer eine extreme emotionale Reizbarkeit zeigen sowie sofortige Befriedigung der eigenen Bedürfnisse brauchen. Nach seiner, von der damaligen sozialdarwinistischen Weltanschauung geprägten, Meinung litten diese Kinder an einem »Defekt der moralischen Kontrolle«. Er beobachtete diese Symptome ausschließlich bei Kindern, bei denen man nicht die Erziehung dafür verantwortlich machen konnte, weil sie aus »gutem Hause« stammten.