Читать книгу Ungewollte Grenzerfahrung - Corinne Miller - Страница 5

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Wir schreiben das Jahr 2005. Seit wir unsere Mutter zu Grabe getragen haben, sind fünf Jahre vergangen. Sie, der Dreh- und Angelpunkt der Familie, hinterließ eine Lücke, die sich nicht mehr schließen wird. An ihrer Trauerfeier waren die Bänke in der Kirche bis auf den letzten Platz besetzt. Unsere Mutter hatte im Verlaufe ihres Lebens nicht nur unsere, sondern auch noch viele andere Herzen berührt.

Niemand in der Familie traute unserem Vater das selbständige Leben zu, das er als Witwer führt. Er ist neunundachtzig Jahre alt, kerngesund, nimmt keine Medikamente und eine Brille nur zum Lesen. Wir empfinden es als großes Glück, dass er so rüstig ist. Seinen Haushalt besorgt er nahezu allein, nur alle vierzehn Tage sieht eine Haushalthilfe zum Rechten. Von unserer Mutter ließ er sich, kurz bevor sie starb, erklären, wie man eine Waschmaschine bedient, Einzahlungen macht und Rechnungen bezahlt. Das alles führt er nun selbständig aus. Wir müssen uns um ihn auch keine finanziellen Sorgen machen. Auf das Konto bei der Dorfbank fließt eine Altersrente, die seinen Lebensbedarf deckt und die regelmäßig anfallenden finanziellen Verpflichtungen werden im Lastschriftverfahren jeden Monat vom Konto auf der Citybank abgebucht, auf das die Rente der Pensionskasse eingeht. Unser Vater profitiert heute davon, dass die Firma, in der er angestellt war, das Pensionskassensystem sehr früh eingeführt und er zusammen mit dem Arbeitgeber über Jahrzehnte in die Kasse eingezahlt hatte.

Unsere Bedenken kamen nicht von ungefähr. Unsere Mutter ließ selten, aber doch ab und zu die Bemerkung fallen, dass sie fünf Kinder großziehen musste, weil man unseren Vater dazu zählen könnte. Dieser Bemerkung stimmten wir zu, denn sie musste ihn, solange sie lebte, immer wieder auffordern, einfache Anstandsregeln einzuhalten, die wir seit unserer Kindheit intus haben. Noch seltener erwähnte sie, dass unser Vater und sein Sohn Frank, unser Stiefbruder, dem Schicksal dankbar sein können, dass sie unter ihre Fittiche gekommen sind, denn ohne sie hätten die beiden mit größter Wahrscheinlichkeit ein Leben am Rande der Gesellschaft gefristet. Mit dieser Bemerkung konnten wir nichts anfangen, es gab weder bei Frank noch bei Vater Anzeichen in diese Richtung.

Vaters Kindheit verlief nicht in allem schön. Er ist als uneheliches Kind bei seiner Mutter aufgewachsen, die Zeit ihres Lebens ledig geblieben ist. Seinen Vater, obwohl bekannt, hat er nie kennen gelernt. Nur ein einziges Foto ist Zeugnis seiner Existenz und zeigt das Portrait eines jungen flotten Soldaten, der durch den ersten Weltkrieg in das Heimatdorf meines Vaters gespült wurde. Der junge Soldat und Vaters Mutter wurden ein Liebespaar und wollten heiraten. Doch bevor sie die Verbundenheit amtlich besiegeln lassen konnten, wurde er an die Front berufen und kam dort vermutlich ums Leben, denn obwohl er versprach zurückzukommen, hat man nie mehr etwas von ihm gehört. Um sich und ihr Kind durchzubringen, verdiente sich die junge Mutter - unsere spätere Großmutter - den Lebensunterhalt in der nahen Fabrik und lebte bis kurz vor ihrem Tod in der spartanisch eingerichteten Wohnung, die ihr von der Fabrik vermietet wurde. Von der Gesellschaft geächtet und von den Verwandten gemieden, wandte sich mein Vater der Natur und den Tieren zu. Auf dem Papier gab es zwar Tanten, Onkels und ein paar Cousins und Cousinen, aber nicht im wahren Leben. Einzig ein Onkel sorgte dafür, dass mein Vater nach der Schulzeit eine Lehre absolvieren und ins Berufsleben einsteigen konnte. Als ich und meine Geschwister erwachsen waren, sind wir durch Zufall einer mit Vater verwandten Familie begegnet. Ich bin davon ausgegangen, dass sie bis anhin nichts von uns wissen wollten, weil sie meinen Vater und meine Großmutter als Schandfleck der Familie betrachtet und das auf uns ausgeweitet haben. Bei der Begegnung wandelte sich ihre Meinung über uns spürbar zum Positiven, aber wir erwiderten ihre Versuche für eine Kontaktaufnahme nur spärlich und schlussendlich versandete sie auf beiden Seiten. Für uns sind sie Fremde geblieben.

Außer in der Natur ist mein Vater ein unsicherer Mensch und ich schreibe diese Schwäche seiner Kindheit zu, obwohl es durchaus ein paar Dinge, gab, die ihn hätten stärken können. In seinem Umkreis galt er als schönster Knabe weit und breit und auch als schnellster, weil er jeden Wettlauf gewann. Später wurde er in der Leichtathletik ein As und hätte es weit gebracht, wenn nicht der zweite Weltkrieg seiner sportlichen Karriere ein Ende gesetzt hätte. Der Finne Paavo Nurmi war damals sein großes Vorbild. Dafür entwickelte er im Krieg, er war in der Gebirgstruppe, die Leidenschaft zum Klettern und bestieg viele Jahre später als Höhepunkt das Matterhorn in der Schweiz. Im zweiten Weltkrieg lernte er auf einem Heimurlaub seine erste Frau kennen. Sie heirateten und Frank kam im letzten Kriegsjahr zur Welt. Um besser über die Runden zu kommen, vermieteten sie in ihrem Haus ein Zimmer. Mit dem letzten Untermieter machte sich seine Frau auf und davon und überließ Mann und Kind ihrem Schicksal. Frank war damals zwei Jahre alt. Mein Vater verlor nie ein Wort über seine Kindheit, selten über seine Jugend und schon gar nicht über seine erste Ehe. Alles was ich weiß, hat mir meine Mutter erzählt.

Meine Mutter ist mit zwei Geschwistern bei liebevollen Eltern, aber in großer Armut aufgewachsen und fand als blutjunge Frau Arbeit als Hausmädchen bei einer reichen Familie. Auch wenn sie im Dienstbotenzimmer schlafen und dem bequemen Leben ihrer Herrschaft zudienen musste, eignete sie sich - ohne ihre Herkunft zu verleugnen - den Anstands- und Höflichkeitsstil ihrer Arbeitgeber an und verbesserte damit ihre Stellung. Sie durfte diese Familie auf zahlreichen Reisen begleiten, lernte eine Fremdsprache und wurde in Sachen Bildung von ihrer Herrschaft unterstützt und gefördert. Auf einer Reise, die sie in ihrer Freizeit unternahm, lernte sie meinen Vater kennen und besuchte ihn nach einem Briefwechsel in seinem Heimatdorf. Er hatte ihr verschwiegen, dass er geschieden und Vater eines Sohnes ist. Darum schenkte sie dem dreijährigen Kind, das in der Wohnung seiner Mutter hemmungslos auf dem Küchentisch tanzte und sich weigerte, ihr die Hand zu geben, keine große Beachtung. Auf ihre Nachfrage erklärte mein Vater, dass der kleine Junge in der Obhut seiner Mutter sei, weil sie ihn hütet, aber sonst hätten sie nichts mit ihm zu tun. Durch die damaligen gesellschaftlichen Gepflogenheiten zog man erst zusammen, wenn man verheiratet war. Voraus ging eine Verlobungsfeier im Beisein beider Familien, mit Geschenken und allem Pipapo. Eine Verlobung auflösen, wäre einer großen Schande gleichgekommen. Meine Mutter erfuhr erst auf dem Standesamt, als sie und Vater sich zur Eheschließung anmeldeten, dass ihr zukünftiger Mann geschieden und an das Kind gebunden ist, welches sie in der Wohnung ihrer zukünftigen Schwiegermutter angetroffen hatte. Sie entschied sich gegen die Schande und nahm pflichtbewusst den vierjährigen Buben mit der Heirat in ihr Leben auf. Leicht hatte sie es nicht. Jedes Mal, wenn Frank von einem Besuch bei der Großmutter zurückkam, musste sie mit ihrer Annäherung wieder von vorne beginnen. Einmal, als Franks Benehmen im Beisein der Großmutter wieder aus dem Ruder lief, bat sie Vater, sich erzieherisch einzubringen. Darauf zog die Großmutter die Hand auf, zum Erschrecken meiner Mutter nicht gegen Frank, sondern gegen meinen Vater. Meine Mutter verlangte darauf den Wegzug, möglichst weit weg von seinem Heimatdorf. Nach dem Krieg boomte die Wirtschaft und mein Vater fand rasch eine neue Stelle. So verschlug es die junge Familie nach Kaltbad, ein wachsendes Dorf in der Nähe einer mittelgroßen Stadt. Die Stadt zieht wegen Sehenswürdigkeiten Touristen an und verfügt deshalb über eine Infrastruktur, wie sie auch in Großstädten zu finden ist. Nachdem sich die junge Familie in Kaltbad niedergelassen hatte, kam nach einem Jahr Antonia, die von allen nur Toni genannt wird, zur Welt, fünf Jahre später wurde ich geboren und nach weiteren zwei Jahren machte Robert, das Nesthäkchen, die Familie komplett.

Unsere Mutter brachte die Umgangsformen, die sie sich bei ihrem Arbeitgeber angeeignet hatte, in unsere Erziehung ein und verstand es auch hervorragend, keines von uns Kindern zu bevorzugen oder zu benachteiligten. Frank war deshalb für uns von Anfang an ein vollwertiger Bruder, auch auf der emotionalen Ebene. Der einzige bemerkenswerte Unterschied zwischen uns bestand darin, dass Frank von der Großmutter väterlicherseits mehrmals pro Jahr ein an ihn persönlich adressiertes Paket mit Süßigkeiten erhielt und Mutter uns Franks Vorzugsbehandlung seitens der Großmutter erklären musste. Weil Frank uns von den Süßigkeiten immer etwas abgeben musste, blieb für uns die Welt in Ordnung. So war es nie ein Geheimnis, dass wir vier denselben Vater, aber nicht dieselbe Mutter haben. Das interessierte uns aber nicht weiter, denn die Pakete waren das Einzige, das uns Geschwister differenzierte. Unsere Mutter ließ uns auch nie die schmale Haushaltkasse spüren und machte das fehlende Materielle an Geburtstagen und Weihnachten auf andere liebevolle Art wett. So wie sie immer alles mit ihrer Liebe aufgewogen hat. Herrschte im Kühlschrank Ebbe, konnte sie mit dem Wenigen, das noch da war, die besten Gerichte auf den Tisch zaubern. Behütet wuchsen wir in einer recht harmonischen Familie auf, in der unsere Mutter das Zepter führte und unser Vater für den Unterhalt sorgte. Als Kinder bekamen wir manchmal mit, wie unsere Mutter auch unserem Vater eine Standpauke hielt. Da sie uns aus den Konflikten heraushielten, wussten wir selten um was es ging. Zudem konnte Vater die Gewitterwolken immer irgendwie vertreiben, denn sie stritten sich nie lange. Und Mutter hielt sich immer an die Sache. Nie hörten wir sie ein wüstes Wort sagen und sie hatte auch uns verboten, Schimpfwörter in den Mund zu nehmen, wenn wir uns stritten. Neben der Schule verbrachten wir die meiste Zeit im Freien, spielten Fangen, fuhren Rollschuh oder verbrachten herrliche unbeschwerte Ferien bei unseren Großeltern mütterlicherseits. Sie lebten in einem von der Gemeinde zur Verfügung gestellten stillgelegten Bauernhof, der für Kinder das reinste Paradies war. In den leeren Ställen und Scheunen ließ sich wunderbar Verstecken spielen. Ging die ganze Familie in die Ferien, mussten unsere Eltern das Geld dafür zusammenkratzen und wir verreisten wegen Vaters Leidenschaft in die Berge. In Knickerbocker, roten Wollkniestrümpfen mit Zopfmuster und schweren Wanderschuhen kraxelten wir durch die alpine Welt. Natürlich trieben wir auch einigen Unfug - zu dieser Zeit galt der Gang im Pyjama auf die Straße bereits als Mutprobe - der als Strafe höchstens mal eine gestrichene Fernsehsendung nach sich zog. Im Sommer liefen wir außerhalb der Schule barfuß, aber nur solange bis Mutter zu Ohren kam, dass die Leute dachten, sie könne sich für ihre Kinder keine Schuhe leisten. Von da an trugen wir das ganze Jahr Schuhe, außer, wenn Mutter an heißen Tagen draußen einen Zuber mit Wasser füllte und uns damit vergnüglichen Badespaß bescherte. Es gab nur zwei Dinge, die ich in meiner Kindheit aufgrund meiner Stellung als Nachteil empfunden habe. Wenn es hieß, die beiden Mädchen helfen der Mutter beim Abwasch, war ich gemeint. Wenn es am Abend hieß, die beiden jüngsten Kinder gehen zu Bett, war wieder ich gemeint. Ich habe deswegen keinen Schaden davongetragen und es sorgt noch heute für Heiterkeit, wenn wir uns daran erinnern. Weil der Altersunterschied zwischen uns Geschwistern relativ groß ist, absolvierte Frank bereits eine Berufslehre, als Robert und ich noch zur Schule gingen. Frank fuhr mit einem Motorroller zur Arbeit und wenn er am Abend nach Hause kam, durften wir nacheinander zu ihm auf den Sitz steigen und mit ihm eine Runde ums Quartier fahren. Das war jedes Mal ein großes Vergnügen, um das uns die anderen Kinder beneideten. Robert und ich waren sehr stolz auf unsere älteren Geschwister. Während Toni sich mehr für die Flower-Power-Szene interessierte und die Beatles und die Rolling Stones zu Halbgöttern erklärte, stand Frank auf Rock-'n'-Roll und Schlager. Durch sie erhielten Robert und ich in der Popmusik einen Wissensvorsprung, mit dem wir in der Schule mächtig angaben. Manchmal saßen wir mit Toni in ihrem Zimmer auf dem Bett und hörten ihre Schallplatten, während sie mit einem Stock auf die Poster an der Wand zeigte und die Namen der Stars abfragte. Robert wusste über Mick Jagger, John Lennon und Konsorten viel besser Bescheid als ich. Als auch Toni zum Azubi wurde und tagsüber nicht mehr zu Hause war, nutzten Robert und ich ihren Plattenspieler als Karussell für die Puppen aus meinem Puppenhaus und ließen sie im hohen Bogen vom kreisenden Plattenteller fliegen. Nach dem ersten Spaß leimten wir die Puppen mit Klebstoff auf eine Schallplatte. Die Puppen ließen sich wieder entfernen, der Klebstoff nicht. War das ein Donnerwetter, als Toni am Abend nach Hause kam und ihre Platten nicht mehr abspielen konnte. Mutter hatte uns von da an verboten, alleine in Tonis Zimmer zu gehen. Sowieso mussten wir anklopfen, wenn eines in das Zimmer der anderen wollte, nebst Respekt wurde uns auch Privatsphäre sehr früh beigebracht.

Einmal nahm Vater uns an seinen Arbeitsplatz mit. Als technischer Hauswart war er in einer Firma tätig, die ihren Sitz in einem Haus hatte, das für damalige Verhältnisse als Hochhaus bezeichnet wurde. Während er in der Werkstatt etwas erledigen musste, fuhren wir mit dem Lift in das oberste Stockwerk und rannten im Wettlauf das Treppenhaus hinunter. Zu Hause baute er Dampfmaschinen und zeigte uns wie sie funktionierten oder machte Strom sichtbar, indem er zwei Kabelenden gegeneinanderhielt, nicht ohne uns auf die Gefahren hinzuweisen. Vater war fürs Technische zuständig, Mutter für alles andere. Die Autorität ging aber eindeutig von unserer Mutter aus.

An den Sonntagen war der Spaziergang am Nachmittag für die ganze Familie obligatorisch. Angefangen im Quartier, hinauf zum Wald, dem Waldrand entlang und wieder zurück durchs Quartier. Als Toni einmal maulte: »Nur Idioten drehen immer die gleiche Runde«, nannten wir diesen Spaziergang nur noch die ,Idiotenrunde’. Aber nur solange, bis am Endes des Weges aus einer ausrangierten Villa, die einst einem Fabrikinhaber gehörte, ein Behindertenheim wurde und Mutter uns verboten hatte, dieses Wort noch einmal in den Mund zu nehmen, damit die Leute nicht auf falsche Gedanken kamen.

Wenn wir an einem Baum einen Apfel oder ein paar Kirschen stibitzen wollten, wurden wir von Mutter ermahnt: »Das gehört sich nicht.«

Überhaupt war es ihr wichtig, was die Leute über uns dachten. Ja nicht unangenehm auffallen war ihre Devise, sie zelebrierte das fast wie eine Religion. In den eigenen Wänden ließ sie uns aber einiges durchgehen, Hauptsache, wir wussten uns in der Öffentlichkeit zu benehmen. Wenn wir am Tisch diskutierten und nicht alle gleicher Meinung waren, verschaffte sie jedem Gehör, auch das war bei ihr Standard. Und die Diskussionen führten oft zu lustigen Debatten. Zum Beispiel bei Kain und Abel, als Gott Kain, zum Schutz vor anderen Menschen, ein Zeichen auf die Stirn setzte. Damit brachten wir Mutter in Erklärungsnot, denn die ersten Menschen waren Adam und Eva und wir der Meinung, dass diese ihrem Sohn wohl kaum ans Leder wollten. Oder als Toni, sie zwar etwa zwölf Jahre alt, einmal sagte: »Ich will wissen wie es ist, wenn man am Morgen aufwacht und feststellt, dass man tot ist«, hatte Mutter alle Mühe uns beizubringen, dass man nicht beides gleichzeitig sein kann. Auch unsere Eltern konnten miteinander lachen. Einmal, als Mutter an einem Pullover strickte - sie beherrschte die Stricknadeln virtuos - sagte sie zu Vater, dass die Wolle vermutlich zu Ende geht, bevor der Pullover fertig wird und er dazu trocken meinte: »Dann strick einfach ein bisschen schneller.«

Wir verbrachten eine schöne Kindheit, eine tolle Jugendzeit, gehörten in der Schule zum besseren Durchschnitt und stehen uns auch heute noch immer sehr nahe.

Ungewollte Grenzerfahrung

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