Читать книгу Ungewollte Grenzerfahrung - Corinne Miller - Страница 8
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ОглавлениеIn den nächsten zwei Wochen stellt sich heraus, was Rita unter einem sozialen Engagement versteht. Sie leistet meinem Vater auf seine Kosten zwei bis dreimal pro Woche beim Mittagessen Gesellschaft. Das ist alles. Manchmal kommt sie etwas früher und Vater nimmt sie an den Stammtisch im Bären mit. Er ist felsenfest von seinem neuen Glück überzeugt und bemerkt nicht, wie sich die anderen verlegen abwenden, wenn Rita sich an ihn schmiegt. Sie bringt Vater dazu, mit ihr zum Mittagessen das Lokal zu wechseln. Nicht weil sie das Getuschel im Bären stört, dagegen ist sie immun. Sie hat den noblen Riederhof entdeckt und will so viel wie möglich für sich herausholen. An ‚ritafreien‘ Tagen nimmt Vater das Mittagessen aber weiterhin im Bären ein, da er sich in diesem Personenkreis wohler fühlt. Er ist ein langsamer Esser, der minutenlang die klein geschnittenen Bissen von einem Tellerrand zum anderen schiebt, bevor er sie auf die Gabel und in den Mund steckt und widmet dem abschließenden Kaffee locker noch einmal eine Stunde. Will man mit ihm zusammen Essen, dauert das mindestens zwei Stunden und weil er viel Zeit hat, dehnt er es meistens auf drei Stunden aus.
Niemand von uns kann es sich erlauben, unter der Woche so lange vom Arbeitsplatz oder von zu Hause weg zu bleiben. Wir sind Vaters Esskultur ja von jeher gewohnt - als Kinder durften wir erst vom Tisch aufstehen, wenn er mit dem Essen fertig war - aber für Drittpersonen ist es kein Vergnügen, so lange neben ihm auszuharren. Es ist mir ein Rätsel, woher Rita die Zeit findet, den Anfahrtsweg von einer Stunde und die Rückfahrt eingerechnet, fünf Stunden am Tag für Vater aufzuwenden. Und das zwei bis drei Mal in der Woche. Zeit, die sie in meinen Augen besser in Arbeit investieren würde, um ihre Schulden zu tilgen. Als ich Vater wieder mal zum Einkaufen begleite, will ich von ihm wissen, wieso sie so viel Freizeit hat.
»Sie arbeitet nachts. Stell dir vor, nach der Nachtarbeit schläft sie ein paar Stunden, steht auf und fährt eine Stunde, damit sie bei mir sein kann.«
»Sie arbeitet nachts?«
»Ja, damit sie mich am Tag besuchen kann.«
»Sie lässt sich von dir verpflegen, das ist alles.«
»Es ist nicht mehr als Recht, wenn ich sie einlade, schließlich nimmt sie einen langen Anfahrtsweg in Kauf.«
Seine Antwort versetzt mir einen Stich. Ihr Nichtstun empfindet er als Leistung und an den Aufwand, den ich für ihn erbringe, hat er noch nie einen Gedanken verschwendet.
Ich bin ihm nicht mehr so freundlich gesinnt, als ich ihm die vollen Einkaufstaschen in den zweiten Stock hochtrage. Dabei erinnere ich mich an die Geschichte mit dem verlorenen Sohn. Ein Vater veranstaltete für den Sohn, der in die Welt hinausgezogen und nach vielen Jahren wieder heimgekehrt ist ein großes Fest, während er für den anderen Sohn, der bei ihm geblieben ist und ihm bei der Bewirtschaftung des Hofes half, noch nie ein Fest ausgerichtet hat. Als Kinder haben wir mit den Eltern oft über diese Ungerechtigkeit diskutiert. Mutter gab uns zu verstehen, dass sich diese Geschichte wiederholen wird, solange es Menschen gibt. Gerade erfahre ich sie am eigenen Leib. Vater muss bei diesen Diskussionen taub gewesen sein.
In der zweiten Augustwoche stellt Lena ein Telefon in mein Büro durch und kündet John Harding, Vaters Bankberater aus der Dorfbank, an. Nach den üblichen Begrüßungsfloskeln kommt er gleich zur Sache.
»Ihr Vater will an eine Frau Elsino fünftausend Euro überweisen. Wissen Sie etwas davon? Ich darf Sie informieren, weil Sie für dieses Konto eine Vollmacht haben.«
Nach dem ersten Schreck denke ich über die Vollmacht nach. Meine Mutter hatte sie mir vor Jahren für Notfälle übertragen und weil keiner eingetroffen ist, habe ich es vergessen. Mein Herz beginnt zu klopfen. Vater ist sehr sparsam und nun will er dieser Frau diesen wahnsinnig hohen Betrag überweisen. Vermutlich sein ganzes Erspartes.
»Wieviel hat er auf dem Konto?«
»Fünfundneunzigtausend.«
Mein Herz klopft jetzt noch stärker und ich bin baff. Ich hatte keine Ahnung, dass er so viel auf der hohen Kante hat. Nach Mutters Tod haben Toni, Robert und ich auf die Auszahlung unseres Erbes von je dreitausend Euro verzichtet und Vater das Geld zu seiner Verfügung überlassen. Und bisher vermittelte er den Eindruck, dass ihm die Rente nur ein bescheidenes Leben ermöglicht, denn wir gingen davon aus, dass er die Geldbörse deshalb so zögerlich in den Händen hält, weil er am Rechnen ist. Dabei rechnete er damit, dass die anderen die Geduld verlieren und ihm seine Auslagen übernehmen. Wenn ich gewusst hätte, dass er mehr Geld als ich zur Verfügung hat, wäre ich anders mit ihm umgegangen und hätte früher, nicht erst an Kellys Geburtstag, interveniert. Indirekt habe ich dazu beigetragen, dieses Konto zu füllen. Mir wirbeln sehr viele Gedanken durch den Kopf. Vaters Bauernschläue, die Höhe seines Bankkontos und der hohe Betrag, den er dieser unsympathischen Frau überweisen will. Zu viel auf ein Mal. Das Herz klopft mir bis zum Hals. Ich bringe gerade noch stotternd über die Lippen, dass er die Zahlung zurück halten soll bis ich mit meinem Vater geredet habe. Im Büro lasse ich alles stehen und liegen und fahre zu ihm nach Hause und hoffe, dass er da ist. Nachdem ich zweimal auf den Klingelknopf gedrückt hatte, höre ich erleichtert den Summer der Türöffnung. Auf dem Weg in den zweiten Stock überwinde ich zwei Stufen auf einmal und stürme atemlos an Vater vorbei, der unter der geöffneten Türe steht und sich über meinen unverhofften Besuch freut. Kaum hatte er die Türe geschlossen, wettere ich los. Als er realisiert um was es geht, schwindet seine Freude. »Wieso weißt du das? Du darfst dich nicht einmischen. Du darfst die Harmonie zwischen mir und Rita nicht stören.«
»Papa. Bitte. Wenn die Harmonie auf diesem großzügigen Geldgeschenk beruht, ist diese Freundschaft nicht viel wert.«
»Ich habe es versprochen und damit basta.«
»Weshalb schenkst du ihr einen so hohen Betrag?«
»Ich schenke es nicht, ich leihe es. Sie hat versprochen, es zurückzuzahlen. Ihr wurde die Geldbörse gestohlen und sie hat einen finanziellen Engpass.«
»Einen Engpass?«, frage ich lauter als beabsichtigt. »Dass ich nicht lache. Wer ein so schickes Auto fährt hat keine Engpässe. Das sind Ausreden, damit du weich wirst. Sie hat Schulden und Betreibungen. Die Liebe spielt sie dir vor. Papa, du musst mir glauben. Bitte!«
»Schulden? Das kann ich mir nicht vorstellen«, sagt er und läuft ins Wohnzimmer. Ich finde es merkwürdig, dass er sich nicht daran erinnert, er hat sie doch an Mutters Grab selbst erwähnt. Ich laufe ihm hinterher, aber er weicht mir mit Ausreden aus und versichert mehrmals, dass dieses Darlehen eine einmalige Sache ist. Ich gebe nach. Es ist sein Geld und seine Entscheidung, was er damit macht. Er ringt mir das Versprechen ab, gegenüber meinen Geschwistern den Mund zu halten. Zurück im Büro bleibt mir nur übrig, John Harding anzurufen, damit er die Überweisung frei gibt.
Mehr aus Gewohnheit als aus Hunger bereite ich am Abend das Essen zu. Ich setze das Wasser für die Spaghetti auf und wasche an der Spüle die Tomaten. David deckt den Tisch und holt das Geschirr aus dem Schrank. Ich erzähle ihm vom Gespräch, das ich am Nachmittag mit Vater hatte.
»Toni und Robert haben ein Recht zu erfahren was Sache ist. Wenn seine Konten leer sind, werden sie dir übelnehmen, dass du es vorausgesehen und nichts gesagt hast«, antwortet er. Während die Tomaten einkochen, denke ich darüber nach und unschlüssig, was ich machen soll, bringe ich es noch einmal zur Sprache, als wir vor den gefüllten Tellern sitzen.
»Ein Versprechen ist ein Versprechen und dieses Darlehen ist eine einmalige Sache. Er hat genug Geld und verkraftet diesen Betrag. Ist es wirklich nötig, meine Geschwister zu informieren?«
»Es wird nicht bei dieser Überweisung bleiben. Es ist ihr in kurzer Zeit gelungen, deinem Vater diesen hohen Betrag abzuluchsen. Erstens sieht er dieses Geld nie wieder und zweitens wird sie seine Dummheit sehr bald wieder ausnutzen. Du wirst sehen.«
Am nächsten Tag befolge ich Davids Rat und schreibe am frühen Morgen im Büro einen Brief an Toni und Robert. Meine Arbeit erledige ich danach mehr schlecht als recht und schweife mit den Gedanken immer wieder ab. Um zehn Uhr gehe ich in die Küche, mache mir einen Tee und gehe ins Sitzungszimmer. Marc und Lena sitzen bereits am Tisch und machen sich über die Brötchen her, die Lena jeden Morgen, außer wenn sie in der Berufsschule ist, in der Bäckerei besorgt. Wir pflegen untereinander ein freundschaftliches Verhältnis und Marc zieht mich manchmal mit meinem Mädchennamen auf. Meistens, wenn Lena eine Auskunft will auf die er keine Antwort hat. »Frag die Frau Gräfin«, lacht er dann.
Marc kennt Frank und Lore flüchtig, weil ich sie miteinander bekannt gemacht habe, als wir die Eröffnung unserer Agentur feierten und weil Frank und Lore danach ab und zu mal vorbeigekommen sind, kennt auch Lena die beiden. Die beiden Männer haben sich gut verstanden und Witze gerissen, wenn sie sich gesehen haben. Natürlich habe ich Marc und Lena auf dem Laufenden gehalten und erzähle ihnen von der Überweisung.
»Rita hat mich Birkland brandschwarz angelogen.«
»Mit welcher Überredungskunst hat sie die Überweisung erreicht?«, fragt Marc.
»Sie behauptet, ihr wurde die Geldbörse geklaut, und dass sie es zurückzahlen wird.«
»Vielleicht hat sie wirklich einen Engpass«, meint Lena.
»Wieviel war drin?«, fragt Marc.
»Zehntausend.«
»Da hatte dein Vater aber Glück, dass sie nur die Hälfte wollte«, witzelt Marc.
»Kein vernünftiger Mensch hat so viel Geld in der Tasche«, sagt Lena als sie aufsteht, die Tasse in die Küche stellt und zurück an ihren Arbeitsplatz geht.
»Das hatte sie auch nicht«, rufe ich Lena hinterher. »Diesen Betrag hat sie erfunden um so viel wie möglich aus Vater heraus zu holen. Leider ist er darauf eingegangen.«
»Komm, das bringt nichts. Versuche an etwas Anderes zu denken«, sagt Marc.
»Corinne, Telefon für dich«, höre ich Lena rufen und bin gezwungen, in mein Büro zu gehen, obwohl ich keine Lust zum Arbeiten habe. Ich hätte das Thema gerne weiter besprochen, aber die Überweisung lässt sich auch mit langem Reden nicht rückgängig machen. Am Telefon ist ein potenzieller Neukunde, der auf Empfehlung von einem unserer Kunden anruft und eine maßgeschneiderte Offerte verlangt. Während er seine Bedürfnisse erklärt, mache ich Notizen und lege, nachdem ich ihm versichert habe, dass er bei uns an der richtigen Adresse ist, den Hörer auf. Normalerweise schreibe ich eine Offerte sofort oder mindestens so bald wie möglich, damit sie am Abend mit der Post rausgeht und der Kunde sie am nächsten Tag im Briefkasten findet. Aber meine privaten Gedanken haben mich im Griff und die Notizen bleiben unberührt liegen. Den ganzen Tag suche ich in der Vergangenheit nach Anzeichen, die Aufschluss geben könnten, ob Vater schon früher vergesslich war, finde aber nichts. Er ist geistig fitter als mancher Zwanzigjähriger, rattert seine Termine für die nächsten drei Wochen in einem Zug runter und kennt das Fernsehprogramm auswendig. Erst kürzlich machte er mich auf einen Film aufmerksam, von dem er dachte, dass er mich interessieren könnte und nannte mir Tag, Sender und Ausstrahlungszeit. Am Abend ist nebst der Offerte noch Anderes nicht erledigt und ich sage die Einladung von Freunden ab, die David und mich heute Abend zum Essen erwarten, um das Versäumte aufzuholen.