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In der letzten Septemberwoche besuche ich Vater am Sonntagabend, bevor er am nächsten Tag ins Tirol abreist. Zuvor habe ich eine Packung seiner Lieblingszigarren besorgt, die ich ihm, wie jedes Jahr, in den Ferienkoffer legen will. Der fertig gepackte Koffer liegt mit aufgeklapptem Deckel auf der Eckbank beim Esstisch. Ich verspreche ihm, in seiner Abwesenheit täglich den Briefkasten zu leeren und vor seiner Rückkehr den Kühlschrank zu füllen. Gutgelaunt malt er sich aus, welche Ausflüge er mit Rita unternehmen will und erwähnt nebenbei, dass er ihr das Benzin bezahlen wird. Das versetzt mir wieder einen Stich. Bei keinem von uns ist ihm das in den Sinn gekommen, obwohl wir mit ihm schon so oft ins Tirol gefahren sind und ich ihm, wenn ich nicht dabei war, den Kühlschrank gefüllt habe, ohne dass er mich je einmal entschädigt hat. Keinen von uns.

»Wieso bezahlst du das Benzin?«

»Weil sich das so gehört. Weißt du was das Benzin heutzutage kostet?«

»Klar weiß ich das. Ich gebe es nicht nur für mich aus, wenn ich dich herum chauffiere«, motze ich. Er schweigt und zieht die Hände in die Höhe. Die Zigarren bleiben in meiner Tasche. Ich wünsche ihm schöne Ferien und bitte ihn mal anzurufen, damit ich weiß, wie es ihm geht.

Am Montagmorgen fährt Rita mit ihrem teuren Schlitten vor, bugsiert Vater und Koffer in den Wagen und braust Richtung Tirol davon. Die Fahrt dauert mehr als vier Stunden und sie ist in dieser Zeit sehr gesprächig. Er versteht nicht alles was sie sagt, nickt aber stets mit dem Kopf und stellt ab und zu eine nichtssagende Frage, um ihren Redefluss am Leben zu halten.

»Woran denkst du«, fragt Rita, als sie bemerkt, dass er nachdenklich neben ihr sitzt.

»An Corinne. Normalerweise schenkt sie mir vor den Ferien eine Schachtel mit feinen Zigarren. Dieses Jahr hat sie es wohl vergessen.«

»Vergiss Corinne, die ist nur neidisch.«

Als eine Raststätte auftaucht, stellt Rita den Blinker, fährt von der Autobahn, parkiert den Wagen und bittet Vater sitzen zu bleiben. Sie steigt aus, knallt die Türe zu und verschwindet in der Raststätte. Als sie zurückkommt, drückt sie Vater eine Schachtel Zigarren in die Hand. Die billige Marke erkennt er auf den ersten Blick, aber weil er sie dafür küssen darf, ist er wieder versöhnt. Mehrmals drückt er seine feuchten Lippen auf Ritas Mund und sie lässt es widerstandslos geschehen. In ihrem Leben musste sie schon Schlimmeres über sich ergehen lassen.

Im Hotel kümmert sie sich um die Formalitäten, lässt sich vom Concierge zwei Zimmerschlüssel aushändigen und drückt einen davon Vater in die Hand. Abwechselnd sieht er auf die Schlüssel, den in seiner und den in ihrer Hand. »Haben wir kein Doppelzimmer?«, fragt er enttäuscht.

»Nein. Es ist besser so. Ich schlafe bei Licht schlecht ein und du willst ja vor dem Einschlafen immer lesen.«

Vater hat dafür ein paar ‚Jerry Cotton‘-Romanhefte im Gepäck. Er hat sich das anders vorgestellt, akzeptiert es aber stillschweigend, um die gute Stimmung nicht zu trüben. Wenigstens trägt sie seinen Koffer in sein Zimmer hoch. Nach dem Abendessen gehen beide früh zu Bett. Am anderen Morgen treffen sie sich im Speisesaal und Rita zeigt sich von ihrer besten Seite. Sie holt für ihn am Buffet das Frühstück und gibt sich sehr fürsorglich. Beim Schmieden des Tagesplans driften ihre Interessen auseinander. Er will mit der Seilbahn auf einen Berg hochfahren und sie im Dorf flanieren. Um ihr zu gefallen gibt er nach. Nach dem Frühstück verlassen sie das Hotel und schlendern Arm in Arm durchs Dorf. Stolz erklärt er Rita die Umgebung, die fast zu seiner zweiten Heimat geworden ist. Mit seiner Familie ist er so oft hier gewesen, dass er die Gegend wie seine Hosentasche kennt. Ritas Begeisterung hält sich in Grenzen. Sie interessiert sich mehr für die Auslagen in den Geschäften und als sie erfährt, dass Vater keine Kreditkarte hat, sinkt ihre Laune. Die Aussicht, eine ganze Woche mit dem alten Mann, ohne ausreichende Entschädigung, verbringen zu müssen, macht es nicht besser. Sie beschließt das Beste heraus zu holen und bringt Vater ins Hotel zurück.

»Mach was Du willst. Ich habe starke Kopfschmerzen und muss mich hinlegen. Und stör mich bitte nicht.«

Enttäuscht blickt er ihr hinterher, als sie zum Aufzug stöckelt. Da ihm nichts Anderes übrigbleibt, geht er in die Bar und bestellt sich ein Bier. Rita lässt sich den ganzen Tag nicht mehr blicken und Vater ist froh, als Toni am anderen Morgen im Hotel eintrifft.

In Tonis Gegenwart zeigt sich Rita wieder von ihrer freundlichsten Seite und benimmt sich, als wären sie und Toni alte Freunde. Toni findet nichts an ihr auszusetzen und sie verbringen zu Dritt einen angenehmen Tag. Als Toni mich am Abend anruft, schwärmt sie von Rita in den höchsten Tönen. Ich finde es unglaublich, aber Toni ist noch blauäugiger als Vater.

Am nächsten Tag werden sie von Vaters ehemaligem Vorgesetzten zum Mittagessen im Fünfsternehotel erwartet. Toni will nicht mit und zieht einen Ausflug vor. Vater bedeutet die Einladung sehr viel und freut sich, zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen zu können, weil sein Chef und Rita beeindruckt sein werden. Der Chef von seiner neuen jungen Frau und Rita, weil er so wohlhabende Leute kennt. Vater hat sich für diesen Höhepunkt extra in Schale geschmissen und Rita kreuzt in einem Minirock, Pumps und einer tief ausgeschnittenen Bluse auf. Als sie in Peter Sanders Hotel eintreffen, werden sie von ihm in der Halle in Empfang genommen. Kaum hat Vater Rita seinem Chef vorgestellt, wird er von ihr wie Luft behandelt. Ein Kellner nimmt ihnen die Mäntel ab und Peter geleitet sie durch die Halle in den Speisesaal. Rita läuft mit ihm voraus und Vater als fünftes Rad am Wagen hinterher. Der Speisesaal macht einen sehr prunkvollen Eindruck. Die Vorhänge an den großen Fenstern sind aus dem gleichen dunkelblau gemusterten Stoff, mit dem auch die Stühle überzogen sind. Überall stehen frische Blumen und Nippes aus Silber. Die Tische sind wunderschön mit weißen Stofftüchern, Silberbesteck, Kristallgläsern, Kerzenleuchtern und Blumengestecken eingedeckt. Die Kellner tragen schwarze Anzüge und weiße Handschuhe. Diskret halten sie sich im Hintergrund, sind aber sofort zur Stelle, wenn man sie braucht. Galant zieht Peter Vater und Rita den Stuhl hervor, bevor sie sich setzen. Rita hat sofort erkannt, dass er finanziell in einer anderen Liga spielt als Vater und noch bevor etwas zum Trinken auf dem Tisch steht, beginnt sie Peter aufreizend zu umgarnen. Ihr Benehmen gefällt weder ihm noch Vater, aber Peter versteht in jeder Situation Haltung zu bewahren und überspielt geschickt ihre Avancen. Er lässt sich nichts anmerken, dass Rita seinem eigentlichen Gast keine Beachtung schenkt und zieht beide in den Small Talk ein. Rita interpretiert seine Höflichkeit als Interesse und legt, als sie erfahren hat, dass er Witwer ist, weiter ihre Köder aus, während Vaters Stimmung immer mehr bachab geht. Die Aufmerksamkeit, die Rita seinem Chef zukommen lässt, hatte er für sich erwartet. Enttäuscht lehnt er sich zurück und nimmt nicht mehr an der Unterhaltung teil. Er beschäftigt sich mit dem Essen und wirft ab und zu einen Blick durch das Fenster auf die Blumenrabatten im gepflegten Garten. Unaufhörlich redet Rita auf Peter ein und die zu Beginn noch freundliche Atmosphäre weicht zunehmend einer steifen Stimmung. Peter findet sie nicht sonderlich attraktiv und weil er seinen anderen Gast nicht brüskieren will, macht er bis zum Schluss gute Miene zum bösen Spiel. Als sie sich Verabschieden ist Vater grenzenlos enttäuscht und Rita hoch erfreut. Wenn sich dieser Fisch angeln lässt, hat sich die Woche für sie doch noch gelohnt. Peters Förmlichkeit schreibt sie der Rücksichtnahme auf seinen ehemaligen Untergebenen zu und nimmt sich vor, am Abend zurück zu kommen, um noch mehr aus ihrem Register zu ziehen. In Wahrheit ist Peter froh, als diese Frau mit ihrem schrillen Gelächter und ihrer penetranten Aufdringlichkeit endlich gegangen ist. Die Unterhaltung beim Mittagessen hat er mangels Ritas fehlender intellektueller Bildung als sehr mühsam empfunden und hat nicht vor, ihr noch einmal freiwillig zu begegnen. Wenn Walter Graf Freude an dieser billigen Nutte hat, soll er sie haben, aber für ihn ist sie definitiv keinen Gedanken mehr wert. Als der Portier ihm am Abend über das Haustelefon ausrichtet, dass eine Frau Elsino an der Rezeption ist und ihn sprechen will, lässt er sich verleugnen.

Am anderen Tag ist Vater auch am Morgen wieder beleidigt, weil Rita mürrisch ist und nur schnippische Antworten gibt. Es wird erst besser, als Toni zum Frühstück erscheint, Frank und Lore im Hotel eintreffen und mit großem Hallo in den Frühstücksraum stürmen. Vater trotzt als er hört, dass sie durchs Dorf schlendern wollen. Er würde jetzt endlich gern den Ausflug mit der Seilbahn machen. Weil es ein wunderschöner Herbsttag ist, beschließen sie, ihm den Wunsch zu erfüllen. Als die Vierer-Gondel in die Station einfährt, lässt Frank Toni und Lore zuerst einsteigen und schiebt dann Vater hinterher. Als sich die Türe schließt schaut Vater enttäuscht aus dem Fenster und sieht, wie Rita mit Frank in die nächste Gondel einsteigt.

»Nimm es nicht tragisch. Wir haben hier nicht alle Platz«, tröstet ihn Toni.

Vater lässt das Argument gelten und im Moment ist seine Vorfreude auf das Wiedersehen mit dem einheimischen Personal im Bergrestaurant grösser als die aufsteigende Eifersucht. Nach der Gondelfahrt spazieren sie dem Panoramaweg entlang und bewundern die schöne Aussicht. Für Vater ist es der Höhepunkt der Woche, nachdem beim ersten der Schuss nach hinten losgegangen ist. Stolz zeigt er Rita die Gipfel, auf denen er gestanden ist. Er kennt jeden Berg mit Namen und hebt besonders das Legerhorn hervor. Zum Erklimmen dieses Gipfels ist eine Klettererfahrung nicht von Nöten, aber dennoch ist die Hütte unterhalb des Gipfels nur über eine anspruchsvolle Bergwanderroute zu erreichen. Mit bloßem Auge versucht er die Hütte zu erkennen, mit der ihn schöne Erinnerungen verbinden. Jahrzehntelang ist er jeden Sommer mit seiner Familie zu dieser Hütte aufgestiegen. Seine Kinder und später seine Enkelkinder nahmen jeweils auch ihre Freunde mit. Nach dem anstrengenden Aufstieg artete der Abend in der Hütte jedes Mal in ein feuchtfröhliches Fest aus. Zum Schlafen kam man wenig. Obwohl der Weg gefühlsmäßig jedes Jahr länger und steiler wurde, trugen alle den Termin für die zweitägige Tour schon früh im Jahr in die Agenda ein, weil keiner sie verpassen wollte. Im Bekanntenkreis kursierte das Gerücht, wer zur Familie Graf gehören will, muss mindestens einmal in der Legerhornhütte gewesen sein. Als die Tour für Mutter zu beschwerlich wurde, blieb sie zu Hause und erwartete die ganze Gesellschaft nach der Rückkehr am Sonntagabend zum Spaghetti-Essen an ihrem Tisch. Die Tradition fand erst ein Ende, als auch Vater aus Altersgründen aufgeben musste. Immerhin stand er mit achtundsiebzig Jahren zum letzten Mal auf dem Legerhorn.

Frank und Toni tauschen Erinnerungen aus, necken sich ungezwungen und passen auf Vater auf, der nur Augen für die Bergwelt hat und über kleine Felsbrocken stolpert, die verstreut auf dem Wanderweg liegen. Auf einer Aussichtsplattform blicken sie auf das weit untenliegende Dorf, das mit dem herausragenden Kirchturm aus dieser Entfernung wie ein Spielzeugdorf wirkt. Die Wälder zeigen die ersten Anzeichen des bevorstehenden Herbstes und auch der Himmel hat nicht mehr das intensive blau des Sommers. Die Schwalben sind bereits auf dem Weg übers Meer und bald werden die Kühe die Sommerweiden auf den Almen verlassen und in ihre Winterquartiere im Tal ziehen. Es ist um diese Tageszeit bereits kühl und Vater beginnt zu frösteln. Sie kehren um und gehen ins Restaurant, wo Vater vom Personal erkannt und ihm der Hof gemacht wird. Vater ist glücklich und dankbar. Nach dem Mittagessen beschließen Frank und Rita zu Fuß ins Dorf hinunter zu laufen und schicken Toni und Lore mit Vater zur Gondelbahn. Kaum sitzen die drei in der Kabine, liefern Vater und Lore ein Eifersuchtsdrama erster Güte ab und schaukeln sich gegenseitig hoch. Das Gejammer geht Toni ans Herz und sie ist froh, dass sie mit den beiden Heulsusen allein in der Gondel ist.

»Weshalb lässt du dich nicht scheiden?«, fragt sie Lore.

»Weil uns das Geld fehlt. Bis jetzt wollte ich euch nichts sagen, aber wir haben finanzielle Schwierigkeiten. Ich habe keine Ahnung wofür Frank unser Geld ausgibt. Sogar der Steuerprüfer war schon bei uns zu Hause«, schluchzt sie.

»Das war der Pfändungsbeamte. Die Steuern schicken keinen vorbei«, erwidert Toni.

»Meinst du?«, fragt Lore.

Vaters Gesichtsfarbe wechselt von blass auf Rot. »Rita soll ja nicht glauben, dass ich ihr noch alles bezahle. Das kann sie vergessen«, ereifert er sich, während er ins Taschentuch schnäuzt und mit einem Zipfel Tränen aus den Augen wischt.

Als sie ins Hotel zurückkehren, gehen Vater und Lore auf die Terrasse. Sie wollen die Ankunft von Frank und Rita nicht verpassen, weil sie sich vorgenommen haben, den beiden ordentlich die Meinung zu geigen. Als sie eintreffen, vergisst Vater bei Ritas Anblick seinen Vorsatz und beginnt zu strahlen. Ihr gekünsteltes Lächeln nimmt er für bare Münze und bestellt beim Kellner eine Flasche Weißwein. Frank, der bei der Aussicht auf ein Glas Wein einen trockenen Hals bekommen hat, weigert sich, Lore aufs Zimmer zu begleiten. Lore geht allein hinauf, setzt sich aufs Bett und heult sich die Augen aus, während Vater, Frank und Rita eine zweite Flasche Weißen bestellen und zusehen, wie die Sonne langsam hinter den Gipfeln verschwindet. Rita bezirzt Vater, dass sie doch seinen Chef besuchen könnten. Vater tut, als hätte er es nicht gehört.

Am Freitagabend erhalte ich wieder einen Anruf von Toni. Dass bei ihr der Groschen endlich gefallen ist, merke ich an ihrer Erzählung.

»Du machst dir keinen Begriff was hier abläuft. Sie sitzen draußen auf der Hotelterrasse beim Aperitif und ich bin in meinem Zimmer. Ganz ehrlich, mir geht das Ganze auf den Wecker und ich würde am liebsten die Koffer packen und nach Hause fahren. Man muss sich schämen. Rita und Vater schmusen in der Bar und ziehen die Aufmerksamkeit der Gäste auf sich. Der Hotelier verdreht hinter dem Tresen die Augen und wirft mir mitleidvolle Blicke zu. Gestern Abend haben Frank und Rita beschlossen, eine Bar weiter zu ziehen und Vater ging aus purer Eifersucht mit, obwohl er nach dem Ausflug hundemüde war. Heute Morgen hat er erzählt, dass er vom Barhocker gefallen ist und sich zum Glück nicht verletzt hat.«

»Aus Rücksicht auf sein Alter wäre es besser gewesen, sie hätten sich mit ihm auf eine Sitzgruppe gesetzt. Aber eben. Vaters Wohl ist für sie nebensächlich.«

»Stell dir vor, Rita hat Vaters Geldbörse in ihrer Handtasche, damit er das schwere Ding nicht mit sich herumtragen muss.«

»Super. Sieh mal nach, wie viel Geld noch drin ist. Er nimmt immer so viel mit, dass er das Hotel bar bezahlen kann. Bleib dran, die darf man nicht mehr alleine lassen«, bitte ich Toni, bevor wir auflegen.

Am nächsten Abend rufe ich sie an und bin neugierig auf die Fortsetzung. Sowie sich alle benehmen und wie Rita immer dreister wird, ist es in meinen Augen bereits filmreif.

»Frank und Lore sind heute abgereist. Dafür tauchte ein gewisser Andy auf, mit dem Rita jetzt vorne im Restaurant sitzt. Dafür darf ich Vater in der Hotelbar wieder trösten. Er hat die Hände zwischen die Knie geklemmt und schüttelt verständnislos den Kopf. Sein Bier rührt er nicht an und will unbedingt aufbleiben. Ohne Ritas Gutenachtkuss will er nicht ins Bett«, erzählt Toni.

»Dieses Miststück. Macht sich auf Vaters Kosten eine Woche Ferien und geht nur ihrem Vergnügen nach. Die soll mir noch mal kommen, sie wäre so sozial. Unglaublich, was Vater sich alles gefallen lässt«, ärgere ich mich.

»Frank und Rita stecken unter einer Decke. Es ist schlimm. Wirklich. Ich rufe dich wieder an, wenn ich zu Hause bin.«

Als Vater und Rita am Samstag im Hotel auschecken, lässt Rita an der Rezeption für ihres und Vaters Zimmer separate Rechnungen ausstellen. Nächste Woche wird sie Vater zur Post begleiten und sich, nachdem er die Rechnungen am Schalter einbezahlt hat, eine der Quittungen aushändigen lassen. Auf diese Weise verschafft sie sich den Gegenbeweis, sollte jemand auf die Idee kommen sie zu beschuldigen, sie würde dem alten Mann auf der Tasche liegen. Sie hat aus ihren Fehlern gelernt.

Am Montagmorgen schicke ich Lena kurz vor zehn zum Bäcker. Als sie zurückkommt, hat sie Vater im Schlepptau, den sie auf dem Gehsteig angetroffen hatte. Weil er auf sie einen verstörten Eindruck machte, zog sie ihn herein. Als ich auf ihn zugehe, sehe ich dunkle Ringe unter seinen Augen. Lena geht in die Küche und ich mit Vater ins Sitzungszimmer. Noch bevor Lena ihm einen Kaffee serviert, beginnt er sich zu beschweren, dass auf der Hotelrechnung alle Getränke von Frank aufgeführt sind und er an den Tagen, an denen Frank im Tirol war, nicht in Ritas Zimmer durfte.

»Glaubst du, die haben was zusammen?«, fragt er traurig.

»Das glaube ich nicht nur, ich bin überzeugt«, antworte ich mitfühlend.

Lena versucht Vater zu trösten: »Herr Graf, wenn Sie dieser Frau den Laufpass geben, geht es Ihnen wieder besser. Sie leiden ja nur noch unter dieser Beziehung.«

Er ist für Lenas nette Worte nicht empfänglich.

»Rita hat keine Affäre mit Frank, denn sie hatte mir versichert, dass sie außer Alfred nur mich liebt.«

»Und Sie glauben das?«, fragt Lena.

»Dir ist wirklich nicht zu helfen. Wer ist Alfred?«, frage ich und Lena sagt im selben Moment: »Sie dürfen dieser Frau auf keinen Fall Geld geben.«

»Das sagen auch meine Stammtischkollegen. Aber von mir bekommt sie keinen Cent. Da könnt ihr sicher sein.«

Ich hole tief Luft und presche los.

»Nein, nur die fünftausend Euro vor einem Monat und die Bezahlung der Ferien im Tirol.«

Wegen den Ferien bin ich mir nicht sicher, stelle es mir aber vor. Vater schweigt und zieht die Hände in die Höhe. Ich habe voll ins Schwarze getroffen.

»Die Ferien hat sie selber bezahlt«, wehrt er sich.

»Lüg mich nicht an. Wer ist Alfred?«

»Ihr Freund. Aber der ist verheiratet und seine Frau darf nichts von Rita wissen.«

»Bist du dir bewusst, dass du ein Verhältnis mit einer Frau hast, die mit Alfred, Frank und dir ins Bett geht? Hast du keinen Stolz?«

Im selben Moment schießt mir durch den Kopf, dass auch Mutter in den Auseinandersetzungen mit ihm oft die Frage mit dem Stolz stellte, manchmal bekamen wir Bruchstücke mit.

»In dieser Hinsicht kann ich Rita nichts mehr bieten und habe deshalb nichts dagegen. Schließlich ist sie eine junge Frau und wir haben uns deswegen ausgesprochen.«

»Diese Frau muss ein Superstück sein«, sagt Marc. Er lehnt mit gekreuzten Beinen am Türrahmen und hört interessiert zu.

»Halt dich raus, du hast keine Ahnung«, zische ich ihn an und wende mich an Vater.

»Papa, wir würden dir eine neue Frau von Herzen gönnen. Aber keine wie Rita. Ihr Verhalten ist jenseits von Gut und Böse. Sie lässt dich fallen wie eine heiße Kartoffel, wenn du kein Geld mehr hast.«

»Wo denkst du hin? Sie hat versprochen, bis an mein Lebensende für mich da zu sein.«

»Sie verfolgt rücksichtslos ihre Interessen. Brich den Kontakt ab.«

»Ich werde darüber nachdenken«, verspricht er und steht auf. Marc verzieht sich nachdenklich in sein Büro. Am Anfang fand er das Gespräch noch amüsant, aber der anfängliche Unterhaltungswert schlug bei ihm zum Schluss in ein Missfallen um, das ihm nicht gefällt.

Ich treffe mich noch immer mit Vater zum Einkaufen oder auf einen Kaffee. Um Frank und Rita nicht zu begegnen, wähle ich die Tage aus, an denen sie nicht bei ihm sind. Da sie dreimal pro Woche mit ihm im Riederhof sind, und Rita mit Vater vorher am Stammtisch im Bären ist, sehe ich ihn nicht mehr so oft wie früher und finde es schade, dass er keine Waldspaziergänge mehr macht, die er einst so liebte. Seine Seele hätte in der Natur wieder tanken können. Jetzt lebt er nur noch für die Stunden, in denen er mit Rita zusammen ist und verzerrt sich in der übrigen Zeit vor Sehnsucht nach ihr. Die Leidenszeit ist um einiges länger. Es ist mir unbegreiflich, wie sich mein Vater so verändern konnte, bisher sind wir eine Einheit gewesen, haben die Familie als kostbares Gut betrachtet und uns blind verstanden. Jetzt entfernt er sich immer weiter davon weg und meine Bemühungen, ihn im sicheren Schoss der Familie zu halten, kosten mich viel Kraft. Wenn nicht bald ein Wunder geschieht, wird es in einer Katastrophe enden.

Als ich wieder einmal mit Vater verabredet bin und ihn zu Hause abhole, steige ich aus dem Wagen und lasse die Fahrertüre offen. Ich laufe zur Beifahrerseite, öffne die Türe und bleibe davor stehen während ich auf Vater warte, der soeben den Hauseingang verlässt. Er kommt auf mich zu, läuft an mir vorbei zur Fahrerseite, steigt, weil das Lenkrad im Weg ist, umständlich ein und zieht auch noch die Türe zu. Ich mache ihn nicht auf den Fehler aufmerksam, weil ich herausfinden will wie lange es dauert, bis er ihn selbst bemerkt. Es würde einiges über seine geistigen Kräfte aussagen. Ich steige auf der Beifahrerseite ein und strecke ihm den Autoschlüssel zu.

»Willst du fahren?«

»Nein. Wieso?«

»Weil du hinter dem Lenkrad sitzt?«

»Was?«

Es dauert eine Weile, bis er das Lenkrad erkennt.

»Ähä. Hehe«, lacht er.

Um ihm nicht das Gefühl zu geben, dass mit ihm etwas nicht stimmt, lache ich mit, als wir die Plätze tauschen. Auf der Fahrt zum Supermarkt stelle ich mir die Frage, ob er Ritas schlechtem Betragen deshalb so gleichgültig gegenübersteht, weil er es wieder vergisst? Ich muss mehr erfahren, um mir darüber klar zu werden.

»Nimmst du überhaupt wahr, dass sich Ritas Interesse hauptsächlich auf dein Geld ausrichtet?«

»Es ist nicht Rita. Es ist Frank, der mich um Geld anbettelt.«

»Wie bitte? Wieso Frank?«

»Ja. Immer wieder und nicht wenig.«

Das ist bestimmt nicht so. Er verwechselt die Personen. Ich muss herausfinden ob es die ersten Anzeichen einer Vergesslichkeit sind oder ob er weiß, was er sagt. Als ich wieder im Büro bin, rufe ich Frank an.

»Vater sagt, du würdest bei ihm Geld betteln. Ist das wahr?«

»Ich weiß nicht was du hast. Vater kann mit seinem Geld machen was er will!«, antwortet er frech und lässt sich auf keine Diskussion ein. Ich bin gleichzeitig schockiert und erleichtert. Vater weiß, was er sagt, um ihn muss ich mir keine Sorgen machen, dafür umso mehr um Frank.

Ungewollte Grenzerfahrung

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