Читать книгу Jahreskreise - Crisalis . - Страница 7
ОглавлениеDie nächsten Tage waren friedlich für Charlotte, angefüllt mit einer ruhigen Freude. Dankbar dachte sie an die Begegnung mit Christiane zurück und dass ein wenig Heilung geschehen war. Und sie hatte große Freude an Cleo. Es war einfach wunderschön, wenn sich abends die Katze eng an sie kuschelte, oder morgens, nachdem der Wecker klingelte, ihr vorsichtig mit der Tatze über das Gesicht strich, als wollte sie sie auf sanfte Art noch einmal wecken. Oft wenn sich die Katze an sie schmiegte, ging ihr das Herz auf und schon dadurch geschah ein wenig Heilung. Zudem hatte Charlotte das Gefühl, dass Cleo sich sehr gezielt auf verspannte Körperstellen legte, wo der Energiefluss blockiert war oder irgendetwas klemmte. Und es war ganz deutlich nicht nur die angenehme Körperwärme der Katze sondern heilende Energie, die da zu fließen begann.
Während dieser Zeit arbeitete Charlotte an einigen anstrengenden Projekten, unter anderem hatte sie die Ankündigung für die Seminarreihe mit dem Thema „Ursprung und Funktion von sexuellem Missbrauch in unserer Gesellschaft“ bei Synergia veröffentlicht. Schon der Ausschreibungstext hatte zum Teil heftige Diskussion ausgelöst. Der Vorstand, der seinen Konzern als progressiv und richtungsweisend in der Gesellschaft sah, würde geschlossen teilnehmen und hatte sich ohne Ausnahme angemeldet.
Eines Nachts als Charlotte spät schlafen ging, todmüde von mehreren Tagen anstrengender Arbeit, glitt sie in einen Alptraum, gegen den sie sich nicht wehren konnte. Sie spürte noch, wie ihr der Schweiß ausbrach, versuchte verzweifelt aufzuwachen, aber sie konnte sich nicht gegen den Sog des Traums erwehren. Sie sah sich selbst wie verloren in einem ihr völlig fremden Hof stehen. Sie fühlte sich, als stehe sie seit Wochen unter Schock. Ein Teil von ihr schwebte dort oben mit den weißen luftigen Wolken durch den azurblauen Himmel. Dieser Teil schaute ganz ruhig und gelassen auf sie hinab, auf diese Sarah, wie sie dort stand. Das schwarze Haar fiel ihr in langen leichten Locken über die Schultern. Charlotte sah Sarah im Traum und gleichzeitig war sie Sarah. Sarah hielt ihr Gesicht in die Sonne und fragte sich, warum sie sich so ruhig fühlte. Oder vielleicht war sie einfach schon tot? Zumindest hatte sie keinen eigenen Willen mehr. Sie war Hans auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Sie folgte ihm willenlos durch den Alltag und wartete auf seine Anweisungen. So auch jetzt, als Hans aus dem Haus trat und ihr winkte. Ein kurzer knapper Befehl: „Sarah!“. Ohne zu zögern oder nachzudenken setzte Sarah sich willenlos in Bewegung. Die Frage, ob es wohl einen Sinn gab in diesem perversen Spiel, ging ihr kurz durch den Kopf. Hans schritt in Richtung Keller und während Sarah ihm die Stufen hinunter folgte, betrachtete sie seinen muskulösen, braungebrannten Nacken. Sie wusste, im Keller war ein Mann einquartiert, oder eingesperrt? Sie hatte ihn kurz von weitem gesehen. Er war wohl nicht jüdisch, aber er hatte den Hauch des Intellektuellen. Schon damals hatte sie sich gewundert, was Hans mit ihm zu schaffen hatte. Hans gab ihr mit einer herrischen Bewegung zu verstehen, im ersten Kellerraum zu warten. Sarah wusste plötzlich mit intuitiver Gewissheit, was geschehen würde. Sie konnte aber weder Mitgefühl noch Mitleid empfinden. Sie war einfach ausgebrannt, leer und kalt. Sie wunderte sich nicht einmal mehr, warum Hans an dieser Art der Zeugenschaft Gefallen fand. So wartete sie einfach in diesem hellen, grauen, warmen Keller und empfand nichts, außer einer Andeutung von Angst. Sie hörte auch nichts, aber als sie Hans Stiefel auf dem Zementboden hörte, wusste sie, der andere lebte nicht mehr. Offensichtlich hatte Hans ihn nicht erschossen, sondern irgendeine lautlose Art des Tötens gewählt. Lange hatte sie auch nicht Zeit nachzudenken, denn nun bekam sie den Befehl sich auszuziehen. Hans hatte eine Art, Befehle zu erteilen, zu vollstrecken, als sei dies alles sinnvoll, vielleicht unangenehm, aber für alle Beteiligten eine zum Besten gereichende Notwendigkeit. Er deutete an, dass sie trainiert werden müsste und näherte sich ihr mit vorgestreckter Faust. Beim Anblick ihrer Kraft und ihrer trainierten Bauchmuskeln zuckte er zusammen. Fing dann aber doch an, gegen ihren Bauch zu boxen. Etwas zögerlich, dann immer heftiger. Mit einer Kombination aus Muskelanspannung und Atemtechnik konnte Sarah zwar nicht vermeiden, dass er ihr Schmerzen zufügte, aber zumindest verhindern, dass er Schaden anrichtete. Sie sah plötzlich die Bilder der Amazone vor sich, von der sie neulich geträumt hatte. Und während sie die Bilder dieser starken, durchtrainierten Frau vor ihrem inneren Auge vorbeiziehen ließ, fühlte sie, wie auch in ihr selber eine neue Kraft entstand. Hans Irritation wuchs, raubte ihm die Überzeugung. Wie konnte er mit seinem begrenzten Denken auch verstehen, dass diese Kraft aus anderen Leben stammte, in einer anderen Zeit gewachsen war. Wenn er auch nicht bewusst erfassen konnte, dass diese Atemtechnik aus einer längst vergangenen matriarchalen Kultur stammte, so spürte er doch etwas für ihn Ungeheuerliches. Verwirrt ließ er von ihr ab. Während sie hastig ihre Kleider überzog, spürte sie seine scheelen Seitenblicke und ihr liefen Schauer der Angst den Rücken hinunter. Er würde sie für ihre Stärke büßen lassen. Als er aufstand, folgte sie ihm nach draußen. Sie hielt Abstand, blieb aber in Befehlsreichweite. Es war etwas mit ihr geschehen, dort unten im Keller. Sie war aus ihrer Starre erwacht. Es war, als hätte der Schmerz aber auch die Anspannung und die Kraft in ihren Bauchmuskeln einen wichtigen Teil von ihr wiederbelebt. Ein dumpfes Grauen breitete sich in ihr aus. Sie sah plötzlich was Hans und seine Kameraden um sie herum trieben. Auch wenn sie die meiste Zeit im Haus blieb, dort putzte und bediente, wusste sie plötzlich mit intuitiver Gewissheit, dass diese Männer um sie herum mit Tod, Folter und Verderben spielten. Ein grausames, grauenhaftes Spiel mit anderen Menschen. Mit jüdischen Menschen. Mit ihrem Volk. Und sie wusste plötzlich, dass die Unsicherheit, die Hans im Keller gespürt hatte, als sich ihre innere Kraft plötzlich wieder belebte und in gestärkten Muskeln manifestierte, ihr zur Gefahr werden würde. Wahrscheinlich war es sogar ihr Todesurteil. Sie wusste, sie musste handeln, wollte sie überleben. Aus seinem perversen Spiel mit ihr war für Hans plötzlich Ernst geworden.
Am Morgen erwachte Charlotte mit dumpfer grauer Angst im Herzen. Sie war schweißgebadet und hatte das Gefühl sofort etwas tun zu müssen, um dieser Gefahr zu entfliehen. Die dankbare Sicherheit des Erntedank-Rituals war dahin. Auch die ruhige Freude über die Begegnung mit Christiane und dass sie spüren konnte, wie die Energie in dieser ihr so fremden Frau zu fließen begann, war verschwunden. Jetzt erfüllte sie nur Angst und dumpfe, grauenvolle Verzweiflung. Klar stand ihr der Traum der Nacht vor Augen. Allein die Erinnerung daran ließ sie das Grauen wieder fühlen, das sie im Traum verspürte hatte. Selten erinnerte sie sich so genau an ihre Träume.
Charlotte bemühte sich, vollends wach zu werden und den Traum abzuschütteln. Mühsam stand sie auf. Durch den Traum schien sie den Boden unter den Füssen verloren zu haben. Sie stellte sich unter die heiße Dusche und als sie zumindest äußerlich genügend Wärme getankt hatte, brauste sie sich noch kurz eiskalt ab. Dann setzte sie sich auf ihr Meditationskissen. Und als es ruhiger in ihr wurde, spürte sie wieder diese graue dumpfe Leere in ihrem Unterleib. Sie bemühte sich, Licht und Liebe und Wärme dorthin zu schicken. Ein wenig Erleichterung brachte es ihr, aber im Ganzen fühlte sie sich emotional zutiefst verunsichert.
Die nächsten Tage waren für sie mühsam. Unsicher geworden schleppte sie sich durch den Tag. Wenn sie tagsüber neue Gruppen coachen sollte, hatte sie morgens zum Teil fast panikartige Gefühle der Inkompetenz. Erstaunlicherweise schien sie dank ihrer Routine dann doch akzeptable Ergebnisse zu erzielen. Aber es kostete sie unheimlich viel Kraft. Sie freute sich abends auf ihr Bett als sicheren Zufluchtsort, nur um dann wieder von Träumen gepeinigt zu werden. Immer wieder tauchten nächtliche Bilder von Sarah auf.
Zweimal noch rief Christiane sie an. Einmal machten sie gemeinsam einen langen Spaziergang durch den nun frostigen Herbstwald. Anona sprang freudig um sie herum. Sie gehorchte perfekt und Charlotte konnte eine liebevollere Beziehung zwischen den beiden spüren. Der lange Spaziergang tat Charlotte gut, sie gingen die meiste Zeit schweigend, nur hin und wieder sprachen sie über ihre Arbeit, über die Natur um sie herum oder auch mehrmals über Anona. Christiane erzählte, dass sie einen Tai-Chi Kurs belegt hätte. Am Anfang erzählte sie zögernd, dann immer freudiger, von den Erlebnissen und Begegnungen in diesem Kurs. Nach dem Spaziergang behandelte Charlotte Christiane noch einmal und sie hatte zunehmend das Gefühl, dass die Energie nun stetiger floss, das Herzchakra sich langsam erwärmte. Die folgenden Wochen vergingen ruhig für Charlotte, die Projekte und Gruppenmediationen verliefen gut. Es gab nicht übermäßig viel zu tun und Charlotte legte sich eine strenge Selbstdisziplin hinsichtlich ihres Sportprogramms und ihrer morgendlichen und abendlichen Meditation auf. So kam sie langsam aber stetig wieder etwas ins Gleichgewicht. Wenn nur die nächtlichen Träume von Sarah nicht gewesen wären, hätte sie sagen können, sie fühle sich gut. Aber diese Träume zogen ihr immer wieder den Boden unter den Füssen weg und sie fühlte sich in einer sehr unsicheren Balance.
Dann eines morgens erwachte Charlotte wieder schweißgebadet mit einem tiefem ängstlichen Zittern in ihrer Seele. Bilder von schwarzen, brutal im Takt stampfenden Lederstiefeln brannten hinter ihren Augenliedern, klangen ihr in den Ohren. Sie rollte sich eng zusammen, aber das verschwitzte Nachthemd klebte kalt und feucht an ihrem Körper. Die Angst wurde dumpf und sie wusste, sie würde nicht wieder einschlafen können. Schon begann sich ihr gepeinigter Geist im Sorgenkarussell zu drehen. Gedanken an die Arbeit, die sich auf ihrem Schreibtisch anhäufte, Angst vor dem nächsten Vortrag. Sie begann erneut zu schwitzen. Seufzend, fast wimmernd stand sie auf. Sie zog das verschwitzte Nachthemd aus, wusch sich, rubbelte sich kräftig warm und zog sich einen weichen, wärmenden Pullover an. Dann zündete sie sich in der Küche eine Kerze an und kochte einen Pai-Muh-Tan-Tee. Der weiche, sanfte, heiße Geschmack in ihrem Mund beruhigte sie. Noch einmal zogen Bilder von uniformierter Gewalt an ihren Augen vorbei. Sie erinnerte sich an schreiende Frauen, kläglich weinende Kinder, grausam brutal lachende Männer. Eine einschneidende, kalte, herzlose Frauenstimme. Aber schon entglitten ihr die Traumbilder, die erinnerten Klänge wurden diffus. Je mehr sie versuchte danach zu greifen, desto mehr senkte sich Leere über die Erinnerung. Nur eine kalte, quälende Furcht blieb übrig.
Charlotte schüttelte sich. Sie zündete ein Räucherstäbchen vor dem tanzenden Shiva an. Dann setzte sie sich vor die kleine Statue der weißen Tara, die in ihrem Meditationszimmer stand und bat um inneren Frieden. Cleo kam, kletterte auf ihren Schoss und lehnte sich gegen ihren Bauch. Eine erstaunliche Wärme ging von diesem kleinen Körper aus und es schien wirklich, als würde Cleo gezielt die kalte Leere in ihrem Bauch mit wärmendem Schnurren füllen. Charlotte seufzte tief, legte die Hände auf Cleo, schloss die Augen. Und auch wenn sie sich nicht wirklich konzentrieren konnte, so kam doch der erbetene Frieden. Sie spürte, dass ganz tief innen immer noch angespannte Angst saß, die sie daran hinderte sich völlig zu konzentrieren und ganz loszulassen. Aber trotzdem hatte sie so viel Frieden gefunden, dass sie ruhig auf den Tag vor sich blicken konnte. Heute war der 31. Oktober, Samhain, das dunkelste der keltischen Jahreskreisfeste. Gerade weil es an diesem Fest darum ging, die Dunkelheit im Inneren und im Außen anzunehmen, war es für Charlotte so wichtig, es nicht zu übergehen, sondern gemeinsam mit anderen Frauen zu feiern. Sie beschloss, sich Barbaras Gruppe anzuschließen, wo die Samhainfeier immer mitten im Wald in einer Höhle stattfand.
Abends trafen sich die Frauen im Wald. Es waren viele Frauen gekommen. Charlotte fügte sich in die Gruppe ein, fast unbemerkt. Obwohl sie die Bekannten unter ihnen begrüßt und umarmt hatte, wusste Charlotte schon, dass einige von ihnen sich später nicht an sie erinnern würden. Ihr Krafttier im Osten war der Fuchs. Und seinen Fähigkeiten konnte sie sich mühelos anvertrauen. So wie er mit dem schimmernden Zwielicht der Waldgrenze verschmelzen konnte, so konnte sie fast unbemerkt in eine Gruppe eintauchen. Sie wurde gesehen und doch nicht wahrgenommen. Und obwohl sie mit den Frauen redete, sie begrüßte, würden viele sie gar nicht oder sie nur für diesen Moment wahrnehmen und nicht viel von ihr in Erinnerung behalten.
Nachdem sich alle Frauen begrüßt hatten, gingen sie in Richtung Wald. Charlotte staunte wieder, wie alle diese Frauen ohne zu zögern im Stockdunklen den lehmigen Pfad entlanggingen, nach links in den Wald abbogen, den Abstieg durch raschelndes Laub vorsichtig Schritt für Schritt begannen. Alle schwiegen nun. Es senkte sich tiefe Stille über den Wald, nur das Rascheln der Schritte war zu hören, hier und da eine gemurmelte Warnung vor einem rutschigen Holz, einem großen Stein oder einer Unebenheit auf dem Weg.
Vor der Höhle hielten sie an. Der Eingang lag schwarz und schweigend vor ihnen. Wie ein großer dunkler Rachen. Charlotte lief ein Schauer über den Rücken. Sie alle betraten die Höhle, kauerten sich auf die Erde, eng aneinander. Zögernd aber stetig begannen die Trommeln. Leise zuerst, dann immer deutlicher bis ihr Klang gleichmäßig im Höhlenraum vibrierte. Es war so dunkel, dass die Frauen nicht die Gesichter der anderen um sich herum sehen konnten. Dunkelheit, Leere, nackte kahle Erde. Nur der gleichmäßig tröstende Trommelklang der ihnen Halt gab. Und dann verstummten auch die Trommeln. Stille. Nichts. Schweigend verharrten die Frauen, jede spürte ihren Gedanken nach. Samhain. Gedanken an die Toten in diesem Jahr. Gedanken an Trauer und Verlust in diesem Jahr. An Leere, Dunkelheit, Kälte, Winter, Tod. Bemühen um Ehrfurcht und Ehrung der Geister und AhnInnen. Ehrfurcht vor dem Neubeginn, der nur aus dem Tod entstehen konnte. Eine nach der anderen begannen die Frauen nun zu sprechen. Einige zögernd, manche voller Kummer, andere laut und bestimmt. Wieder andere schafften nur ein kaum wahrnehmbares Flüstern. Sie sprachen von den Verlusten des letzten Jahres, von Tod und Sterben, Krankheit, inneren Schwierigkeiten. Von Alter und dem alt werden. Von Angst. Von ihrem Ringen damit, Tod, Krankheit und Alter zu akzeptieren. Einige sprachen auch schon von der Hoffnung auf den versprochenen Neubeginn. Über die Hoffnung, dass der Kreislauf sich erfülle, über ihr Ringen mit dem Verständnis, dass aus Schmerz wieder Freude entstehen könne, aus Kummer und Leid wieder Leben und Freude erwachsen würde. Aber oft war Zweifel herauszuhören. Die große Frage, warum das denn so sein müsste? Warum muss es Krankheit, Alter, Tod, Kummer, Verzweiflung geben? Die Höhle war wieder still geworden. Charlotte schien es, als schwiege die Göttin zu dieser Frage. Diese ewige Frage, die über allen Menschen schwebt und die nun auch hier in der Höhle über den Frauen schwebte. Stumm atmete die Höhle Schwärze und Feuchtigkeit. Charlotte hatte nichts von sich erzählt, hatte geschwiegen. Noch immer fühlte sie den Fuchs in sich, der nur beobachtete, ungesehen. Und ihr Herztier, der Luchs schien neben ihr zu stehen, auch er leise, verschwiegen, geheimnisvoll, still. Charlotte schmiegte sich an die Felswand, durch ihre dicke Jacke spürte sie die Kälte nicht. Sie dachte an ihre Angst, an ihre immer wiederkehrenden Alpträume. Was sollte sie darüber erzählen? Sie nahm Kontakt mit der Erde unter ihr auf, schloss die Augen. Dann hörte sie, wie die Frauen nun leise, eine nach der anderen die Höhle verließen. Sie würden oben auf dem Hügel ein kleines Feuer anzünden, würden mitgebrachte Speisen und Leckereien teilen. Dabei würden sie auch ihren Kummer teilen und sich gegenseitig trösten. Charlotte blieb sitzen. Plötzlich war sie ganz allein in der dunklen Höhle. Tiefe Schwärze, tiefe Stille umgab sie. Aus dem kleinen Gang, der tief hinab in das Erdinnere abfiel, wehte ein kühler Luftzug. Sie spürte Angst in sich hochsteigen und nach ihrem Herzen greifen. Sie spürte wie die endlos schwarze Finsternis der Erde nach ihr griff und Panik durchflutete sie. Sie zwang sich, tief zu atmen. „Ruhig, ruhig. Spüre die Erde unter dir. Spür die Festigkeit, ruf die Göttin.“ Plötzlich spürte Charlotte, dass sie nicht alleine war in der Höhle. Wieder flackerte Panik in ihr auf. Sie spürte Hände nach ihr greifen. Etwas streifte ihre Wangen. Bilder zogen an ihr vorbei, von nackten, blutig geschlagenen Rücken, von Massengräbern, grau in grau alles, nur die gleichmäßig stampfenden Lederstiefel glänzend schwarz. Und dann wieder dieses Gesicht. Sarah. Große traurige, nein, leere Augen. Resignation. Verweigerung. Sarah. Woher wusste sie, dass diese Frau, die immer wieder in ihren Träumen auftauchte, Sarah hieß? Charlotte liefen kalte Schauer den Rücken hinunter. Sie wollte nach Sarah greifen, sie schützend in die Arme nehmen, aber sie konnte sie nicht erreichen. Sarah schaute flehend, stumm, blieb unerreichbar. Charlotte spürte plötzlich einen tiefen brennenden Schmerz in ihrem Unterleib. Diese Sarah, diese Frau war ein Teil von ihr, ein Teil, der tiefes Leid durchlebte, grauenhafte Schmerzen durchlitt. War diese Frau ein Symbol für den unverarbeiteten Schmerz in ihr, oder war sie ein früheres Leben? War sie eine Erinnerung oder war sie Energie aus einer anderen Zeit? Samhain – die Grenze zwischen den Welten war heute so dünn wie sonst nur an Beltane, dem Frühjahrsfest in der Nacht zum ersten Mai. Heute war es möglich, dass Energien aus anderen Zeiten, anderen Welten zu ihr durchdrangen. Dann hörte Charlotte plötzlich wie aus weiter Ferne die Frauen sangen. Eine Stimme hörte sie besonders, mit sicherem, erdendem Klang. Das riss sie aus ihrer hilflosen Ängstlichkeit. „Göttin, hilf!“ murmelte sie. Und noch einmal, laut und deutlich dieses Mal: „Göttin, hilf mir.“ Und dieses Mal schien die Höhle ihre Bitte anzunehmen. Sie spürte Wohlwollen, Kraft und Zutrauen. Sie sprach leise aber deutlich das Mantra der Göttin:
Göttin, Mutter von allen Wesen,
die Du bist in allem was ist.
Lass mich Deine Kraft fühlen.
Lass mich erkennen, dass ich teil der Natur bin, verbunden mit allen Wesen.
Nähre mich mit Deinen Gaben,
reinige, stärke und heile mich.
Erfülle mein Herz mit Liebe, Licht und Freude.
Nimm mir meine Angst,
und erlöse mich von Missgunst und Zerstörung.
Möge Deine Allgegenwart und Macht
In mir und um mich
Leuchten in alle Ewigkeit.
Amen.
Und während sie das Mantra der Göttin sprach, hörte sie ein Raunen an ihrem Ohr: „Schreib, schreib die Geschichte der Sarah!“ Nur einmal, fast unhörbar. Aber die geflüsterten, geraunten Worte fielen weich in ihr Herz. Sie seufzte erleichtert auf. Natürlich! Das würde sie tun. Sie holte ihre Kerze und ein Räucherstäbchen aus der Tasche. Nachdem sie beides angezündet hatte, stellte sie es vor den heiligen Stein der Göttin an der Nordwand der Höhle. Dann richtete sie sich an die vier Himmelsrichtungen und bedankte sich bei den vier Elementen. Sie verließ langsam die Höhle. Oben auf dem Hügel fügte sie sich unbemerkt in den Kreis der Frauen ein, dann legte sie ihre Fuchsidentität ab. Nun konnte sie feiern, essen, lachen, schwatzen. Und noch heute Abend, noch heute Nacht, würde sie beginnen zu schreiben. Sie würde Sarahs Geschichte schreiben. Der erste Traum stand ihr noch ganz deutlich vor Augen, ihn würde sie heute Nacht aufschreiben und damit die Geschichte beginnen.
Wann immer Charlotte Zeit und Ruhe fand, schrieb sie nun über Sarah. Deutlich standen ihr einige Träume vor Augen. Das grausame Spiel von Hans und seinen Freunden mit den ihnen ausgelieferten Menschen. Die Kellerszene. Zum Teil verstand Charlotte Teile der Träume nicht. Sie schrieb, was sie erinnerte. Manchmal löste sich die Grenze zwischen Traum und Erzählung. Manchmal konnte sie plötzlich nicht sagen, ob sie sich an einen Traum erinnerte, oder ob nicht vielmehr irgendetwas in ihr angefangen hatte zu schreiben, ob die Sarah in ihr nun ihre Geschichte niederlegte. Erleichtert stellte Charlotte fest, dass mit dem Schreiben die Träume über Sarah aufhörten. Sie schlief wieder besser, konnte nachts mehr Kraft sammeln, wurde insgesamt wieder ruhiger und fand auch wieder verstärkt Mut und Energie zu heilen. Zweimal ging sie noch zu Christiane. Es war erstaunlich mitzuerleben, welche Veränderung mit ihr vorging. Und wieder wurde Charlotte klar, dass nicht eigentlich sie es war, die heilte. Sie konnte nur etwas anrühren, was in den Menschen verborgen lag, blockiert war. Manchmal konnte sie anstoßen, sie gab denn Anfangsruck, dann plötzlich schafften die Menschen es, in Gang zu kommen und ihre Heilung zu beginnen.
So auch Thomas. Thomas war ein früherer Kollege von ihr, mit dem sie Jahre zuvor abends nach der Arbeit ein Bier trinken gegangen war. Dann eines Tages erfuhr sie, dass er im Krankenhaus lag. Nach einer Nierentransplantation, die an sich erfolgreich verlaufen war, hatte man ihm so viele Immunosuppressoren gespritzt, dass sich nun Lymphdrüsenkrebs entwickelt hatte. Sie hatte ihn schon ein-, zweimal besucht, mit ihm telefoniert und wusste, dass er sehr schlechte Heilungsprognosen hatte. Sie hatte ihm hin und wieder vom Handauflegen und der Meridianmassage erzählt, aber er hatte immer sehr skeptisch gewirkt. Nicht wirklich so, als würde er es gerne in Anspruch nehmen. Er hatte auch nie von sich aus danach gefragt. Nun ging sie zu ihm ins Krankenhaus. Wenn sie ehrlich mit sich selbst war, ging sie zu ihm, um sich zu verabschieden. Sie hatte eine unbestimmte Angst davor. Einfach hinzugehen, nichts tun zu können, einfach nur da zu sein, ohne mit ihm darüber reden zu können, ohne wenigstens zu versuchen zu heilen. Sie ging auf die Station, ließ sich die Zimmernummer geben und merkte, wie zögernd sie auf das Zimmer zuging. Thomas war alleine im Raum. Er war resigniert und müde, freute sich aber über ihren Besuch. Im Zimmer roch es nach Medikamenten und Krankenhaus. Thomas sah blass aus, hatte aufgedunsene, speckige Haut. Draußen schien die Sonne und glitzerte auf dem nachts frisch gefallen Schnee. „Lass uns raus gehen.“ schlug Thomas vor. „Ja, wenn das geht’“ erwiderte Charlotte, die die Atmosphäre drinnen zunehmend bedrückend empfand, erleichtert. „Wer sollte es mir verbieten?“ fragte Thomas scharf. Charlotte zuckte schuldbewusst zusammen. Sie gingen schweigend durch die winterliche Stadt. Thomas erzählte verbittert. Wie sie ihm diese Medikamente gaben, wie sie von Anfang an gesagt hatten, die Mittel seien krebserregend, aber er müsse sie trotzdem nehmen. Und dass er nun Krebs habe, und gleichzeitig das Gefühl, er sei ein Versuchskaninchen für die Ärzte. Ein Pfleger hatte ihm gesagt, die Privatpatienten bekämen andere Medikamente. Charlotte schwieg. Sie spürte die Verbitterung, die Resignation aber auch die Angst. Automatisch schlugen sie den Weg zum Park ein. Die Sonne und der Schnee verwandelten den Park in eine Märchenlandschaft. Der Schnee knirschte unter ihren Füßen. Ein Rotkehlchen sang sein Winterlied. Am Teich saß auf einem Busch eine Amsel und sang wunderschön, wehmütig, ihr Lied. Plötzlich konnte Charlotte es einfach nicht akzeptieren, dass die Welt so schön, und doch gleichzeitig so grausam, schmerzhaft und angsterregend war. Sie beobachteten wie ein gefrorenes Blatt zur Erde schwebte. An den Rändern des Blattes glitzerten in perfekter Symmetrie Eiskristalle. „Eine Krankenschwester hat mir erzählt, dass sie letztes Jahr erlebte, wie ein todkranker Patient einfach dadurch gesund wurde, dass er aus dem Fenster dem fallenden Laub zusah. Er tat nichts weiter als das fallende Laub zu beobachten.“ Thomas schwieg nachdenklich. „Vielleicht, wenn ich einfach hier stehenbliebe und nur diese Eiskristalle bewundern würde, nichts weiter tun würde….“ Seine Stimme wurde immer leiser. „Glaubst Du, das ist möglich?“ „Ja,“ nickte Charlotte und ein Kribbeln rieselte durch ihren Körper, „ja, das glaube ich ganz bestimmt. Es ist in jedem Moment möglich.“ Eine Weile schwiegen sie. Dann gab sich Charlotte einen Ruck. „Thomas, ich würde Dir gerne die Hände auflegen. Ich weiß nicht, ob es irgendetwas helfen wird. Aber es kann auf jeden Fall nichts schaden.“ Und jetzt nickte Thomas. Er sagte nichts, aber er nickte. „Lass uns in meine Wohnung gehen. Ich wollte Dich sowieso bitten, mit mir dorthin zu gehen. Es ist nicht weit.“
Als sie in seiner Wohnung ankamen, drehte Thomas die Heizung hoch, setzte Teewasser auf, goss seine Blumen. Dann tranken sie einen Tee und hinterher bat Charlotte ihn, sich hinzulegen. Sie setzte sich vor das Bett und legte die Hände auf seine Füße. Fast sofort spürte sie einen starken Sog, sodass ihr fast schwindlig wurde. Ihre Lehrerin hatte sie gewarnt. Sie hatte ihr das Versprechen abgenommen, bei Krebskranken die Hände nur auf die Füße zu legen und nur solange, wie sie selber sich dabei gut fühlen würde. Charlotte wusste nicht, ob das „gut fühlen war“, wenn ihr schwindlig wurde, aber sie konzentrierte sich jetzt mit aller Macht auf ihr Scheitelchakra. Öffnete es dem Universum, bat um Licht, Liebe, heilende Energie und schickte diese dann mit aller Konzentration durch Thomas’ Füße, durch seine vom Krebs befallenen Lymphbahnen und -knoten bis in seinen Kopf. Nach einer Viertelstunde spürte sie dann, mehr ging nicht, mehr konnte sie nicht aushalten. Sie strich seine Füße aus und legte die Hände auf den Steinboden. Konzentrierte sich jetzt mit aller Kraft darauf, alles was nicht zu ihre gehörte, abzugeben in diese Steinfliesen unter ihr. Als sie die Augen öffnete, sah Thomas sie an. Er lächelte, es war plötzlich ein kleines Licht in seinen Augen. Charlotte schluckte und als sie sprach, wusste sie plötzlich nicht, woher die Worte kamen, denn sie klangen fremd, fast vermessen, gewiss so, dass sie, Charlotte, das nie zu einem anderen Menschen sagen würde. Und doch war es ihre Stimme die sagte: „Thomas, ob du lebst oder stirbst, dass entscheiden nicht die Ärzte dort im Krankenhaus. Vielleicht können sie nicht einmal irgendetwas daran ändern, ob du lebst oder stirbst. Das entscheidest ganz alleine du. Vielleicht nicht dein bewusstes Ich, aber ganz sicher dein Selbst. Und du musst den Entschluss fassen zu leben. Du musst darum kämpfen.“ Thomas sah sie mit großen Augen an. Aber die frühere Skepsis war aus seinem Blick verschwunden. Sie sah Offenheit und Neugierde. „Du musst von den Ärzten verlangen, dass du das andere Präparat bekommst, ganz egal wie teuer es ist. Es geht schließlich um dein Leben. Weigere dich, das alte weiter zu nehmen.“ „Ja,“ sagte Thomas jetzt plötzlich mit zunehmendem Eifer „ich werde den jungen Assistenzarzt noch mal fragen. Er hatte schon davon gesprochen, ich glaube, er wollte es mir geben, aber er hat natürlich nicht die Entscheidungskompetenz.“ „Aber er kann Dir zumindest den richtigen Namen noch mal sagen und wie die Dosierung sein sollte. Dann kannst Du ganz konkret fordern!“ Plötzlich war Hoffnung im Raum. „Und,“ fuhr Charlotte fort „geh zu meiner Heilerin, dort habe ich gelernt. Barbara kann Dir um vieles mehr helfen als ich. Ich habe das Gefühl, für mich ist Deine Krankheit eine Nummer zu groß. Ich kann Dir nur so viel geben, wie ich Dir heute gegeben habe. Aber mehr kann ich nicht tun.“ Thomas schien zu verstehen. Als Charlotte ging, blieb er in der Wohnung. Er wollte dem Erlebten noch eine Weile nachspüren, es festigen, bevor er wieder zurück in die Krankenhausatmosphäre zurückkehrte. „Ruf mich an, wenn Du mich zur Unterstützung brauchst. Und rufe gleich morgen Barbara an.“ Charlotte verabschiedete sich mit einem Gefühl, dass eben ein Wunder geschehen war. Ihr ganzer Körper war von einem warmen Kribbeln erfüllt, sie fühlte tiefe Dankbarkeit. Als sie durch den Park zurückging, sang die Amsel noch immer. Und Charlotte wusste, sie hatte Thomas nicht geheilt, das konnte sie nicht. Aber sie hatte etwas in ihm angeregt, nun würde er Wege suchen und vielleicht Heilung finden. Und plötzlich wurde ihr mit einem strahlenden Gefühl des Lachens klar, dass vielleicht sein Leben gerettet worden war.