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Vorwort

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Frei nach dem Philosophen Schopenhauer wurde die inzwischen gut belegbare Wahrheit lange nur belächelt, dass es tatsächlich viele Menschen geben soll, die von ADHS (der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) betroffen sind.

Leider wird diese Tatsache noch immer teilweise regelrecht bekämpft. Spätestens seit dem 5. Weltkongress über ADHS im Mai 2015 sollte die in den Medien nach wie vor anhaltende »kritische Hinterfragung« (bis hin zur schlichten Antipropaganda v. a. bezüglich der medikamentösen Therapie) eigentlich aufhören, auch seitens einer nach wie vor großen Gruppe von Fachleuten aus den unterschiedlichsten Bereichen der Pädagogik, der Psychologie und der Medizin (die Versorgungslage z. B. für Erwachsene mit ADHS in Deutschland mit wirklich zielführenden Behandlungsansätzen ist leider schlecht!).

Nach über 50 Jahren positiver Erfahrung von Patienten und Therapeuten mit der Wirksamkeit der medikamentösen Therapie (so sie nach sorgfältiger Diagnose, guter Aufklärung und mit spezifischen Begleitmaßnahmen eingesetzt wird), sollten ADHS und der Nutzen einer effektiven Therapie endlich allgemein akzeptiert werden.

Unkenntnis, Abwehr, Ignoranz und Bagatellisierung der typischen ADHS-Symptomatik oder der nach wie vor übliche Versuch, die auftretenden Schwierigkeiten durch vorgeburtliche physische oder psychische Probleme, Misshandlungen, Bindungs- und Beziehungsstörungen, Traumatisierungen, Vernachlässigungen oder die unterschiedlichsten »Elternfehler« erklären zu wollen, bringen für Betroffene und ihre Familien nichts als Unsicherheit, Irritation, Angst, Wut, Verzweiflung und sich vergrößerndes Leid. Manche Entwicklungen der letzten Jahre muten indes merkwürdig an: So erklärte die Gruppe der Wissenschaftler, die den Kriterienkatalog psychischer Erkrankungen der Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft »Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen – DSM-IV« überarbeiteten (mit Vorliegen des neuen Katalogs DSM-5 seit Juni 2013), dass die »emotionale Labilität« aus dem Symptomkatalog bezüglich ADHS gestrichen wurde, da es sonst zu einem enormen Anstieg an Diagnosen kommen würde, was »nicht gewollt« sei. 2017 wurde auf dem 6. Weltkongress über ADHS in Vancouver/Kanada von einem Vertreter dieser Gruppe eingeräumt, dass die emotionale Labilität und Impulsivität Betroffene im Alltag am meisten beeinträchtigen. Sich sofort angegriffen zu fühlen, alles sofort persönlich zu nehmen, sich ständig irgendwie beobachtet zu fühlen, sich zu vergleichen (und verglichen zu werden) macht das Leben schwer (vor allem, wenn man nicht weiß, warum das so ist!).

Auf dem 4. Weltkongress über ADHS, in Mailand 2013, wurde berichtet, dass ADHS die teuerste Erkrankung überhaupt ist (so eine amerikanische Untersuchung) – die Regressjuristen der Deutschen Unfallversicherung wissen, wie hoch das Unfallrisiko von Betroffenen mit ADHS ist (persönliche Mitteilung während einer Veranstaltung in Leipzig, 2009).

Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung kann auch als »Politikum« betrachtet werden. In den Medien wird begrüßt, dass die Verschreibung von Stimulanzientherapie seit einiger Zeit »zurückgeht«, tatsächlich werden die Odysseen der kleinen und großen Patienten aber nicht kürzer oder anders, als schon vor Jahren beschrieben.

Eine 36-Jährige, die sich in einem Buch über Erwachsene mit ADHS wiedererkannte, beschrieb:

»Die Erzieherin im Kindergarten sagte, dass es mit mir keine Schwierigkeiten gegeben habe, solange alles so gelaufen sei, wie ich es mir vorgestellt hatte. Ansonsten hätte ich dann urplötzlich ganz schön sauer und wütend sein können. Eigentlich sei ich lieb und nett gewesen, mit vielen Streichen im Kopf, nicht böse gemeint. Wie meine Nichte sei ich noch lange ein richtiges Spielkind gewesen – daran kann ich mich aber nicht mehr so richtig erinnern, sehr genau aber an die ›Einschulung‹.

Ich habe nie verstanden, wieso ich jetzt auf einmal statt in den schönen Kindergarten in diese blöde Schule gehen sollte. Schule war schrecklich, laut, langweilig. Ich hatte keine Lust zu lernen, für was auch? Stundenlang saß ich an den Hausaufgaben und schaute auf den Kirchturm, der vor meinem Fenster stand. Meine Eltern schimpften, straften mit Hausarrest, aber es wurde nicht besser. Die Noten wurden in der Grundschule so schlecht, dass in der dritten Klasse überlegt wurde, ob ich in die Sonderschule gehen soll.«

Skeptisch bezüglich eines neuerlichen Hilfsangebots berichtete diese Patientin, dass sie schon mehrere, für sie in keiner Form hilfreiche, Psychotherapien absolviert habe. Sie sei nicht ernst genommen worden mit ihrem Hauptproblem, sich nichts über längere Zeit merken zu können. Und diese für sie sehr beeinträchtigende Tatsache sei im Beruf als Diätassistentin nach ihrem Schulabschluss auf dem zweiten Bildungsweg von Nachteil. Sie müsse ständig nachlesen und wiederholen. Sie überlege immer wieder, wie man ein Wort schreibe oder was ein Verkehrszeichen wirklich bedeute. Beim Lesen falle ihr plötzlich etwas anderes ein – und sie müsse von vorn beginnen. Sie habe schon abklären lassen, ob sie an einem frühen Stadium von Alzheimer-Demenz erkrankt sei. Es sei aber nichts gefunden worden. Und überraschend sei für sie, dass sie sich immer gut konzentrieren könne, wenn sie etwas begeistere. Das verstehe sie gar nicht, ihr Umfeld auch nicht. Es wirke oft so, als wolle sie nicht. Sie sei so schusselig. Vor Kurzem sei sie schon wieder, trotz aller Anstrengung, vorsichtig und umsichtig Auto zu fahren, beim Rückwärtsfahren mit dem neuen Auto an eine kleine Mauer gestoßen.

Für ihre Schwierigkeiten schämt sich die junge Frau so, dass sie sich bei Bestätigung ihrer Verdachtsdiagnose nicht traut, dies ihrem Ehemann mitzuteilen. Und da ADHS vererbbar ist, will sie keine Kinder bekommen!

Früher hat man es nicht besser gewusst – aber muss es heute noch einen solchen Verlauf geben, wie im folgenden Beispiel?

Der jetzt 15½-jährige Jugendliche will selbst dringlich Hilfe, nachdem er erstmals im Alter von zehn Jahren vorgestellt wurde, als es zwischen ihm und seiner Mutter zu vielen akuten Zuspitzungen gekommen war. Bei klassischster und ausgeprägtester Symptomatik von ADHS wurde er sogar für einige Wochen in eine Pflegefamilie gegeben. Er konnte nicht stillsitzen und still sein, hatte eine katastrophale Heftführung, war sehr vergesslich und desorganisiert, hatte immer eine Ausrede und bekam Wutausbrüche.

Wegen widersprüchlichen Auffassungen im »Helfernetz« kam es jedoch trotz der sehr dramatischen Entwicklung zwischen ihm und seiner alleinerziehenden Mutter nicht zu einer zielführenden Behandlung, auch nicht zum empfohlenen Internatsbesuch oder zumindest zu einem medikamentösen Behandlungsversuch.

Im langwierigen Hin und Her der Einschätzungs- und Beratungsansätze hatte die Mutter (die selbst von ADHS in erwachsener Residualform betroffen ist) bei den heftigen Konflikten innerlich bereits einen Beziehungsabbruch zu ihrem Sohn vorgenommen.

Der Junge kam dann doch in ein Internat, aus dem er mit elf Jahren wegen massiven Alkoholgenusses nach einem halben Jahr verwiesen wurde. Über das Jugendamt wurde er in einem Heim untergebracht, da es zu Hause nicht mehr funktionierte. Aber auch dort war es sehr schwierig für ihn, die nur wenigen, freiwillig einzuhaltenden Regeln zu akzeptieren. Er versuchte, seinen Alltag selbst zu gestalten, was während der heftigen pubertären Entwicklung zu vermehrter Opposition führte. Nachdem er unter anderem sein Zimmer verwüstet hatte, wurde er über sechs Wochen vollstationär in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie mit stark beruhigenden Medikamenten behandelt.

Die Mutter hatte sich ihrerseits während des Heimaufenthalts ihres Sohnes kontraproduktiv verhalten. So wollte sie beispielsweise Vorschriften machen, wie man mit ihm umzugehen hat.

Der Junge wurde während der Heimbetreuung in einer Sonderschule für Erziehungshilfe unterrichtet, was bei seiner bekannten überdurchschnittlichen Intelligenz eine Unterforderung darstellte und die Situation zusätzlich erschwerte.

Der Vater des Jungen, selbst in der Beziehung mit einer alleinerziehenden Mutter lebend, die einen Jungen mit ADHS im gleichen Alter hat, bot an, den Jungen zu sich zu nehmen. Nachdem der Junge über die Hintergründe seiner Schwierigkeiten aufgeklärt wurde, war er bereit, eine ambulante Verhaltenstherapie zu machen.

Nach Jahren schwierigster Entwicklung und Leidens ist es für den Jungen heute nicht mehr verständlich, warum er jetzt erst die benötigte Hilfe einschließlich der Medikation erhält, die ihm ermöglicht, sich zu konzentrieren und zu steuern.

Inzwischen bereitet er sich auf den Werkrealschulabschluss vor.

Erfreulicherweise geht es aber auch anders:

Die Mutter weiß gut, was ADHS ist, hat sich ebenso wie ihr Mann damit auseinandergesetzt. Die kleine Tochter ist – schon früh erkennbar – deutlich betroffen, dabei ungewöhnlich aufgeweckt, sensibel, impulsiv, kreativ. Das morgendliche Anziehritual ist durch Trödeln und Probleme beim Kämmen kompliziert – und Mama ist eben auch nur ein Mensch. Sie schimpft laut – was ihr gleich wieder Leid tut mit dem Kommentar: »Ich bin wieder mal furchtbar gerade, sorry, aber ich habe dich trotzdem so lieb!«

Die 5-Jährige antwortet darauf ernst: »Mama, du bist nicht furchtbar, aber du zeigst mir gerade nicht, dass du mich lieb hast!«

Ungewöhnliches, Widersprüchliches wird oft schon im sehr jungen Alter erkannt und direkt benannt, treffend mit »Spontanassoziationen«, die u. U. erheiternd sein können. 2012 bekannte Eckart von Hirschhausen, dass er ADHS in milder Form nicht nur habe, sondern sogar davon lebe. Ohne seine sprunghafte Aufmerksamkeit wäre er wie viele seiner Kollegen nie Komiker geworden. In den Selbsthilfegruppen wird bei positiven Entwicklungen Betroffener seit Jahren gefragt, warum ADHS als Störung oder »Krankheit« definiert werde, wenn es doch viele berühmte Künstler, Erfinder, Köche, Sportler, Autoren und erfolgreiche Manager mit ADHS gebe. Die Antwort ist: Hat jemand in seiner »Begabungsnische« selbstbestimmt (!) eine subjektiv herausfordernde und interessante Tätigkeit gefunden, gerät er in den positiven Hyperfokus. Durch den intensiven Antrieb im Hyperfokus wird dann mit Überausdauer, oft enormer Sorgfalt z. B. umfassend recherchiert oder es werden detailverliebt, perfektionistisch anmutend, dabei oft querdenkend teils überraschende Hypothesen und Lösungen kreiert. Bei meinen Patienten und den Teilnehmern der Weiterbildung »Elterntraining für Elterntrainer« sowie den Kursteilnehmern der Kurse »Kommunikations- und Selbstwerttraining für Betroffene mit ADHS« möchte ich mich ganz besonders bedanken für ihr Vertrauen, ihre kritischen Fragen, ihre Anregungen und die Ermutigung, mit dem Werben für Akzeptanz von ADHS weiterzumachen, dranzubleiben an der Weiterentwicklung sich bewährender Hilfen im Sinne einer »Fortbildung in eigener Sache«. Ich wünsche mir, dass Betroffene damit möglichst frühzeitig realistische Chancen bekommen, kompetent mit sich und der Umgebung umgehen zu lernen, mit besserem Selbstwertgefühl ihre Nischen finden können, in denen sie dann selbstwirksam – wie es schon vielen gelang – wichtige Mitglieder der Gesellschaft werden können, statt als »Kranke« leiden zu müssen.

Esslingen am Neckar, Mai 2020

Cordula Neuhaus

ADHS bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen

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