Читать книгу ADHS bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen - Cordula Neuhaus - Страница 17
Оглавление3 Der lange Weg zur Diagnose
Bericht einer Lehrerin der 5. Klasse der Realschule
Max ist sehr leicht ablenkbar und in hohem Maß unkonzentriert. Er stört nicht bewusst, sondern ist ständig mit Dingen beschäftigt, die nicht zum Unterricht gehören, und hält auch andere Schüler vom Unterricht ab, wenn er nicht alleine sitzt.
Es fällt auf, dass er bei Sachverhalten und Aufgabenstellungen, die ihn interessieren, sehr wohl konzentriert arbeiten kann, auch über einen längeren Zeitraum.
Wenn man ihn ermahnt hat, versucht er, sich zu beteiligen, und zeigt dann durch seine Beiträge, dass er in der Lage ist, Sachverhalte schnell aufzufassen. Für einen Schüler der Klasse 5 zeigt er eine überdurchschnittliche Abstraktionsfähigkeit. Allerdings hält dieses Verhalten immer nur für kurze Zeit an (maximal eine Unterrichtsstunde).
Er hat eine sehr schlechte Schrift und eine sehr schlampige Heftführung. Wenn er zeichnet oder malt, arbeitet er dagegen sorgfältig und sauber und erzielt überdurchschnittliche Ergebnisse.
Max ist völlig unorganisiert, vergisst ständig Arbeitsmaterial, häufig seine Hausaufgaben und verliert alles, vom Schreibzeug bis zu Kleidungsstücken. Er vergisst Strafarbeiten und Nachsitztermine und bringt sich damit immer wieder neu in belastende Situationen.
In der Klasse wird er zwar nicht abgelehnt, aber die anderen Kinder sind durch sein Verhalten zum Teil genervt. Deshalb findet er schlecht Kontakt zu seinen Mitschülern und ist mehr oder weniger Einzelgänger. In den Pausen zwischen den Unterrichtsstunden neigt er dazu, durch das Zimmer zu rennen, Gegenstände zu werfen usw. Offenbar hat er einen sehr großen Bewegungsdrang. Dies könnte auch erklären, weshalb er häufig im Unterricht fragt, ob er zur Toilette darf.
Wenn man Max wegen seines Verhaltens tadelt, scheint ihn dies zu treffen, er zeigt Einsicht und hat wohl auch ernsthaft die Absicht, an sich zu arbeiten. Allerdings gelingt es ihm nicht, seine Vorsätze umzusetzen.
Die Lehrerin ist Max offensichtlich zugetan, weiß aber sichtlich nicht, was mit ihm los ist.
Eltern haben sich oft vielfältig informiert, sich an Ratschläge gehalten, finden nach Tagen ständigen Kampfes wegen Hausaufgaben, des unaufgeräumten Zimmers und/oder ständigen Geschwisterstreits abends z. B. einen solchen Zettel:
Ich werde euch bestimmt eine große Last abnehmen,
wenn ich weg bin. Das schwarze Schaf würde fehlen.
Aber ihr werdet bestimmt nur um den Verlust der Sachen trauern.
Gezeichnet Fabian
Ach so, ich gehöre ja nicht mehr zu dieser Familie –
also das schwarze Schaf auf nimmer Wiedersehen.
(Fabian, 10 Jahre, 2002)
Bis heute müssen Eltern von betroffenen Kindern und Jugendlichen und besonders auch Erwachsene oft sehr lange suchen, bis sie eine Anlaufstelle gefunden haben, in der sie sachliche Informationen, eine exakte und umfassende Diagnostik und zielführende Hilfestellung erhalten. Eltern solch belasteter und zum Teil vom Scheitern bedrohter Kinder müssen sich heute immer noch anhören, sie wollten sich vor ihrer Erziehungsverantwortlichkeit drücken.
Die Elternselbsthilfegruppen haben vielfältige Erfahrungen, wie heftig uninformiert, teilweise ideologiegeleitet und/oder antipsychiatrisch speziell gegen die Medikation argumentiert wird. Wenn sich verunsicherte Eltern nach langen Überlegungen dann doch zur Medikation entschließen, wird ihnen oft vorgehalten, dass diese Medikamente die Persönlichkeit verändern könnten, abhängig machten, schwerste Nebenwirkungen (auch beim Absetzen) zeigten. Bis heute wird ihnen sehr oft vorgeworfen, sie wollten ihre Kinder ja nur medikamentös ruhigstellen.
Regelmäßig tauchen in der Presse Warnungen vor zu häufig gestellten ADHS-Diagnosen und der medikamentösen Behandlung auf. Erfahrene Praktiker und Leiterinnen von Selbsthilfegruppen sind es mittlerweile Leid, immer wieder erklären zu müssen, dass es eben keine erhöhte Gefahr der Entstehung von Erbgutschäden, Morbus Parkinson, Alzheimer-Demenz, Leberschäden oder Herz-Kreislauf-Versagen, gibt. Nicht nur Laien, auch viele Fachleute, die im therapeutischen oder pädagogischen Kontext mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben, wissen bis heute kaum etwas über ADHS – aber zur Medikation haben fast alle eine »Meinung«!
ADHS wird noch viel zu häufig nicht erkannt, nicht anerkannt, teilweise sogar verkannt oder durch den Grad des Gestörtseins der Umgebung definiert, statt die Symptomatik anhand des Leidens der Betroffenen zu verstehen.
In einer Gesellschaft, in der immer mehr, immer schneller mit immer weniger »man-power« geleistet werden soll, ist mittlerweile nachvollziehbar, warum aktive Jugendliche und Erwachsene mit ADHS »andere« Diagnosen erhalten. Geht es jemandem schlecht, wird extrem oft ganz schnell ein Antidepressivum verschrieben. Dadurch wird jedoch bei Menschen mit ADHS vor allem der Antrieb sofort herabgesetzt, Müdigkeit setzt ein, begleitet von Gewichtszunahme – und alles wird noch mühsamer, die reaktive depressive Verstimmung bei dieser Fehlbehandlung wird größer …
Viele müssen bisweilen sogar um die Diagnose kämpfen, wenn sie sich in der Literatur oder im Internet bei ihren eigenen Recherchen in der Symptomatik wiedererkannt haben.
Als ich 2003 das erste Mal von ADHS las, wusste ich sofort, dass dies die Antwort auf meine unbeantworteten Fragen, des selber Nichtverstehens und meiner langen Leidensgeschichte war.
Ich saß vorm PC und weinte. Ich war erleichtert.
Es gab einen Grund für all die Dinge.
Für mein »Komischsein« bzw. »Anderssein«, für meine Langsamkeit, meine Vergesslichkeit, meine Verträumtheit und für meine Unzulänglichkeiten.
Ich war nicht dumm. Ich war kein Versager.
Immer wieder Misserfolge bei den Versuchen, das zu schaffen, was andere doch auch schaffen. Mir gelang es nicht oder nur mit wahnsinniger Kraftanstrengung.
Und dabei spürte ich immer, dass ich eigentlich nicht dumm bin und irgendwie Potenzial in mir habe, welches ich nur meist irgendwie nicht greifen und nutzen kann.
Erst dadurch, dass meine kleine Tochter ähnliche Probleme hatte wie ich, bin ich nachdenklich geworden und auf ADHS gestoßen.
Der erste Arzt, mit dem ich über die Vermutung ADHS sprach, behauptete, das gäbe es bei Erwachsenen nicht. Aber ich wusste, dass er nicht Recht hatte.
2004 wurde dann bei meiner Tochter und mir die Diagnose gestellt. Sehr spät für mich, aber für meine Tochter hoffentlich eine Chance, dass sie es nicht ganz so schwer haben wird mit Unterstützung.
Wir gehören zur Kategorie »Träumerchen« und das ist mit ein Grund, weshalb ich den Gedichteband (ich habe schon mit zwölf Jahren angefangen, Gedanken und Gefühle in Gedichte zu verpacken), der im Mai dieses Jahres fertig war, »In Farbe träumen« nannte (ich habe mich aber erst getraut, nachdem ich 2005 für mein Gedicht »Albatros« den Jokers-Lyrikpreis gewonnen habe). Für mich eine Doppelbedeutung, auf die ich auch auf meiner ersten Lesung im Juli hingewiesen habe.
(Sylvie Caputo)
Erwachsene mit ADHS denken in Bildern, kommen auch in (reaktiver) depressiver Stimmung aus dem Dauergrübeln nicht raus, können sich blitzartig in die Befürchtung der Befürchtung hineinsteigern. Versuche, sich zu erklären, führen oft eher zu Verwirrung des Gegenübers (weil zu viele »Bilder« berichtet werden, ausmalend, sich in Details verlierend). Durch die Reizfilterschwäche bekommt man zu viel Input; weil es keinen automatischen Filter gibt, werden unendlich viele Gedanken ausgelöst. Das bedeutet, dass schnell eine »kognitive Überlastung« entsteht, eine Orientierung setzt erst sehr verspätet ein, was Unsicherheit, teilweise auch Angst auslöst. Die syndromtypische Entscheidungsschwäche kommt dazu mit negativer Folge für die Handlungsebene mit wenig Selbstwirksamkeitsempfinden. Bei »schlechtem Gefühl« besteht kein Zugriff auf Altwissen, ein Gefühl des Überfordert- und Erschöpftseins entsteht. Menschen mit ADHS, in welchem Alter auch immer, brauchen eine wesentlich längere Phase, bis sie sich orientieren können und einen Überblick haben. Ständiger Sitzplatzwechsel in der Schule oder andauernde Umstrukturierungen im Job sind für sie besonders hart.
ADHS diagnostizieren zu können bedeutet, dass man ADHS mit seiner Symptomatik in jedem Lebensalter profund versteht. Die Diagnose steht und fällt mit einer sorgfältigen Anamnese – sie gelingt nicht mit einem schnellen Screening mit Fragebögen!
Als Fazit bleibt festzuhalten, dass wohl kaum ein anderes psychiatrisches Störungsbild existiert, mit dem so widersprüchlich umgegangen wird: Auf der einen Seite wird nach wie vor sehr kontrovers darüber diskutiert, auf der anderen Seite gibt es inzwischen einen großen »Markt« mit allen möglichen Hilfsangeboten und Erklärungsansätzen, was für Betroffene und ihre Familien, aber auch für Erzieher, Lehrer und Therapeuten äußerst verwirrend ist.
Literaturempfehlung:
• Ganz besonders intensiv hat sich Gerhild Drüe mit diesem Problem in ihrem Buch »ADHS kontrovers – betroffene Familien im Blickpunkt von Fachwelt und Öffentlichkeit«, Kohlhammer, 2006, mit diesen Aspekten auseinandergesetzt.
Selbsthilfegruppen:
Eltern-Selbsthilfegruppen sind mit ihren Erfahrungen wohl die wertvollste qualitätssichernde Anlaufstelle, auch hinsichtlich der Frage, wer gut diagnostizieren und behandeln kann.
• ADHS Deutschland e. V., Bundesgeschäftsstelle, Poschinger Str. 16, 12157 Berlin, Tel.: 030/85 60 59 02, Fax: 030/85 60 59 70, www.adhs-deutschland.de, E-Mail: info@adhs-deutschland.de
• Juvemus, Obergraben 25, 56567 Neuwied, Tel. 02631/54641,
• www.juvemus.de, E-Mail: info@juvemus.de
• Österreich: ADAPT, Hardtg. 19 (Eingang Kreindlg. 2) 1a–1d, 2.4.2, 1190 Wien, Tel: +43 676/5165687, www.adapt.at., E-Mail: verein-adapt@yahoo.com
• Schweiz: ELPOS, Walkeweg 19, CH 5600 Lenzburg, Tel. +41 31/301 36 26, www.elpos.ch, E-Mail: info@elpos.ch
• ADHS 20+: Bahnhofstr. 15, CH 5600 Lenzburg, Tel. +41 62/534 04 04, www.adhs20.plus.ch, E-Mail: info@adhs20plus.ch
Die S3-Leitlinie
Kurzfassung der interdisziplinären evidenz- und konsensbasierten S3-Leitlinie »Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter«
Über 30 Fachgesellschaften, Verbände und Berufsgruppen, die mit ADHS-Betroffenen in unterschiedlicher Art und Weise befasst sind, erarbeiteten im Rahmen der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V. (AMWF) Empfehlungen zu Diagnostik, Behandlungsplanung, psychosozialen Interventionen (bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen), Neurofeedback, diätetischen Interventionen, medikamentöser Behandlung, stationärer und teilstationärer Therapie, Transition und Selbsthilfe. Unter anderem durch die Orientierung am Schweregrad der Symptomatik und der Qualität der Evidenz ergaben sich zur Diagnostik, der nichtmedikamentösen und der medikamentösen Therapie eine Graduierung von Empfehlungen: Empfehlungsgrad A (starke Empfehlung), Empfehlungsgrad B (Empfehlung) und Empfehlungsgrad 0 (Empfehlung offen) sowie nach guter klinischer Praxis (KKP). Nach langwieriger und sorgfältiger Sichtung von Studien und Metaanalysen ergaben sich zur Wirksamkeit nichtpharmakologischer Therapieansätze auf die Kernsymptomatik von ADHS deutlich geringere Effekte im Vergleich zur Pharmakotherapie (bei unzureichender Evidenzlage, wenn strenge methodische Kriterien zugrunde gelegt werden).
Eine ADHS-Diagnostik soll bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen durchgeführt werden, wenn Entwicklungs-, Lern-, Leistungs- oder Verhaltensprobleme oder andere psychische Probleme bestehen und dabei Hinweise auf eine Beeinträchtigung der Aufmerksamkeit und Konzentration oder auf erhöhte Unruhe oder Impulsivität vorliegen.