Читать книгу Ungewollte Grenzerfahrung - Corinne Miller - Страница 7

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Der Sonntag Mitte Juli verspricht ein schöner und heißer Sommertag zu werden und die Wettervorhersage prophezeite einen Höchstwert von 32 Grad. Kein Wölkchen ziert den blauen Himmel, als ich um zehn Uhr mit Struppi eine kurze Runde drehe. Wir wollen danach zu Kelly, die heute ihren Geburtstag feiert. David verstaut gerade einen Korb mit Geschenken in den Wagen, als ich zurückkomme. Er lässt Struppi in die Boxe springen, ich hole in der Wohnung die restlichen Sachen, schließe die Haustüre und setze mich zu ihm auf den Beifahrersitz. Wir fahren zuerst zu Vater und holen ihn ab, weil er mit uns zu Kelly fährt. Er wohnt in einem Außenquartier in einem Wohnblock, der in den fünfziger Jahren erbaut worden ist. Der Block ist fünf Stockwerke hoch und hat vier über die Länge verteilte Eingänge, über deren Treppenhäuser man zu den Wohnungen gelangt. Lifte gibt es nicht. Früher gab es an dieser Straße, gleich nach der Querstraße, nur noch einen zweiten identischen Block, ansonsten war alles von grünen Matten und Obstbäumen umgeben. Heute ist alles verbaut. Vater wohnt im äußersten rechten Eingang im zweiten Stock und noch immer in der Vierzimmerwohnung, in der ich und meine Geschwister aufgewachsen und groß geworden sind. Vom Korridor aus führen vier Türen in ein Schlaf-, Wohn- und zwei Kinderzimmer. Eigentlich ist es kein Korridor, sondern ein großer Raum, der an die Küche grenzt und mit einem Esstisch, einer Sitzbank und drei Stühlen ausgestattet ist. Ich komme gerne hierher, denn mit diesem Ort verbinden mich viele schöne Erinnerungen und manchmal kommt mir ein besonderes Erlebnis in den Sinn, wenn ich an der Rasenfläche vorbei zum Eingang laufe. Neben dem Namensschild ‚Walter Graf‘ drücke ich zweimal kurz auf den Klingelknopf. Es ist das mit Vater vereinbarte Zeichen, dass ich es bin. Kurz danach erscheint er auf dem Balkon, winkt mir zu, geht zurück ins Wohnzimmer, schließt die Balkontüre und zieht schwungvoll den Vorhang vor das Fenster. Als er den Eingang von seinem Block verlässt, wirft er aus lauter Gewohnheit einen Blick in den Briefkasten. Obwohl ihm niemand Ratschläge erteilt - nur bei ganz besonderen Anlässen kümmere ich mich vorher um seine Garderobe - ist er ordentlich und sauber gekleidet. Er trägt der Jahreszeit angepasste lockere und luftige Kleider und einen geflochtenen Strohhut, mit dem er sehr vornehm aussieht. Zur Begrüßung streckt er mir seine leeren Hände entgegen, denn er bringt nie etwas mit, wenn er eingeladen ist. Wenn seine Kinder oder Enkelkinder Geburtstag haben, schreibt er auf der Schreibmaschine eine Karte mit persönlichen Worten, die er ihnen entweder persönlich übergibt oder mit der Post verschickt. Seinen Kindern legt er jeweils hundert Euro in den Umschlag. Während Mutter in Sachen Mitbringsel fast zu großzügig war, ist Vater das pure Gegenteil davon. Ich weiß nicht wieso, aber heute stört es mich, dass er Kelly nichts mitbringen will. Als ich ihm auf der Beifahrerseite beim Einsteigen helfe bemerke ich, wie er umständlich in der einen Hosentasche eine Geldbörse und in der anderen eine Zigarrenschachtel zur Seite schiebt, bevor er sich hinsetzt. Als ich hinter David auf dem Rücksitz Platz genommen hatte, flüstere ich ihm zu, dass er zum Bahnhof fahren und dort anhalten soll. Dann lehne ich mich nach vorne und frage Vater: »Hast du kein Geschenk dabei?«

»Nein. Warum?«, fragt er erstaunt.

»Weil Kelly Geburtstag hat. Sie ist immerhin dein Enkelkind. David fährt zum Bahnhof, dort haben die Geschäfte am Sonntag geöffnet. Ich kaufe für dich etwas ein, aber ich will, dass du es bezahlst, damit es wirklich ein Geschenk von dir ist! Zwei Tafeln Schokolade kosten nicht alle Welt.«

»Wieso jetzt plötzlich?«

»Weil du sehr oft bei Kelly eingeladen bist und sie und ihre Familie viel mit dir unternehmen. Ich weiß, Lynn ist manchmal etwas stürmisch, aber sie ist dein Urenkelkind. Es ist nicht zu viel verlangt, wenn du beiden einmal eine Kleinigkeit schenkst. Es muss nichts Großes sein. Es geht um die Geste.«

David hat inzwischen beim Bahnhof einen Parkplatz gefunden. Ich steige aus, laufe um den Wagen, öffne von außen die Beifahrertüre und schaue Vater erwartungsvoll an. Als er merkt, dass ich es ernst meine, zieht er die Geldbörse aus der Hosentasche und klappt sie auf. Von oben sehe ich einen Zehner, zwei Zwanziger und einen Hundert-Euroschein darin stecken. Er nimmt den Zehn-Euroschein und streckt ihn mir zu. »Wenn du meinst«, sagt er zerknirscht.

»Ja, ich meine! Es hat alles seine Grenzen.«

Ich schnappe den Geldschein und verschwinde im Laden. Dort entscheide ich mich für eine kleine Schachtel Pralinen und eine Tafel Schokolade und achte darauf, dass beides nicht mehr als zehn Euro kostet. Ich kenne Vater und weiß, wie schlau er sich zu profilieren versteht ohne dass er sich selbst beteiligen muss und heute habe ich keine Lust, wieder etwas beizusteuern. Letzte Weihnachten, als ich mich Anfang Dezember erkundigte, ob er Helene Kramer, seiner Haushaltshilfe, etwas schenkt, habe ich, als er verneinte, auf meine Kosten eine Flasche Champagner besorgt und Vater gebeten, diese mit einem Batzen - aus seinem Sack - Frau Kramer zu schenken. An den Weihnachtsfeiertagen wollte ich wissen, wie die Geschenke angekommen sind. Er meinte, dass sie sich über den Champagner gefreut hätte. Auf meine Frage, wieso er nicht noch etwas dazu gelegt hat, meinte er trocken, man soll nicht alles auf einmal schenken. Diese Gedanken und ähnliches gehen mir durch den Kopf, während ich vor der Kasse in der Schlange stehe und hoffe, dass es bald vorwärtsgeht. Im Laden ist es angenehm kühl, aber David, Vater und Struppi sind draußen der Hitze ausgesetzt. Als ich an der Reihe bin, bezahle ich rasch und eile zurück zum Wagen. Ich drücke Vater die Pralinen, die Schokolade und die paar Cents vom Rückgeld in die Hand und steige hinten ein. David startet den Motor und lenkt den Wagen zur Autobahn. Nach einer halben Stunde treffen wir bei Kelly ein. Sie wohnt in einem kleinen Dorf und besitzt mit ihrem Mann in einer gepflegten Einfamilienhaussiedlung ein kleines, schmuckes Häuschen. Heute haben sie im Garten auf der Rasenfläche zusätzliche Sitz- und Tischgarnituren mit Sonnenschirmen aufgestellt und die Tische festlich gedeckt. Wir treffen als letzte ein und werden fröhlich empfangen. Vater gratuliert Kelly zum Geburtstag, drückt ihr die Pralinen und die Schokolade in die Hand und schlurft in den Garten. Es ist so heiß, dass alle unter den Schatten spendenden Sonnenschirmen nah zusammenrücken aber für Vater den besten Platz freigehalten haben. Er geht um die Tische und weil er ein gutes Gedächtnis hat, braucht er bei der Begrüßung keine Unterstützung für die Namen. Nebst ein paar Verwandten von Kellys Mann ist meine Familie fast vollzählig vertreten. Nur Frank und Lore fehlen, weil Kelly sie dieses Jahr nicht eingeladen hat. Sie sind die Jahre zuvor immer an diesem Fest dabei gewesen, aber weil sie sich nie revanchiert haben und generell mehr nehmen als geben, hat Kelly beschlossen, die einseitige Sache zu beenden. Ich verstehe sie, denn Frank und Lore drücken ihre Auslagen und ihren Aufwand meistens Anderen auf. Erwarten sie bei sich zu Hause Gäste, ruft Frank reihum an und versucht unter dem Vorwand: »Ihr kennt sie auch und sie würden sich freuen, euch zu sehen«, seine Umtriebe abzuwälzen und erwähnt so nebenbei, dass er nichts dagegen hätte, wenn etwas Kleines aufgetischt würde. Mutter sagte nie nein. Ich erinnere mich auch an keinen Weihnachtstag, an dem Frank nicht mit Lores Sippe an ihrem Tisch gesessen ist. Natürlich hatte ich Mutter gefragt, weshalb sie sich die Mühe macht, weil ich nicht verstanden habe, dass Lore ihre eigene Familie nicht einmal an Weihnachten bei sich zu Hause bewirten will.

»Du kennst Lores Familie. Sie haben wenig soziale Kontakte und mir macht es nichts aus«, erklärte sie jedes Mal. Nachdem sie nicht mehr da war, versuchte Frank uns Geschwistern seine Gäste aufzudrücken, aber wir wiesen Franks Selbsteinladungen immer öfters ab. Aber um den Frieden zu wahren, stellten wir uns bisher seiner Vorstellung, wie die Rechnung bei gemeinsamen Restaurantbesuchen aufzuteilen ist, nie entgegen. Er und Lore bestellten immer den teuersten Wein und die besten Gerichte, während wir uns nach der Decke streckten. Ging es ans Bezahlen, bestand Frank jedes Mal auf die Teilung der Rechnung durch die Anzahl Personen am Tisch, wobei er sich und Lore als eine Person rechnete. Zähneknirschend gaben wir immer nach, diskutieren aber hinten herum, dass man Frank entschlossen die Grenzen aufzeigen sollte. Da er sonst immer zur Stelle ist, wenn man ihn braucht, ist es das einzige, das uns an ihm stört und es bleibt bei der Diskussion in seiner Abwesenheit, schließlich haben wir alle unsere Schwächen.

Kelly tischt Getränke und Kuchen auf und ist besorgt, dass jeder auf seine Kosten kommt. Vater sitzt gemütlich inmitten der fröhlichen Schar und steckt sich eine Zigarre an. Genüsslich pafft er vor sich hin und hört der Unterhaltung zu. Die Zeit plätschert dahin. Wir genießen den schönen Tag, das Zusammensein, stoßen mit Sekt auf Kellys Geburtstag an und sind froh, dass Lynn mit Struppi beschäftigt ist. So bleiben wir von ihren Bilderbüchern verschont, die sie sonst haufenweise anschleppen würde. Sie hat die Aufgabe übernommen darauf zu achten, dass Struppi nicht ins Haus flitzt, denn er und ihre Meerschweinchen sind nicht die besten Freunde und dummerweise fühlt sich Struppi von ihnen angezogen wie ein Bär vom Honig.

Wir verstehen uns prächtig und es geht lustig zu und her. Vater lässt es sich gerne gefallen, dass sich alle um ihn kümmern und ihn mit Nachschub versorgen, wenn sein Teller, die Tasse oder das Glas leer ist. Am Austausch der Neuigkeiten und Nettigkeiten nimmt er nur wenig teil und wirkt irgendwie abwesend. Will man etwas von ihm wissen, muss man ihn direkt ansprechen.

»Geht es dir gut Opa?«, fragt ihn Karin, die jüngere Tochter meiner Schwester Toni.

»Bestens. Kürzlich haben Frank und Lore mich zu einem Ausflug an den Rennsteig mitgenommen. Franks Patentochter war auch dabei. Das ist eine ganz nette Person.«

»Seine Patentochter?«, fragt Karin verwundert. »Von ihr haben wir noch nie etwas gehört.« Sie dreht sich um und ruft über den Tisch: »Weiß jemand, ob Frank eine Patentochter hat?«

Niemand hat eine Ahnung.

»Doch«, erklärt Vater. »Frank war mit ihrer Familie befreundet und hatte nach der Taufe den Kontakt zu dieser Familie und seinem Patenkind verloren. Aus purem Zufall haben sie sich kürzlich getroffen und festgestellt, dass sie Patenonkel und Patentochter sind.«

»Ist sie nett?«, fragt Karin

»Sehr. Ich habe mich ein bisschen in sie verliebt.«

»Oh je! Jetzt bürdest du dir in deinem Alter Liebeskummer auf«, versucht Karin ihn zu trösten. Sie erkannte sofort, dass diese Frau einiges jünger als ihr Opa sein muss und ihm darum kein Interesse entgegenbringen wird, welches über diese zufällige Begegnung hinausgeht.

»Nein, nein«, strahlt Vater. »Es ist nicht einseitig. Sie hat sich auch ein bisschen in mich verliebt und will in Zukunft viel Zeit mit mir verbringen.«

»Wie alt ist sie?«, will ich wissen.

»Fünfundvierzig. Und sie sieht super aus.«

Ich verschlucke mich fast am Stück Kuchen, das ich mir in den Mund gesteckt hatte. Dass sich eine so junge Frau in meinen betagten Vater verliebt, ist schwer vorstellbar. Er sieht für sein Alter gut aus, aber er war noch nie ein Draufgänger, ist kein guter Unterhalter, macht keine Komplimente - jedenfalls haben wir nie eines von ihm gehört - mittlerweile etwas langsam und ist auch nicht wohlhabend. Entweder ist diese Frau abgrundtief hässlich oder findet aus einem anderen Grund keinen anderen Mann.

»Was? Und die hat sich in dich verliebt?«, frage ich hustend, weil ich den Bissen eilig hinuntergewürgt hatte.

»Ja, ein bisschen. Hat sie jedenfalls gesagt«, schmunzelt er und zieht eine neue Zigarre aus der Schachtel, die vor ihm auf dem Tisch liegt.

»Du bist Neunundachtzig und sie ist die Hälfte jünger als du. Sogar jünger als ich und Robert. Da ist etwas faul«, erwidere ich lauter als beabsichtigt.

Am Tisch ist es mucksmäuschenstill geworden. Vater zündet mit einem Streichholz die Zigarre an und lässt sich damit viel Zeit. Kaum macht er den ersten Zug, reden alle auf ihn ein.

»Ist sie hässlich? Hat sie einen Buckel oder sonst einen Makel?«

Er bläst den Rauch aus dem Mund und antwortet: »Sie sieht blendend aus und hat gesagt, dass sie mich einen ganz tollen Mann findet.«

»Und das glaubst du?«, frage ich stirnrunzelnd. Die Anderen werfen sich skeptische Blicke zu.

»Warum nicht? Ich kann doch nichts dafür, dass sie sich in mich verliebt hat«, antwortet er trotzig.

»Wie heißt sie?«, will ich wissen.

»Rita. Rita Elsino.«

»Vielleicht ist sie eine Abzockerin. Man liest das jetzt oft in der Zeitung«, erklärt Karin.

»Pass auf, die führt nichts Gutes im Schilde«, warne ich ihn.

Vater hält die Hände in die Höhe.

Wir finden keinen Grund für das Interesse dieser Frau an Vater und löchern ihn mit Fragen.

Er zieht mit der Zigarre in der einen Hand beide Hände parallel in die Höhe, zuckt mit den Schultern und setzt eine ‚ich habe keine Ahnung um was es geht Miene‘ auf. Ich kenne das. Diese nonverbale Kommunikation setzt er ein, wenn er Kritik befürchtet oder für etwas die Verantwortung übernehmen müsste. Jetzt unterbindet er damit die Fragen. Karin lässt sich nicht so leicht abwimmeln und gibt ihm zu verstehen, dass er nicht zu gutgläubig sein darf, weil es viele Frauen nur auf Geld abgesehen haben. Vater hört ihr eine Weile zu und erwidert dann heftig: »Wo denkst du hin? Sie hat selbst genug davon. Ich verstehe euch nicht. Sie hat sich doch an mich herangemacht, nicht ich mich an sie.«

Kellys Mann hat inzwischen den Grill angeworfen. Die Männer gesellen sich zu ihm und sind froh, dem Thema zu entkommen, das uns Frauen auch dann noch beschäftigt, als wir Kelly beim Aufbau des Buffets helfen. Als ich mich später am Salatbuffet bediene stellt sich mein jüngerer Bruder Robert an meine Seite und flüstert mir zu: »Nimm diese Frau mal unter die Lupe.«

»Mach ich«, verspreche ich und gehe mit dem gefüllten Teller an meinen Platz zurück.

Am Montagmorgen bin ich um sieben Uhr die erste, die in der Agentur eintrifft. Normalerweise komme ich nie so früh, weil ich vorher mit Struppi einen Abstecher in die Umgebung mache. Aber meine Ungeduld, etwas über diese Frau in Erfahrung zu bringen, ist kaum zu zügeln und zu Hause habe ich keinen Computer. Ich verbringe im Büro so viel Zeit am Computer, dass ich in der freien Zeit keinen sehen will. Wenn ich privat einen brauche, erledige ich es im Büro. In der kleinen Küche mache ich mir einen Kaffee, nehme die Tasse mit in mein Büro und schließe die Türe. Marc und Lena sollen nicht sofort sehen, womit ich mich beschäftige, wenn sie eintreffen. Ich starte den Computer und gebe im Google den Namen Rita Elsino ein. Außer ihrer Adresse in einem Telefonverzeichnis fördert das Internet nichts zutage. Unsere Firma ist Mitglied bei einem Unternehmen, bei dem wir für Neukunden Auskunft über deren Bonität einholen. Ich schaue auf die Uhr, es ist kurz nach acht. Es müsste jemand zu erreichen sein. Ich nehme das Telefon in die Hand und rufe dort an.

»Guten Tag. Hier ist Corinne Miller. Ich hätte gerne eine Auskunft über eine Frau namens Rita Elsino.«

»Moment bitte,« sagt die Dame am anderen Ende.

Während ich warte wächst meine Spannung. Personen, die ihren finanziellen Verpflichtungen nachkommen, werden nicht erfasst.

»Sind Sie noch da?«, tönt es aus dem Hörer. »Rita Elsino? Wohnhaft in Mattenau?«

Ich erinnere mich schwach, dass Vater diesen Ort erwähnte, sie hat demnach etwas gefunden. Das ist nicht sehr beruhigend.

»Genau«, antworte ich.

»Also. Die Bonität ist rot. Dunkelrot. Wir haben hier mehrere Betreibungen und Schuldscheine verzeichnet. Sie verlangen am besten eine Vorauszahlung, wenn Sie einen Auftrag von dieser Kundin entgegennehmen sollten.«

»Vielen Dank. Sie haben mir sehr geholfen«, beende ich das Gespräch.

Die Abzocker-Masche. Die Auskunft war ein Schlag ins Gesicht und einen Augenblick bin ich wie benommen. Ich nehme den Hörer in die Hand, rufe Toni an und erzähle ihr, was meine Nachforschungen ergeben haben.

»Es sieht nicht gut aus. Diese Frau hat Schulden.«

Am anderen Ende ist es ungewöhnlich still und es vergeht eine Weile, bis sie sich gefasst hat.

»Verdammt, was machen wir jetzt?«, fragt sie.

»Keine Ahnung.«

»Ist sie verheiratet?«

»Keine Ahnung.«

»Die nimmt Vater aus wie eine Weihnachtsgans.«

»Sieht so aus.«

»Vater hat gesagt, sie hat sich an ihn rangeschmissen, nicht umgekehrt, da steckt eine Absicht dahinter. Warne ihn. Unbedingt!«

»Ich rede mit ihm.«

»Mach das. Am besten noch heute.«

Ich beende das Telefon mit Toni und rufe Robert an. Nachdem ich auch ihm erzählt hatte, was ich in Erfahrung gebracht habe, erteilt er mir den Rat, alles zu beobachten und erst einzugreifen, wenn Geld fließen sollte. Ich verlasse das Büro. Es tut mir leid, dass ich Vater die Hiobsbotschaft überbringen und ihm seine Illusion zerstören muss. Liebend gern würde ich ihm den Kummer ersparen, aber ich sehe keine andere Möglichkeit ihn vor dem zu bewahren, was auf ihn zukommen wird. Je früher er von den Schulden dieser Frau erfährt, desto besser ist es für ihn. Inzwischen ist Lena eingetroffen und sitzt an ihrem Arbeitsplatz in der Lobby. Beim Hinausgehen rufe ich ihr zu, dass ich kurz weg bin.

Während der Fahrt hoffe ich, dass Vater zu Hause und noch nicht auf dem Weg zu seinem Stammtisch ist. Er ist fertig angezogen und wollte gerade gehen. Ich grüße ihn wie gewohnt mit einem Küsschen auf die Backen, ziehe ihn am Arm ins Wohnzimmer und bleibe stehen.

»Papa, ich muss mit dir reden.«

»Was ist los?«, fragt er und bleibt ebenfalls stehen.

»Wie gut kennst du diese Frau?«

»Sie begleitet mich zum Essen in den Bären. Warum fragst du?«

»Rita hat Schulden«, sage ich aufgeregt.

»Woher weißt du das?«

Ich erkläre ihm die Funktion eines Auskunftsbüros.

»Sie hat keine Schulden. Sie hat ein Haus, zwei Autos und ein gut gehendes Schneideratelier«, antwortet er und sinkt ernüchtert aufs Sofa.

»Woher weißt du das?«, frage ich erstaunt.

»Ich war schon mal dort.«

Die Beziehung scheint ernster zu sein als ich dachte. Jetzt wird es schwierig, weil er mir nicht glaubt. Ich setze mich ihm gegenüber in einen Sessel.

»Keines deiner Kinder hat einen Eintrag im Betreibungsregister und dank unserem Lebenswandel wird es auch nie dazu kommen. Es ist besser, du gibst diese Frau auf.«

»Nein, das kommt nicht in Frage. Aber ich stelle sie zur Rede.«

Ich verstehe, dass er sich selbst ein Bild machen will und hoffe, sie sagt die Wahrheit, wenn er mit ihr spricht, was ich aber stark bezweifle. Zusammen verlassen wir die Wohnung, fahren ins Dorf und ich setze ihn beim Bären ab.

Über den Mittag gehen Lena und Marc meistens zum Essen in eines der Lokale beim Dorfplatz oder treffen sich mit Freunden. Ich mache um diese Zeit einen Spaziergang mit Struppi und esse unterwegs ein Sandwich. Manchmal treffe ich auf Steve, ein flüchtiger Bekannter, der bei der Polizei arbeitet und zur selben Zeit seinen Hund ausführt. Ich empfinde es als glücklichen Zufall, dass er gerade heute meinen Weg kreuzt. Während die Hunde herumtollen, erzähle ich ihm von Vaters neuer Errungenschaft. Er verspricht, sich umzuhören und schickt mir bereits am Nachmittag ein SMS: »Dein Bauchgefühl ist richtig. Mehr darf ich dir nicht sagen.«

Er sagte mehr, als er hätte sagen dürfen und ich bin ihm dankbar für diese wegweisende Information, die er meiner Meinung nach nur aus der Polizeidatenbank haben kann. Diese Frau ist also auch dort registriert, darum alles andere als harmlos und Vater auf bestem Weg, ihr auf den Leim zu gehen. Das muss ich verhindern. Ich rufe ihn an und bitte ihn, weil ich am Abend bereits etwas vorhabe, mich morgen nach Feierabend zum Friedhof zu begleiten. Ich verspreche mir, dass er in Mutters Nähe leichter zur Vernunft zu bringen ist, nachdem er heute Morgen nichts von Ritas schlechtem Leumund wissen wollte. Freudig stimmt er meinem Vorschlag zu und ich werte es als gutes Zeichen. Trotzdem spüre ich, dass irgendetwas anders ist als sonst, kann es aber nicht einordnen.

Am Dienstagabend hole ich ihn ab und wir fahren zum Waldfriedhof. Am Grab fällt es mir allerdings schwer das Thema anzusprechen, damit ich den Ort nicht entweihe, wenn ich den Namen einer Person in den Mund nehme, die Mutter nicht gefallen hätte. Vater hat damit kein Problem.

»Mama hätte nicht gewollt, dass ich alleine bleibe. Und jetzt habe ich wieder eine liebe Frau.«

»Ist sie das wirklich? Ich meine, ist sie deine neue Frau?«

»Ja, Rita will es so und das freut mich sehr.«

»Bist du sicher, dass sie dich und nicht dein Geld will?

»Nein. Geld spielt bei ihr keine Rolle.«

»Ist sie verheiratet?«

»Nein. Geschieden. Kinder hat sie keine.«

»Arbeitet sie?«

»Sie hat in ihrem Haus ein Schneideratelier. Damit verdient sie ihr Geld.«

»Läuft das gut?«

»Ich glaube schon. Sie erhält viele Anrufe auf ihr Handy, wenn sie bei mir ist. Die sind alle von Kunden.«

»Hast du sie auf die Schulden angesprochen?«

»Diese sind von ihrem geschiedenen Mann. Sie hat damit nichts zu tun.«

»Dann hast du sie heute gesehen?«

»Ja, wir haben zusammen im Bären zu Mittag gegessen.«

»Bezahlst du oder sie?«

»Sie trägt ihre Auslagen selber, ich muss nicht für sie bezahlen.«

»Bitte bleibe standhaft. Diese Frau hat etwas auf dem Kerbholz und du bist nicht der Erste, der auf sie hereinfällt«, beende ich das Thema. Es ist nicht der richtige Ort, mit ihm zu verhandeln. Vielleicht meint sie es ernst, denn als Franks Patentochter wird sie sich nicht erlauben, sich gegen unsere Familie zu stellen. Zumindest hoffe ich das. Bevor ich Vater um sein Glück bringe, will ich diese Frau kennen lernen.

»Wollen wir nächsten Samstag im Birkland zu Mittag essen?«, schlage ich ihm auf der Rückfahrt vor.

Das Birkland ist eine kleine Gaststätte inmitten eines wunderschönen, idyllischen Naherholungsgebietes in der Nähe von Kaltbad. Hohe Birken umschließen einen kleinen Weiher, daher auch der Name. Als im August 1999 die letzte Sonnenfinsternis stattfand und die Meisten möglichst weit hinauf wollten um das Spektakel zu verfolgen, war ich an diesem Weiher. Es war höchst interessant die Auswirkungen der Sonnenfinsternis auf die Natur zu beobachten. Mit zunehmender Dunkelheit schlossen sich die Blüten der Seerosen, die Enten verzogen sich in ihre Nester und die Vögel hörten auf zu pfeifen. Nach einer Stunde trat die Sonne hinter dem Mond hervor, erhellte langsam die Erde und Flora und Fauna erwachten wieder zum Leben. Mein Erlebnis war um einiges reicher, als das Derjenigen, welche zusammengepfercht auf den Hochhäusern und Dachterrassen standen und mit speziellen Sonnenbrillen in die Sonne starrten. Natürlich hatte ich auch eine dieser Brillen dabei, nutzte sie aber nur für wenige Minuten. Vater gefällt es im Birkland nicht nur wegen der Natur sehr gut, sondern auch wegen der Vorzugsbehandlung der Wirtin, die sie ihm aufgrund seines hohen Alters zukommen lässt. Die Wirtin ist eine Gastgeberin aus Leidenschaft, kocht hervorragend und umsorgt ihre Gäste wie eine Henne ihre Küken. Vater freut sich über den Vorschlag und fragt, ob er Rita mitnehmen darf. Bingo. Wir sprechen uns ab, dass er mit Rita hinfahren wird und wir uns kurz vor zwölf im Birkland treffen.

Am Samstagmorgen nehme ich Struppi an die Leine und verlasse mit ihm die Wohnung. Normalerweise kommt David mit, aber heute kann er mich nicht begleiten, weil er am Vormittag einen wichtigen Termin hat. Wettermäßig war der Juli bis jetzt durchzogen, aber heute brennt die Sonne vom wolkenlosen Himmel und bringt die Straßen zum Flimmern. Kaum liegt das Dorf hinter mir, wähle ich den Weg durch den schattigen Wald. Ich liebe die Natur und die Abwechslungen der Jahreszeiten, aber heute erfreue ich mich wenig an den Schönheiten dieses Sommers. Meine Erwartungen sind, was diese Frau betrifft, zwiespältig. Bestimmt wird sie die Flucht ergreifen, wenn sie erfährt, dass ich sie durchschaue. Für Vater wird das Ende dieser kurzen Episode nicht schmerzfrei sein, aber das Netz der Familie wird ihn auffangen und darüber hinwegbringen. Um zum Birkland zu gelangen, muss ich den Wald verlassen und auf einen Feldweg einbiegen. Ich laufe Getreidefeldern, die von Mohn- und Kornblumen durchzogen sind und frisch gemähten Wiesen entlang. Ein Bauer, der Gras verzettelt, winkt mir von weitem zu. Wir kennen uns vom Sehen, da ich ihm öfters begegne, wenn ich mit Struppi unterwegs bin. Wenig später trete ich auf die asphaltierte Straße, die zum Birkland führt. Das Restaurant ist schon in Sichtweite, als ich hinter mir ein herannahendes Auto höre. Ich ziehe Struppi an den Wegrand und beuge mich zu ihm hinunter. Langsam fährt ein Auto mit offenem Verdeck an mir vorbei und aus den Augenwinkeln erkenne ich auf dem Beifahrersitz Vater, der mir fröhlich zuwinkt. Perplex richte ich mich auf und blicke dem Cabriolet hinterher, das aufgrund der Marke aus einer hohen Preisklasse stammt. Dieser Frau habe ich aufgrund ihrer Schulden eine alte Kiste, aber niemals einen so teuren Schlitten zugetraut. Sie steuert den Parkplatz vor dem Birkland an und bleibt mit Vater sitzen bis ich bei ihnen bin. Ich will Vater beim Aussteigen helfen, doch er übergeht mich und stemmt sich fast sportlich aus dem Sitz hoch. Normalerweise gibt er sich schwerfällig und lässt sich beim Ein- und Aussteigen sehr viel Zeit. Erstaunt sehe ich ihm zu und stelle fest, dass der gut aussehende Mann, der er einmal war, im Ansatz wieder zum Vorschein kommt. Die Liebe scheint für ihn ein echter Jungbrunnen zu sein und ich hadere mit mir, meinen Vorsatz in die Tat umzusetzen. Als er vor mir steht, stülpt er die Unterlippe vor, zeigt auf das Cabriolet und nickt anerkennend. Aber im Gegensatz zu ihm bin ich nicht beeindruckt. Leute, die auf der einen Seite Schulden haben und auf der anderen Seite protzen, interessieren mich nicht. Mein Vater scheint da weniger Mühe zu haben. Auf der anderen Seite steigt eine sexy angezogene und auf den ersten Blick sehr attraktive Frau aus. Sie knallt die Türe zu, läuft um den Wagen herum, stellt sich an Vaters Seite, schiebt die linke Hand in seine Armbeuge und streckt mir die rechte Hand entgegen.

»Das ist Rita«, strahlt Vater.

Wir mustern uns gegenseitig, nur bin ich dabei diskreter. Sie ist etwas kleiner als ich, hat eine gute Figur und schulterlange schwarze Haare. Sie trägt ein hellblaues Minikleid mit schmalen Trägern, das viel von ihrer braungebräunten Haut sehen lässt und Sandalen mit hohen Absätzen. Die Bräune sieht unnatürlich aus, so, als hätte sie stundenlang auf einer Sonnenbank gelegen. Das Gesicht ist stark geschminkt und die bunten Finger- und Fußnägel sind professionell bemalt. Auf den zweiten Blick relativiert sich der erste Eindruck. Die letzte Tönung ihrer Haare liegt Wochen zurück, denn der graue Balken auf ihrem Scheitel passt nicht zu ihrer aufgedonnerten Aufmachung und verpasst ihr einen ungepflegten Touch. Sie führt keine Handtasche auf sich und in den Händen hält sie lediglich ein Feuerzeug und eine Zigarettenschachtel. Vater wird sie kaum ausgerechnet heute zum ersten Mal einladen, sie erwartet es bereits. Ein leiser Groll steigt in mir hoch. Nicht weil er sie für ihre Gesellschaft bezahlt, sondern weil er gelogen hat, als er versicherte, sie würde für ihre Auslagen selber aufkommen. Es gibt keinen Grund, die Wahrheit zu verschweigen, außer, Vater muss etwas vertuschen. Das Gefühl, das ich nicht einordnen kann, ist wieder da. Auf dem Weg zum Restaurant laufe ich den beiden voraus. Der Garten vor dem Lokal ist von grünen Hecken umzäunt und mit einfachen Tischen und Stühlen ausgestattet. Die Tische sind mit rotkarierten Tüchern bezogen und dort, wo das Dach keinen Schatten spendet, sind Sonnenschirme aufgestellt. Wegen der guten Küche kommen viele Leute hierher und die meisten Tische sind bereits besetzt. Ich sehe mich um und nicke grüßend ein paar Personen zu, die mich und Vater kennen. Viele sind gerade beim Mittagessen und machen Stielaugen, als Vater und Rita den Garten betreten. Bei einigen bleiben die Münder offen, als sie dem ungleichen Pärchen hinterher sehen, das an ihnen vorbei zur Mitte läuft. Vater bleibt dort mit geblähter Brust stehen um den Gästen Zeit und Gelegenheit zu geben, ihn und seine Begleitung zu bewundern. Leider merkt er nicht, dass die Gäste ihn und sein Flittchen aus Neugier anstarren und nicht, weil sie ihn für einen heißblütigen Hecht halten. Als der verbale Applaus ausbleibt, dreht er sich gekränkt um. Als die Wirtin auf ihn zuläuft, beginnt er wieder zu strahlen. Mindestens von ihr erwartet er ein Kompliment, weil er meint, ihre Stellung müsste sie dazu verpflichten. Sie wischt sich die Hand an der weißen Schürze ab und schüttelt Vater die Hand, während sie Rita von oben bis unten mustert. Vater versucht vergeblich, der Wirtin die Frau an seiner Seite vorzustellen. Sie lässt ihn nicht zu Wort kommen und erzählt stattdessen Anekdoten aus ihrem Leben. Mit ihrer Lebenserfahrung weiß sie mit solchen Situationen umzugehen, ohne dass sie heucheln muss.

»Frank und Lore werden auch noch kommen«, sagt Vater, nachdem wir uns an einen Tisch gesetzt und die Bestellung aufgegeben haben. Ich bin froh darüber. Frank wird mich unterstützen, wenn er erfährt, welche Show Rita gegenüber Vater abzieht. Vater steckt sich eine Zigarre an und gibt Rita Feuer, die sich eine Zigarette in den Mund gesteckt hatte und zeigt Manieren, die ich beim ihm längst vergessen glaubte. Beide sitzen mir gegenüber und schauen mich an. Vater strahlt und pafft genüsslich vor sich hin, während Rita mich wie eine Schlange fixiert. Ohne zu blinzeln starrt sie mich an und versucht herauszufinden, ob ich, wie Vater, leicht um den Finger zu wickeln bin, denn bekanntlich fällt der Apfel nicht weit vom Stamm. Vater legt Rita einen Arm um die Schultern, formt einen Kussmund und will sie an sich ziehen. Doch sie dreht ihren Kopf zur Seite und lächelt aus Distanz seine Enttäuschung weg. An Kellys Geburtstagsfest hatte Vater ausführlich geschildert, wie sie sich an ihn heran geschmissen hat und ich bin sicher, dass er in diesem Punkt die Wahrheit sagte. Jetzt weicht sie seinen Zärtlichkeiten aus. Keine Spur von einem Liebesverhältnis, von dem Vater so überzeugt ist. Vermutlich wird es zu nichts führen, wenn ich sie darauf anspreche, sie wird es bestreiten, so wie sie offenbar alles vermeidet, was auf eine intime Beziehung schließen lässt. Ich sitze am kürzeren Hebel und überlege, ob ich dennoch einen Streit riskiere, damit es Vater die Augen öffnet, wenn er aus ihrem Mund hört, dass es ihr mit der Liebe nicht ernst ist. Aber die anderen Gäste gaffen so interessiert zu uns herüber, dass ich nicht noch mehr Aufsehen erregen will. Gerade weicht Vaters Angebetete seinem erneuten Versuch, sie an sich zu ziehen, wieder aus. Er schaut mich mit einer um Entschuldigung bittender Miene an, als wäre meine Anwesenheit der Grund für ihre Zurückhaltung. Damit er mich nicht ansprechen kann, schaue ich in alle Himmelsrichtungen.

»Und was meinst du?«, fragt Vater und zwingt mich, ihn und Rita anzusehen. »Sie ist ganz nett, wie ich es gesagt habe.«

Rita zieht erwartungsfroh die Augenbrauen hoch und glotzt mich grinsend an. Sie freut sich, weil sie meint, dass ich mich meinem Vater zuliebe gleich positiv über sie äußern werde. Was sie nicht weiß, ich verfüge über gute Antennen, die es mir ermöglichen, über Menschen in meiner Umgebung manchmal prophetische Aussagen zu machen, deshalb entgegen mir diese Details nicht. Zudem ist sie leicht zu durchschauen.

»Ich kenne sie noch zu wenig«, antworte ich diplomatisch.

Rita verzieht die Lippen zu einem schmalen Strich, behält mich aber im Visier. Sie ist verunsichert, weil sie mich nicht einzuschätzen vermag. Bisher kennt sie nur Frank und Lore und Lore trägt mir ihrem einfachen Gemüt nicht viel dazu bei, den Durchschnitt der Familienintelligenz zu heben. Nun, Rita wird noch früh genug erfahren, dass der Rest der Familie ein anderes Kaliber ist, das sich nicht auf der Nase herumtanzen lässt.

»Siehst du, sie ist ganz nett«, schwärmt Vater.

Ich erwidere nichts und würde am liebsten gehen, aber ich habe hier eine Mission zu erfüllen und brauche dafür Franks Hilfe.

Die beklemmende Stimmung wird erst unterbrochen, als er und Lore eintreffen. Erstaunt sehe ich zu, wie sich Frank und Rita in die Arme fallen und frage mich, was Lore davon hält. Aber so wie sie sich freut Rita zu sehen und sie mit Küsschen links und Küsschen rechts begrüßt, ist anscheinend diese Begrüßung unter ihnen normal. Nachdem sie sich gesetzt und mit der Wirtin ein paar freundliche Worte gewechselt haben, nimmt mich Lore wie immer in Beschlag. Mit ihrem Gequassel geht sie mir manchmal auf die Nerven, weil sie zu Übertreibungen neigt. Ich tue so, als würde ich ihr zuhören, denn ich will das, was mir gegenüber passiert, nicht verpassen. Vater legt Rita einen Arm um die Schultern und streicht ihr ab und zu mit der Hand über die Wange. Seltsamerweise lässt sie das jetzt zu. Ist ihr Glas leer, springt Frank wie ein verliebter Gockel auf, greift nach der Flasche und füllt es wieder auf. Alle paar Minuten dreht er den Sonnenschirm nach dem Sonnenstand, damit sie im Schatten sitzt oder legt das Besteck zurück, das sich aufgrund des ständigen Herumfuchtelns von Senior und Junior auf dem Platz verschoben hatte. Rita grinst wie ein Honigkuchenpferd und schießt mir nach jeder Aktion triumphvolle Blicke zu. Ich weiß nicht was das soll, wir stehen nicht in Konkurrenz. Gerade wirft sie mir wieder einen überheblichen Blick zu. Es reicht. Ihre Anwesenheit und so wie sich mein Vater und mein Bruder benehmen, bietet es genügend Stoff für Klatsch und Tratsch, es ist nicht nötig, dass man noch mehr mitbekommt. Ich sehe mich um und entdecke außerhalb des Lokals, in etwa acht Meter Entfernung, am Wegrand eine Sitzbank im Schatten eines Baums.

»Rita und Frank. Ihr kommt mit mir zu dieser Bank dort drüben«, befehle ich leise und stehe auf. Ich wundere mich, dass sie aufstehen und mir folgen ohne zu fragen. Frank und ich lassen uns auf den Enden der Bank nieder, Rita setzt sich zwischen uns in die Mitte. Frank stützt die Ellbogen auf die Knie und legt den Kopf auf seine zu Fäusten geballten Hände. Rita klemmt ihre Hände unter die Oberschenkel und streckt die Beine aus. Beide sehen geradeaus und stellen noch immer keine Fragen. Als ich nach den richtigen Worten suche, fällt mein Blick auf Vater und Lore, die lange Hälse machen, synchron die Köpfe über den Hag strecken und neugierig zu uns herübersehen. Das Bild ist so lustig, dass ich beinahe laut gelacht hätte. Leider ist mir nicht nach Lachen und ich weiß nicht, wie ich beginnen soll. Nie habe ich deutlicher gespürt, wie tief Mutters Erziehung, jeden Menschen mit Respekt zu behandeln, in mir verwurzelt ist, denn ich bin zu blockiert um das auszusprechen, was ich wirklich denke. Jeder normale Mensch würde zu Rita sagen, dass sie ihren Arsch bewegen und dorthin gehen soll, wo der Pfeffer wächst. Leider fehlt mir dazu der Mut.

»Warum willst du dich um Vater kümmern?«, frage ich höflich und könnte mich ohrfeigen, dass ich nicht fähig bin, das brisante Thema direkt anzuschneiden.

Rita und Frank drehen einander die Köpfe zu und ich wundere mich, weil Frank an ihrer Stelle antwortet: »Rita ist so sozial und macht das gern. Sie hat schon oft alte Leute bis in den Tod betreut.«

Und hat nachher kassiert, denke ich. Frank kriecht ihr genau wie Vater auf den Leim. Sobald er erfährt, welche Erkundigungen ich über sie eingezogen habe, wird auch er erkennen, mit welcher Absicht sich Rita an Vaters Hals geworfen hat, man muss dazu keine Intelligenzbestie sein. Ich werde auch seine Illusion zerstören, weil er glaubt, mit der wiederentdeckten Patentochter eine neue Bereicherung in seinem Leben gefunden zu haben. Darum muss ich subtil vorgehen und wende mich an Rita: »Ich kann mir nicht vorstellen, dass es für dich ein Vergnügen ist, die Freizeit mit einem alten Mann zu verbringen, den du bisher nicht kanntest! Vater kann manchmal sehr schwierig sein.«

»Ich mache das gern und habe keine Hintergedanken.«

»Und warum meint Vater, dass du seine neue Frau bist?«, wage ich doch noch einen Vorstoß in der Hoffnung, sie der Lügen zu überführen.

»Wenn er das so sieht kann ich nichts dafür. Für mich ist es ein rein sozialer Dienst an alten Menschen. Zudem habe ich einen Freund.«

»Vater braucht keinen sozialen Dienst. Dafür hat er uns. Er geht davon aus, dass du in ihn verliebt bist.«

»Ich kann nichts dafür, wenn er es so sieht.«

»Doch. Das hast du ihm selbst gesagt.«

»Hat sie nicht«, mischt Frank sich mit einem groben Ton ein.

»Warum der Austausch von Zärtlichkeiten? Ich habe das vorhin selbst gesehen!«

»Die haben nichts zu bedeuten«, entgegnet Rita.

»Vater sieht das anders!«

»Das ist nicht meine Schuld.«

»Sie macht doch nichts. Und Vater erwartet auch nichts«, erwidert Frank.

»Doch macht er. Er meint, Rita ist in ihn verliebt.«

»Was erfindest du da?«, weist Frank mich zurecht und bringt mich aus dem Konzept. Meine Bedenken interessieren ihn nicht im Geringsten und er nimmt Rita ständig in Schutz. Allerdings war ich beim Ausflug an den Rennsteig nicht dabei und weiß nicht, was dort vorgefallen ist. Aber ich kenne das Ergebnis. Man müsste Rita vor Vater darauf ansprechen, aber sie wird es wie jetzt bestreiten und ich will für diesen Streit keine Zeugen. Ich stecke im Dilemma.

»Woher nimmst du die Zeit für Vater? Arbeitest du nicht?«

»Doch. Schon. Aber das geht trotzdem«, antwortet Rita und beugt ihren Oberkörper weit nach vorne.

»Bist du verheiratet?«, frage ich desillusioniert, weil Frank alles bagatellisiert und mir nichts mehr in den Sinn kommt, das mich ans Ziel bringen könnte.

»Nein, ich bin geschieden.«

»Was ist mit deinen Schulden und Betreibungen?«

Rita zuckt zusammen. »Das ist Schnee von gestern«, antwortet sie nach einer Weile mit einer abwertenden Handbewegung.

»Woher kennst du sie?«, frage ich Frank.

Frank erzählt exakt die gleiche Geschichte, die ich von Vater schon gehört habe.

Ich glaube es nicht, aber es wäre möglich. Frank ist fast zehn Jahre älter und ich bekam nicht alles mit, was er als junger Bursche trieb. Frustriert muss ich eingestehen, dass ich nichts erreicht habe. Von Frank bin ich enttäuscht, denn bisher haben wir am gleichen Strick gezogen. Vermutlich verteidigt er nur die neu gewonnene Freundschaft zu dieser Frau. Andererseits wundere ich mich, dass er nicht stutzig geworden ist, denn ich habe genügend Anhaltspunkte geliefert, mit denen er Ritas Absichten hätte hinterfragen können.

»Es darf nie Geld fließen und sei bitte ehrlich zu meinem Vater. Er glaubt, dass du ihn liebst. Nimm Rücksicht auf sein Alter und seine Gefühle, es ist bestimmt nicht in deinem Sinn ihn zu täuschen«, wende ich mich an Rita. Sie schaut mich weder an noch erwidert sie etwas darauf. Gleichzeitig stehen wir auf und laufen zum Restaurant zurück.

Unterwegs lege ich einen Arm um Franks Schultern. Diese Geste ist nichts Ungewöhnliches. Mal umarme ich ihn, mal er mich. Wir haben uns auf diese Weise schon immer die gegenseitige Vertrautheit und Zuneigung gezeigt. Jetzt erinnere ich ihn daran, was er verliert, sollte er schlechte Absichten haben, denn seine Reaktion hat mir nicht gefallen. Als wir an den Tisch zurückkommen, finden wir Lore in Tränen aufgelöst.

»Was ist los?«, fragen Frank und ich gleichzeitig während Rita eine schadenfrohe Miene aufsetzt.

»Ich durfte nicht mitkommen«, schluchzt Lore und wischt sich mit dem Finger Tränen ab, die über ihre Backen kullern.

»Bitte entschuldige, aber ich hatte mit Frank etwas Vertrauliches zu besprechen«, will ich sie besänftigen. Lore streckt den Arm über den Tisch und zeigt mit dem Finger auf Rita. »Die durfte mit und ich nicht! Frank lässt mich in letzter Zeit sowieso sehr viel allein und verbringt mit der viel mehr Zeit als mit mir«, schluchzt sie.

Lore meckert über Vieles, aber selten mit Tiefgang und spielt sich manchmal auf. Darum nehme ich sie nicht ernst und Frank wird kaum eine Affäre mit seiner Patentochter haben, die vor zwei Minuten versicherte, dass sie einen Freund hat. Die Gäste um uns herum spitzen die Ohren und machen keinen Hehl daraus, wie interessant sie das Geschehen an unserem Tisch finden. Meine Familie wusste sich bisher zu benehmen und ist noch nie unangenehm aufgefallen. Ich würde am liebsten im Boden versinken. Und alles nur wegen dieser Frau, die sich an diesem Drama auch noch ergötzt.

Dem Gespür der Wirtin ist das Theater nicht entgangen. Sie kommt an den Tisch und stellt jedem eine Schale mit Vanilleeis hin. »Ein Geschenk des Hauses, zum Abkühlen«, zwinkert sie spitzbübisch in die Runde. Sie legt eine Hand auf meine Schulter und flüstert mir ins Ohr: »Nimm es nicht so ernst, es sind eben Männer.«

Es ist noch nicht so lange her, seit wir im Birkland in Eintracht zusammengesessen sind. Unsere Familie unternimmt viel gemeinsam und wir haben eine Menge Schönes erlebt. Die Stimmung hier ist weit davon entfernt und ich habe genug gehört und gesehen, um zu einer Entscheidung zu kommen. Ich rufe die Wirtin an den Tisch und bezahle nur, was ich konsumiert habe. Wenn Vater es sich leisten kann diese Frau einzuladen, ist er nicht mehr auf meine Unterstützung angewiesen. Nur aus Anstand gebe ich allen die Hand und trete den Heimweg an.

Meine Gefühle fahren Achterbahn und im Laufschritt ziehe ich Struppi hinter mir her, der sich dagegen sträubt und versucht, seine Interessen durchzusetzen. Ich lasse ihn nicht wie sonst gewähren und will so schnell wie möglich nach Hause.

Erleichtert höre ich Davids Stimme, als er Struppi begrüßt, der ins Wohnzimmer gerannt ist. Aufgewühlt laufe ich ihm hinterher und werfe mich im Wohnzimmer in einen Sessel.

»Du machst dir keine Vorstellung, was im Birkland passiert ist. Frank und Vater schwänzelten um diese Frau herum, die überhaupt nicht in unsere Familie passt. Auch Lore ist nicht von ihr begeistert.«

»Brich den Kontakt ab«, sagt David und wiederholt es, als ich wieder von vorne beginnen will.

»Wenn wir Papa nicht helfen, läuft er blind in sein Elend.«

»Dann brich den Kontakt zu Frank ab.«

»Einfach so?«

»Was willst du dann?«

»Ich will, dass diese Frau aus Papas Leben verschwindet. Einfach wird es nicht, da Papa blind und Frank die Knacknuss ist.«

Ich schnappe das Telefon und verziehe mich ins Schlafzimmer. Ich rufe zuerst Toni, dann Robert und zum Schluss Kelly an. Aber keiner interessiert sich für die Hintergründe, sie finden nur die Geschichte lustig.

»Was? Lore hat einen Aufstand gemacht? Da passiert die Story des Jahres und wir waren nicht dabei«, ist alles, was Kelly dazu sagt.

»Herrgott noch mal. Bin ich die einzige, welche die Indizien zu deuten versteht?«, beende ich frustriert das letzte Telefon. Ich gehe hinaus auf die Terrasse. Am Himmel sind dunkle Wolken aufgezogen und aus einiger Entfernung ist Donnergrollen zu hören. Weil ein frischer Wind aufzieht, gehe ich ins Wohnzimmer zurück. David kramt in Papieren und steht mir im Moment nicht zur Verfügung. Vielleicht weicht er mir auch nur aus und will sich nicht mit diesem Thema auseinandersetzen.

»Wie könnt ihr alle so sorglos ein«, maule ich. »An dieser Frau ist etwas faul und niemand scheint sich dafür zu interessierten.«

»Ich habe dir gesagt, was du tun sollst«, erwidert David.

Um auf andere Gedanken zu kommen, schalte ich den Fernseher ein. In vielen Teilen Deutschlands haben sich am Nachmittag schwere Gewitter entladen, die zu großflächigen Überschwemmungen geführt haben. Hagelschlag und ein paar Tornados sind übers Land gezogen und haben in den Unwetterzonen massive Schäden hinterlassen. Die Bilder, die das Fernsehen zeigt, lassen meine Sorgen verblassen. Die Menschen dort haben echte Probleme.

Ungewollte Grenzerfahrung

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