Читать книгу Ungewollte Grenzerfahrung - Corinne Miller - Страница 6
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ОглавлениеMein Vater ist vierfacher Vater, dreifacher Groß- und inzwischen einfacher Urgroßvater und eben Wittwer. Dazu gehören zwei Schwiegersöhne, einer davon ein Ex-, und zwei Schwiegertöchter, eine davon in spe. Er ist von schlanker Statur, hat nur ein kleines Wohlstandsbäuchlein, volles weißes Haar und sieht viel jünger aus, als er effektiv ist. Vom Aussehen her hat er etwas von Spencer Tracy, auch wenn wir ihm nicht die gleichen Charakterzüge, die dieser Star in den Filmen verkörpert, zuschreiben können. Aber es scheint in den Genen zu liegen, dass in unserer Familie, wenn wir den Komplimenten glauben dürfen, alles attraktive Menschen sind. Obwohl Frank die sechzig bereits überschritten hat, zeigt sein braunes Haar keine Anzeichen eines Ausfalls und ist nur an den Schläfen leicht ergraut. Seine Frau Lore, die ein Jahr älter ist als er, trägt eine Brille und ihre rötlichblonden Haare sind immer kurz frisiert. Sie ist in ihrer Aufmachung eher bieder, aber immer gepflegt. Dass die Ehe kinderlos geblieben ist, entsprach nicht dem Wunsch der beiden. Ihren Wohnsitz haben sie in der zu Kaltbad nahen Stadt. Toni ist trotz ihrer modernen Aufgeschlossenheit eine mütterliche Erscheinung und manchmal etwas blauäugig. Sie ist geschieden und pflegt zu ihrem Exmann, so wie wir alle, einen freundschaftlichen Kontakt. Zusammen haben sie zwei Töchter, von denen Nicole, die ältere, in Amerika einen Job gefunden hat und Karin, die jüngere, einen Freund hat, mit dem sie zusammen in der gleichen Stadt wie Frank und Lore wohnt. Wegen ihrer Arbeitsstelle hat es Toni in den Norden von Deutschland verschlagen und sie muss, wenn sie uns in Kaltbad besucht, für die Reise mindestens drei Stunden einrechnen. Robert hat als einziger die schwarzen Haare unserer Mutter geerbt und war mit seinen blauen Augen schon in der Schule der Schwarm aller Mädchen. Er ist nicht verheiratet, hat aber eine langjährige Beziehung zu einer geschiedenen Frau und wohnt mit ihr und ihren beiden Kindern in einem kleinen Dorf, eine halbe Autostunde von Kaltbad entfernt. Ich selbst wirke trotz meinen fünfzig Jahren jugendlich und bin stets modisch gekleidet. Wer mir zum ersten Mal begegnet, erkennt meine emotionale Energie, meine Intuition und Zielstrebigkeit nicht auf Anhieb. Lernt man mich aber näher kennen, werden meine intensiven Gefühle und meine Fürsorge ersichtlich, vor allem für Menschen, die mir nahestehen. Zu meinen Schwächen gehören Ungeduld und dass ich vieles hinterfrage. »Muss man bei dir immer alles auf die Goldwaage legen«, schimpfte meine Mutter oft mit mir. Ich bin verheiratet und wohne mit David, meinem Mann, im Nachbardorf von Kaltbad, in das wir gezogen sind, als unsere Tochter Kelly ausgeflogen ist. Es hat sich so ergeben, dass ich ein bisschen in die Rolle unserer Mutter geschlüpft und zum neuen Dreh- und Angelpunkt der Familie geworden bin, besonders für Vater. Er nimmt einen wichtigen Stellenwert in meinem Leben ein und ich verbringe sehr viel Zeit mit ihm. Ich mag seinen speziellen Schalk und seine ruhige Art, aber anders als Mutter, verfügt er nicht über sehr viel Empathie. Dafür kann er nichts, Empathie ist nicht bei allen Menschen gleich ausgeprägt. Er ist ein guter Handwerker und kennt sich mit elektrischen Dingen aus. In meinem Haushalt, oder dem meiner Geschwister, brachte er jede Lampe zum Glühen, defekte Maschinen zum Laufen oder zog eine neue Steckdose, wenn wir uns eine wünschten. Jetzt, wo er älter ist, hat das Werken nachgelassen und er verbringt lieber Zeit in der freien Natur als in seinem Bastelzimmer, das er in einem ehemaligen Kinderzimmer eingerichtet hat.
Mit Marc, meinem Geschäftspartner, führe ich in Kaltbad seit fünfzehn Jahren eine kleine Treuhandagentur, die es mir erlaubt Vater im Alltag behilflich zu sein. Er ist froh, wenn ich ihm wichtige Briefe schreibe, ihn zum Einkaufen begleite oder Besorgungen für ihn mache. Nicht wenige Male nimmt er meine Chauffeurdienste in Anspruch, wenn ihm die Wege für seine Vorhaben zu weit oder die Nutzung der Bahn zu umständlich sind. Die Zeit, die wir als Familie mit Vater verbringen, empfindet niemand als Opfer, wir sind gern mit ihm zusammen. Familientraditionen werden nicht nur hochgehalten, sie sind heilig. Allein die Einladungen zu allen Geburtstagen füllen den größten Teil unserer Terminkalender. Daneben trifft sich die Familie zu Picknicks und Ausflügen, an denen Vater, früher zusammen mit unserer Mutter, immer teilnimmt. Weil er fast überall dabei ist, kennt er auch die meisten unserer Freunde. Er kann sich nicht beklagen, dass er einsam ist. Als Wittwer allein, ja, aber nicht einsam. Dazu ist er zu gut in seine Familie eingebunden und integriert. Zudem profitiert er auch finanziell von uns, weil wir ihm in unserem Beisein seine Auslagen übernehmen und ihm auch unter dem Jahr Gelegenheitsgeschenke zukommen lassen, da wir davon ausgehen, dass ihm die Renten nur ein bescheidenes Leben ermöglichen. Jedenfalls vermittelt er uns diesen Eindruck.
Kaltbad ist ein typisches Dorf in einer ländlichen Gegend. Es liegt auf einer leicht erhöhten Sonnenterrasse in der Agglomeration der nahen Stadt. Auf der einen Seite grenzt es an einen Hang mit Buchenwäldern und auf der anderen Seite bietet es einen wunderschönen Ausblick auf die Ebene, durch die sich ein breiter Fluss schlängelt. Nebst einer Industriefabrik am Rande, findet man im Dorf Handwerksbetriebe und fünf aktive Bauernhöfe, wovon zwei außerhalb inmitten von Grünzonen liegen. Da es früher eine reine Arbeitersiedlung war, wechseln sich in den Quartieren Wohnblöcke und Einfamilienhäuser ab und erst in den siebziger Jahren kamen an der Hanglage ein paar Villen dazu. Menschen aus allen sozialen Schichten sind hier ansässig und sind stolz auf ihr Dorf. Trotz seiner neuntausend Einwohner dominiert der Dorfcharakter. Man kennt sich persönlich oder mindestens vom Sehen und zahlreiche Vereine jeglicher Art tragen zu einem aktiven Dorfleben bei. Die Bräuche werden gehegt und gepflegt und Ausländer, die in Kaltbad Wohnsitz nehmen, werden integriert. In dieser Hinsicht sind die Einwohner sehr tolerant, auch wenn sie sich nach außen nicht so international geben. An Gemeindeversammlungen kann es durchaus turbulent zugehen und es fliegen unschöne Wörter durch den Saal. Aber nach den Versammlungen treffen die politischen Gegner in der Gastwirtschaft beim Bier wieder aufeinander und sind sich einig, dass Kaltbad mit all seinen Besonderheiten und Alltagskleinigkeiten ein Dorf ist, in dem es sich zu leben lohnt. Zudem ist es mit seiner Nähe zur Autobahn und dem eigenen Bahnhof verkehrstechnisch sehr günstig gelegen.
Als Kelly ausgezogen ist, haben wir uns einen Hund angeschafft. Weil David sein männliches Ego nicht mit einer speziellen Hunderasse aufpolieren muss, haben wir uns in einem Tierheim umgesehen und uns für einen zweijährigen, mittelgroßen, struppigen und süßen Mischlingshund entschieden, den wir sofort ins Herz geschlossen haben. Eigentlich hieß er Lumpi. Aber wegen seinem dreifarbigen, in alle Richtungen abstehenden Fell, tauften wir ihn um und gaben ihm den Namen Struppi. Tagsüber ist er bei mir in der Agentur, für die ich und Marc in der Nähe des Dorfzentrums im Parterre einer Liegenschaft ein Geschäftslokal gemietet haben, in welches man direkt vom Gehsteig aus eintreten kann. Das Lokal besteht aus vier Räumen. Je einen Raum haben Marc und ich in Anspruch genommen und mit modernen Büromöbeln eingerichtet. Im Eingangsbereich, wir nennen ihn ‚Lobby’, stehen ein gewinkelter Schreibtisch, ein Rollcontainer, diverse mit Ordnern gefüllte Regale, ein Kopiergerät und ein Aktenschrank. Den vierten und kleinsten Raum, gleich neben der kleinen Küche, haben wir mit einem viereckigen Glastisch und schwarzen Ledersesseln ausgestattet und nutzen ihn für Besprechungen oder als Pausenraum. In den ersten Wochen habe ich Struppi daran gewöhnt, dass im Büro weder gebettelt noch gespielt und zu Hause alles nachgeholt wird. Ich besuchte mit ihm einen Erziehungskurs und blieb bei einer Trainingsgruppe hängen, die sich einmal pro Woche an einem Abend auf einem Übungsplatz trifft. Trainieren zu sagen wäre übertrieben, denn die meisten von uns sind nicht so konsequent, dass die Hunde die Übungen prüfungsgerecht ausführen könnten. Trotzdem lernen die Hunde viel und vor allem, sie sind unter Artgenossen. Ein eigenes Geschäft zu führen ist praktisch, weil es mir erlaubt, mich vom Arbeitsplatz zu entfernen, wenn der Hund oder mein Vater einen Bedarf haben. Eine Studie die besagt, dass Tiere motivierend auf das Arbeitsklima wirken, bestätigt sich auch bei uns. Lena, unsere Lehrtochter im zweiten Lehrjahr, die den Fokus ihrem Alter entsprechend auf Jungs, Mode, Kosmetik und Discos - Lena nennt sie Dance Clubs - legt, findet Struppi toll. Am Anfang wollte sie ihm unermüdlich das Apportieren beibringen und brachte ihn soweit, dass er die Post in den Fang nahm. Aber jedes Mal, wenn er mit den Briefen in der Schnauze in mein Büro laufen sollte, ließ er sie auf halbem Weg fallen. Lena gab es schließlich auf. Aber die Freude blieb und wehe, der Hund ist einmal einen Tag nicht da, weil David einen freien Tag hat oder Struppi bei Kelly ist, die ihn ab und zu hütet. Lena ist an diesen Tagen mürrisch und schiebt fast eine depressive Krise. Marc hat mit Hunden nicht viel am Hut aber nichts dagegen, dass er hier ist und überwindet sich sogar, ihm ab und zu liebevoll über den Kopf zu streicheln.
Marc ist fünf Jahre jünger als ich und wir haben uns bei einem Expertenweiterbildungskurs kennen gelernt. Er sieht sehr gut aus - sein Studium hatte er sich mit Modeljobs finanziert – ist überzeugter Single, trotzdem sehr umgänglich und verfügt über einen gesunden Menschenverstand. Bei der Weiterbildung arbeiteten wir am gleichen Projekt und haben als Team sehr gut funktioniert. Deshalb haben wir beschlossen, die Zusammenarbeit zu wagen und haben es bis jetzt nicht bereut.
Struppi ist auch bei Kelly höchst willkommen, denn Lynn, ihre kleine Tochter, ist von ihm hellauf begeistert. Sie und Struppi sind ein Herz und eine Seele und ihre Eltern müssen sie selten zu Aktivitäten überreden, wenn der Hund dabei sein wird. Bei schönem Wetter holt oft mein Vater den Hund ab und streift mit ihm durch die Wälder. Allerdings muss ich ihm, bevor er sich auf den Weg macht, die Hälfte der Leckerlis aus seinen prall gefüllten Taschen nehmen, damit der Hund nicht zu dick wird. Vater kann noch weniger als ich diesem speziellen Hundeblick widerstehen, bei dem die meisten weich werden. Ich wünschte mir, ich könnte diesen traurig treuen Hundeblick bei potenziellen Kunden aufsetzen, ich würde jeden Auftrag nach Hause bringen. Für Vater, Struppi und mich ist es eine win-win-Situation. Der Hund kommt tagsüber zu längeren Ausflügen, Vater bleibt in Bewegung und ich habe mehr Zeit, mich meiner Arbeit zu widmen. Das Abholen und Zurückbringen von Struppi schafft einen zusätzlichen Kontakt zu meinem Vater und ich weiß darum immer, wie es ihm geht.
Im Dorfzentrum von Kaltbad steht auf dem großen, von alten Kastanienbäumen umsäumten Platz ein großer Brunnen, an dem Bauern und Reiter ihre Pferde tränken und in dem im Sommer Kinder baden. In die alten und schön restaurierten Häuserzeilen ist eine Bäckerei mit einem kleinen Café, eine Pizzeria und ein Restaurant, der ‚Bären‘ integriert. In den warmen Monaten stellen die Gastwirte Tische und Stühle hinaus und bewirten die Gäste draußen. In den Bären, mit seiner gemütlichen und unkomplizierten Gastlichkeit kehren die Kaltbader gerne nach den Turn- und Musikübungsstunden ein. Die Musikgesellschaft von Kaltbad ist für ihre musikalischen Darbietungen weit herum bekannt. Nicht weit vom Zentrum entfernt findet man am Rande eines Parks, in einem historischen Gebäude, das Gasthaus Riederhof, dessen Name von einem Sumpfgebiet mit Schilfrohr und Riedergras herrührt, das es hier gab, bevor das Land bebaut wurde. Der Riederhof wird mit seiner gehobenen Ausstattung und der Fünfsterneküche bevorzugt dann besucht, wenn es etwas zu feiern gibt.
Mein Vater war weder Stammgast in einem der Restaurants noch Mitglied eines Vereins und kannte deshalb nicht viele Leute im Dorf. Vor zwei Jahren hatte er, nach ein paar Besorgungen am Vormittag, keine Lust in die Leere seiner Wohnung zurück zu kehren und die schattigen Plätze vor dem Bären luden an diesem warmen und schönen Frühlingstag zum Einkehren ein. Er suchte sich einen freien Tisch, setzte sich hin und schaute sich schüchtern um. Er bestellte einen Kaffee und während er daran nippte, beobachtete das Geschehen an den Nebentischen. Einer der Tische füllte sich langsam mit älteren Herren, im Durchschnitt um die siebzig Jahre alt, die nach und nach eintrudelten und sich gut zu kennen schienen. Einer der Senioren zog Vater über den Tisch hinweg in die Unterhaltung ein und Vater beantwortete bereitwillig die Fragen, die er stellte. Die Senioren waren beeindruckt, als sie sein Alter erfuhren. Sie kannten viele, die in diesem Alter auf einer Pflegestation liegen, senil sind oder nicht mehr wissen, was um sie herum geschieht und jetzt saß da ein rüstiger alter Herr, gesund und geistig klar. Sie boten ihm an, sich an ihren Tisch zu setzen. Dankbar nahm Vater das Angebot an und fühlte sich geschmeichelt, dass er zu dieser fröhlichen Runde gehören durfte. Weil er lieber zuhörte, trug er nicht viel zur Unterhaltung bei, verstand aber jeden Witz und wusste über viele Themen und das Weltgeschehen Bescheid. Von da an gehörte der Stammtisch im Bären zu seinem festen Vormittagsprogramm. Er lernte auch noch ein paar andere Personen kennen, mit denen er immer öfters auch zum Mittagessen im Bären blieb.
Mir gefiel diese Entwicklung, weil sie mich entlastet und Vater nun auch unter der Woche Gesellschaft hat. Meine Aufträge sind meistens termingebunden, dulden keinen Aufschub und darum bin ich froh über die gewonnene Zeit. Für Einkäufe oder Chauffeurdienste stehe ich ihm nach wie vor zur Verfügung und nehme mir auch die Zeit, mit ihm einen Kaffee zu trinken, wenn er Struppi abholt und zurückbringt. Aber oft hole ich die Zeit, die ich für Vater am Tag aufwende, am Abend nach. Mein Vater hat seine Rente, aber mir stehen noch ein paar Arbeitsjahre bevor und anders als viele irrtümlich meinen, verfügt man mit einer eigenen Firma nicht automatisch über Geld. Nur produktive Stunden generieren Einnahmen, Ferien und Feiertage sind nicht entschädigt und allein die Fixkosten – die Marc und ich uns teilen, für den Lohn ist jeder selber verantwortlich - verschlingen den größten Teil meines erwirtschafteten Ertrages. Ich glaube nicht, dass Vater sich das bewusst ist. Er steckt seit mehr als zwanzig Jahren nicht mehr im Arbeitsprozess und hat keine Ahnung, wie schnelllebig alles geworden ist. Wenn es die Auftragslage erlaubt, gehe ich einmal pro Woche an einem Vormittag auf einen schnellen Kaffee in den Bären, leiste Vater etwas Gesellschaft und habe dadurch seine Stammtischfreunde kennen gelernt. In letzter Zeit ist mir aufgefallen, dass Vater sich in einer ordinären Sprache ausdrückt. Ungeniert duzt er fremde Menschen und einmal rief er einem Kellner »dummer Affe« hinterher, als dieser im Stress am Tisch vorbeiflitzte und nicht sofort auf seine Bestellung reagierte. Ich frage mich, ob er diese Umgangssprache dem ungepflegten Arbeitslosen abgekupfert hat, der ebenfalls im Bären verkehrt. Dieser Mann macht jeden dumm an, klopft der Kellnerin anzüglich auf den Hintern und kann sich stundenlang über ein Thema ereifern, das auf der Titelseite einer Boulevardzeitung steht. Er ist zwar der einzige, der sich lustig findet, zieht aber gerade dadurch die Aufmerksamkeit auf sich. Höflich aber bestimmt wies ich Vater darauf hin, dass es nicht der richtige Weg ist um Gesellschaftsfähig zu bleiben. Die Senioren vom Stammtisch sind hochanständige Menschen und hätten keine Freude an seiner neuen Ausdrucksweise. In meiner Gegenwart zügelte sich Vater wieder und verkneift sich seither den Kneipenton.