Читать книгу Ungewollte Grenzerfahrung - Corinne Miller - Страница 10
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ОглавлениеAm ersten Dienstag im September fahre ich am frühen Nachmittag in die Stadt, weil ich Vater versprochen habe, ihn um vierzehn Uhr vom Rentnertreffen abzuholen. Jeden ersten Dienstag im Monat treffen sich ehemalige Mitarbeiter aus der Firma, in der er bis zum Rentenalter gearbeitet hatte, zu einem Hock mit Mittagessen in der nahen Stadt. Vater ist einer der ältesten und sah im Verlaufe der Jahre viele kommen und gehen. Für ihn ist es etwas Besonderes, dass er nun mit seinen früheren Vorgesetzten auf einer Stufe steht und wenn immer möglich, lässt er keines dieser Treffen ausfallen. Die Senioren folgen einem ungeschriebenen Gesetz, dass nur Männer, und nur diejenigen, die in der Firma das Rentenalter erreichten, an diesem Hock teilnehmen dürfen.
In jungen Jahren arbeitete auch Lore für eine kurze Zeit in dieser Firma. Vor einem Jahr tauchte sie auf und ging mit einer Selbstverständlichkeit, als hätte sie schon immer dazu gehört, in den reservierten Saal. Zuerst begrüßte sie ihren Schwiegervater und danach einen nach dem anderen. Neugierig sahen ihr die Rentner zu, aber keiner getraute zu fragen, was sie hier will. Lore lieferte von sich aus die Erklärung und übertrieb dabei so maßlos, dass man hätte meinen können, ihr gehört die Firma. Die Anwesenden, die fast ihr ganzes Leben in dieser Firma verbracht haben, kannten Lore flüchtig und erwähnten aus Höflichkeit, man könne sich an sie erinnern. Die anderen traten verlegen von einem Bein aufs andere und wussten nicht, was sie sagen sollten. Fragend schauten sie zu Vater, der hoffte, Lore würde von alleine wieder verschwinden. Doch Lore verstand die an sie gerichteten netten Erinnerungen als Aufforderung zum Bleiben und setzte sich zu ihnen an den Tisch. Es kam ihr nicht in den Sinn, dass sie, als einzige Frau, fehl am Platz sein könnte. Vater erzählte mir auf der Heimfahrt davon.
»Heute ist Lore aufgetaucht. Keine Ahnung was sie wollte und du hättest hören sollen, welchen Stuss sie vom Stapel ließ. Ich falle bei meinen Kollegen in Ungnade, wenn sie meinen, dass ich sie mitgebracht habe.«
»Dann sag es ihr!«
Vater sagte nach einer Weile das, was er in solchen Situationen immer sagt.
»Kannst nicht du das übernehmen?«
Er geht unangenehmen Aufgaben immer aus dem Weg und ich weiß, dass er Mutter oft auf die Palme jagte, weil er ihr nach solchen Aktionen in den Rücken fiel.
»Ich rufe Lore an, aber falls sie das in den falschen Hals bekommt und du behauptest, du wüsstest nichts davon, rede ich einen Monat lang kein Wort mehr mit dir. Ich toleriere das nicht. Ich bin nicht Mama.«
Die angedrohte Strafe meinte ich in keinem Moment ernst. Ich habe sie nur ausgesprochen, um von ihm ein ehrenhaftes Verhalten einzufordern, damit mir unnötiger Ärger erspart bleibt. Ich rief Lore an und erklärte ihr den Sachverhalt. Frank rief zuerst Vater, der bestritt, etwas damit zu tun zu haben und dann mich an. Da er Vater kennt, war die Sache rasch geklärt.
Ich schaue auf die Uhr, es ist kurz vor vierzehn Uhr, Vater müsste bald herauskommen. Nach zehn Minuten gehe ich ins Lokal um nach ihm zu sehen. Seine Kollegen fordern mich auf, mich einen Moment zu ihnen zu setzen, weil die Bedienung erst mit Kassieren begonnen hat. Bis alle ihre Scherze losgeworden sind und mit der Serviertochter zu Ende geflirtet haben, dauert es mindestens eine halbe Stunde. Ich setze mich auf den freien Stuhl neben Peter Sanders, Vaters ehemaligen Chef, der ebenfalls verwitwet ist.
»Ich bin wie Ihr Herr Vater jedes Jahr im Tirol in den Ferien und dieses Jahr ist es in der gleichen Woche wie Ihr Herr Vater. Ich habe mir erlaubt ihn zu einem Mittagessen in mein Hotel einzuladen. Denken Sie er kommt?«, fragt er mich.
Ich mache einen tiefen Atemzug. Peter Sanders ahnt nicht, dass er sich mit dieser Einladung in die Höhle des Löwen begibt. Er ist gut situiert und steigt im Gegensatz zu Vater in einem nobleren Hotel ab. Rita, die mit Vater im Tirol sein wird, wird sich freuen, wenn ihr ein potenzielles Opfer auf dem Silbertablett serviert wird. Man müsste ihn warnen. Aber den komplizierten Sachverhalt auf die Schnelle zu erklären ist nicht einfach und zudem schäme ich mich, dass Vater mit einer solchen Person bekannt ist. Stattdessen sage ich: »Das ist sehr nett von Ihnen und er wird Ihre Einladung bestimmt sehr gern annehmen.«
Als ich Vater nach Hause fahre, spreche ich ihn darauf an.
»Du machst einen großen Fehler, wenn du Rita zu Peter Sanders mitnimmst.«
»Warum?«
»Sie wird ihr Netz über ihn werfen.«
»Wo denkst du hin?«, antwortet er erbost. »Natürlich wird sie Peter gefallen. Aber nicht so wie du denkst. Peter weiß, dass sie meine Frau ist. Er hat Stil. Nicht so wie Frank!«
Ich will mit ihm gerade über Franks Stil diskutieren als er mich unterbricht: »Du hattest übrigens Recht. Sie hat Schulden.«
Ich bin so überrascht, dass ich fast eine Vollbremsung einleite und mich beherrschen muss, nicht zu ihm hinüber zu sehen.
»Woher kommt diese Einsicht?«
»Ritas Freundin kam bei mir vorbei. Ich kenne sie, weil Rita sie manchmal zum Essen mitbringt. Conny sagte, dass ich aufpassen soll. Nur warum sie das offenbarte, ist mir ein Rätsel.«
»Die kommt einfach bei dir vorbei? Ohne Rita?«
»Ja. Sie kam allein und hat mich wie du vor Rita gewarnt.«
»Sie haut die eigene Freundin in die Pfanne? Hast du wirklich keine Ahnung, weshalb sie dich besuchte? Du selbst hast Rita auf ihre Schulden angesprochen, darum weiß sie, dass dir diese bekannt sind. Du wüsstest sonst nicht, dass diese von ihrem Exmann sind. Extra noch eine Freundin herzuschicken, damit diese dir das erzählt, ist sehr fragwürdig.«
Vater zieht schweigend die Hände in die Höhe und geht, bis ich ihn zu Hause absetze, nicht mehr darauf ein.
Als ich in die Agentur komme, frage ich Lena, ob es irgendwelche Anrufe gab. Da sie verneint und die Türe zu Marcs Büro geschlossen ist, steige ich am Computer direkt ins Internet ein. Ich bin sicher, dass hinter dem Besuch dieser Frau die Absicht steckt, dass Rita eine Zeugin hat, die bestätigen wird, dass Vater Kenntnis von ihren Schulden hat. Aber warum?
Als ich die Rechtslagen rauf und runter surfe, stoße ich auf einen Paragraphen, der das erklären könnte. Wenn ich diesen richtig interpretiere macht man sich strafbar, ein Darlehen, zum Beispiel für einen Urlaub, zu erbetteln, während man mit dem Geld Schulden bezahlt, von denen der Geldgeber nichts weiß. Darum hat Rita sich diese Zeugin geschaffen. So ein raffiniertes Luder. Und mit allen Wassern gewaschen.
Bisher bin ich noch nie mit einem Menschen mit einem so schlechten Hintergrund in Berührung gekommen. Da ich keine Ahnung habe, wie man ihr entgegenhalten kann, komme ich auf die Idee, professionellen Rat einzuholen und zwar bei denen, die von sich behaupten, jedermanns Freund und Helfer zu sein. Lena ist beschäftigt und Marc nicht zu sehen. Gut, dass ich nicht erklären muss, weshalb ich außer Haus gehe und fahre mit meinem Wagen zur Dorfpolizei. Als ich den Posten betrete, befällt mich ein leises Prickeln. Es ist für mich ein Ausbrechen in eine andere Welt.
Nervös und aufgeregt schildere ich dem Polizisten hinter dem Schalter mein Anliegen.
»Was kann man gegen eine solche Person unternehmen?«
»Nichts!« erwidert der Hüter des Gesetzes simpel.
»Nichts?«, frage ich ungläubig und mit großen Augen. Für mich kommt Rita einer Heiratsschwindlerin gleich und bin überzeugt, dass man das ahnden muss. Ich hatte gehofft, er würde wie Steve in der Datenbank nachsehen, dann wüsste er, was ich meine.
»Nein«, antwortet er.
»Bitte sehen Sie im Computer nach«, flehe ich ihn an.
»Selbst, wenn ich etwas finde, darf ich Ihnen keine Auskunft geben. Ist das alles?«, fragt er, während er desinteressiert ein paar Formulare zusammenklopft und diese auch noch zu heften beginnt.
Ich bleibe hartnäckig stehen und bin überzeugt, dass er die Brisanz meines Anliegens nicht verstanden hat. Als er merkt, dass er mich nicht loswird, zieht er die Augenbrauen hoch, runzelt die Stirn und sagt: »Das kommt leider häufig vor und Ihr Vater kann mit seinem Geld machen was er will. Oder hat sie ihm etwas versprochen, das sie nicht einhält?«
»Ich weiß es nicht.«
»Sehen Sie. Und darum können wir nichts machen. Wo kämen wir hin, wenn wir jeden vorladen, der bei einem anderen Geld erbettelt. Am besten, Sie reden mit Ihrem Vater«, fordert er mich auf und blickt über meine Schulter auf die Person, die hinter mir steht. Das Signal ist unmissverständlich.
»Warten Sie. Sie hat gesagt, dass sie meinem Vater das Geld zurückzahlt.«
»Und? Hat sie?«
»Sie hat es erst vor kurzem erhalten.«
»Hat Ihr Vater das Darlehen schriftlich festgehalten?«
»Nein. Leider nicht. Aber eine mündliche Abmachung gilt. Oder nicht?«
»Wenn sie sich nicht an die Rückzahlung hält, kann Ihr Vater das einklagen. Aber er muss selbst auf den Posten kommen, Sie können ihm das nicht abnehmen. Sind sie jetzt fertig?«