Читать книгу Jahreskreise - Crisalis . - Страница 9
ОглавлениеDer Schnee, der Mitte November die Tage erhellt hatte, war schnell wieder geschmolzen und die langen dunklen Tage machten Charlotte dieses Jahr besonders zu schaffen. Dieser ewige kalte Regen! Wenn wenigstens wieder Schnee fallen würde. Und dabei hatte der Winter gerade erst angefangen. Charlotte fiel es schwer, in diesen dunklen Monaten Licht und Freude weiter zugeben, wenn sie irgendwo gerufen wurde, um zu heilen. Sie arbeitete viel mit Kerzen, mit Räucherstäbchen und Wärmflaschen. Nur äußerste Konzentration half ihr dabei, Licht und Wärme aus dem Universum zu holen und durch ihre Hände in den jeweils bedürftigen Menschen zu schicken. Glücklicherweise, und hier glaubte Charlotte nicht an einen Zufall, meldeten sich im Moment gar nicht so viele Menschen bei ihr, die sie um Hilfe baten. Nun fiel auch noch das erste Seminar bei Synergia zum Thema Missbrauch in diese dunkle, und für sie schwierige Zeit. Am Morgen vor dem Seminar war sie sehr nervös, doch als sie schließlich vor den etwa hundert TeilnehmerInnen stand, wurde sie ruhig. Sie spürte plötzlich wieder die Kraft, Ruhe und Energie, die sie immer dann fühlte, wenn sie auf dem richtigen Weg war, wenn sie ihrer inneren Wahrheit folgte. Sie wusste, es war sehr wichtig und gut, was sie hier gerade tat. Sie begann mit einer kurzen Einleitung, indem sie im Wesentlichen den Ausschreibungstext wiederholte und etwas ausführlicher darstellte. Sie hatte sich überlegt, dass dieser schon bekannte Text den Teilnehmenden erst einmal ein Gefühl von Sicherheit vermittelte. Diesen Text hatten alle schon gelesen, die meisten hatten ihn auch schon mit KollegInnen diskutiert und so vermied Charlotte zu Beginn des Seminars die Abwehrmechanismen, die durch Unbekanntes hervorgerufen werden. So schilderte sie, dass patriarchale, diktatorische und/oder missbräuchliche Strukturen im Allgemeinen nur funktionieren, wenn Menschen entwurzelt, ihres Selbstbewusstseins und ihrer Selbstachtung beraubt werden: „Dies wird umso effektiver konstitutionalisiert, je früher in der Kindheit Männer und Frauen ihres Selbstwertgefühles beraubt werden. Nur zutiefst verunsicherte, entwurzelte Menschen lassen sich vollkommen kontrollieren, beherrschen, ausbeuten und missbrauchen. Dies trifft auf Männer und auf Frauen zu.“ Charlotte hielt einen Moment inne und blickte in die Runde. Angespannte, aber konzentrierte Gesichter blickten ihr entgegen. Sie begründete, warum ihrer Ansicht nach Männer davon fast ebenso stark betroffen seien wie Frauen, da sie als Kind noch weniger Gelegenheit hätten, ureigene Emotionen, Spiritualität und innere Kraft zu entwickeln. Charlotte stellte mit Erstaunen fest, dass hier der Personalchef mit voller Überzeugung nickte. Sie musste ein Lächeln unterdrücken und fuhr fort, dass allerdings männliche Energie Leid eher nach Außen richte oder im Außen auslebe und sich damit das ursprüngliche Opfer-sein später eher als Täterschaft manifestiere. Im Gegensatz zu Männern könnten Frauen später ihre Fähigkeit zur ewigen Erneuerungsfähigkeit der Natur und damit zur Spiritualität über das Gebären entdecken (hier sei sowohl die tatsächliche wie auch die potenzielle Fähigkeit oder auch kreatives Schaffen eingeschlossen). Charlotte registrierte, dass sich nun auf etlichen Gesichtern deutliche Skepsis zeigte, doch sie ließ sich nicht beirren:
„Frauen erleben „ewiges“ Leben im Weiterleben des Kindes, in sozialen Taten, in künstlerischem Schaffen. Die durch das Patriarchat entwurzelten Männer empfinden diese Fähigkeit und Kraft der Frauen als existenzielle Bedrohung (der sogenannte Gebärneid) und versuchen daher Frauen mit Gewalt zu unterwerfen. Offensichtlich kann dieses Bedürfnis, die Frauen zu unterwerfen, so stark werden, dass es rituell immer wieder wiederholt werden muss, wie es z.B. bei dem fortgesetzten Missbrauch der eigenen Tochter geschieht (oder Lehrer – Schülerin, Pfarrer/ Priester – Kinder). Der Missbrauch von Jungen kann hier sowohl eine Art „Übersprunghandlung“ sein (der junge männliche Körper als Symbol für junge Weiblichkeit), oder es kann auch ritualisiert werden als die Vernichtung alles Männlichen, dass anders ist, weicher, emotionaler, kraftvoller, spiritueller als es im Patriarchat erlaubt ist.“ Hier hielt Charlotte ein und blickte einen Moment in die Runde. Die meisten Gesichter blickten ihr konzentriert, einige betont neutral oder gar betont gleichgültig entgegen. In der allerletzten Reihe lächelte ihr eine Frau zu, die Charlotte noch nie gesehen hatte. Charlotte schluckte und sagte: „Vor diesem Hintergrund können sieben Thesen zu sexuellem Missbrauch formuliert werden, die ich in der heute beginnenden Seminarreihe mit ihnen diskutieren möchte.“ Sie wandte sich um und schaltete an ihrem PC den Bildschirm auf Übertragung zum Beamer um, so dass an der Wand die erste These mit Erläuterungen erschien:
These 1:
Sexueller Missbrauch von Frauen und Mädchen ist wesentliches Werkzeug des Patriarchats zur Unterdrückung der Frauen in der Gesellschaft
Als Kind erlebte sexuelle Gewalt erzeugt eine Urangst, die Frauen unselbstständig, weniger mobil und generell vorsichtiger und zurückhaltender macht. Durch das Trauma werden ein Verlust von Selbstvertrauen und ein Verlust der Verbindung zur Erde erlitten. Dadurch kommt es im tatsächlichen wie auch im übertragenen Sinne zu einem schlechteren, unsichereren Stand und zu einer automatischen Unterwerfung gegenüber allem, was männlich und stärker scheint.
Die Körpersprache eines Opfers, einer Unterlegenen (schief gelegter Kopf, ständiges Lächeln „ich mein es ja nicht wirklich ernst, sei bitte nicht böse mit mir, bitte tu mir nichts,“) führt dazu, dass betroffene Frauen/ Mädchen generell wie rang-niedrigere Gruppenmitglieder behandelt werden.
Im Raum war nun tiefes Schweigen. Charlotte spürte plötzlich Unsicherheit in sich aufsteigen. Was nun? Sie hatte mit empörten Zwischenrufen gerechnet, mit harter Diskussion, eventuell sogar mit Verachtung. Aber was ihr nun entgegen flutete war tiefes Schweigen. Da saßen nun die Chefetagen eines weltweit führenden Konzerns und sagten einfach gar nichts mehr. Charlotte blickte noch einmal in die Runde und begann dann zögernd: „Nun, ich dachte wir könnten…..“ In diesem Moment kam ihr die Frau aus der letzten Reihe zu Hilfe: „Darf ich einen Vorschlag machen?“ Charlotte nickte dankbar. Die Frau war mit schnellen Schritten im Mittelgang nach vorne geschritten und blieb nun ungefähr in der Mitte des Raumes stehen: „Ich würde vorschlagen, wir bilden 5er Gruppen, um diese These zu diskutieren. Und jede Gruppe überlegt, ob sie diese These grundsätzlich annehmen oder ablehnen würde und begründet kurz warum.“ Damit schritt sie auf die ersten Reihen zu und gab kurz Anweisung, wie die Stühle so zu drehen sein, dass jeweils ungefähr fünf TeilnehmerInnen miteinander diskutieren konnten. Jetzt war der Raum vom Geräusch der scharrenden Stühle erfüllt, die Spannung war abgebaut und alle begannen wild durcheinander zu reden. Plötzlich stand Muehlin neben Charlotte und knurrte: „Ich wusste gar nicht, dass Kollegin Rottach mit ihnen diese Seminare organisiert.“ Bevor Charlotte antworten konnte, kam selbige Kollegin auf sie zugeeilt und rief: „Ach Muehlin, schau mal, da hinten sind nur vier in einer Gruppe, geh du doch bitte dorthin.“ Damit schob sie den etwas verdutzten Muehlin in die hintere Ecke und wandte sich dann Charlotte zu: „Rottach, Elisabeth Rottach. Freut mich sehr sie endlich kennenzulernen, Frau Lesab.“ Charlotte lachte: „Na und wie es mich erst freut. Ich habe zwar keine Ahnung, wer sie sind, aber sie haben mich gerettet.“ „Och,“ meinte Elisabeth Rottach, „das hätten sie schon noch hinbekommen. Aber freut mich, wenn ich helfen konnte. Das Seminar war soweit klasse. Super Texte. Haben sie die selber entwickelt?“ Charlotte konnte gerade noch nicken, da war Kollegin Rottach schon wieder davon gerauscht, um bei einer Gruppe mitzudiskutieren. Charlotte ergriff die Gelegenheit und baute vorne einige Flipcharts auf. Als nach einer halben Stunde die ersten Gruppen weniger intensiv diskutierten, forderte sie sie auf, nach vorne zu kommen und stichwortartig auf den Flipcharts zu formulieren, warum sie die These ablehnen oder annehmen. Zum Schluss hatten von den ca. 20 Gruppen immerhin 16 etwas auf das Flipchart geschrieben. Fünf Gruppen hatten die These mit den Argumenten „zu pauschal, viel zu weit hergeholt, nicht logisch, nicht nachvollziehbar“ schlicht weg abgelehnt. Sieben Gruppen hatten tatsächlich die These angenommen, wobei zu Charlottes Überraschung Begründungen wie „erscheint sehr logisch; erklärt sehr vieles; gewagte These, aber lohnt zu überprüfen; macht Sinn.“ aufgeführt wurden. Die restlichen Gruppen hatten ein „unentschieden“, „vielleicht“, oder „sind nicht sicher“ aufgeschrieben. Charlotte griff die These und Stichworte der Erläuterungen nochmal kurz auf, und beendete dann das Seminar, indem sie sagte: „Damit möchte ich allen herzlichen danken, so aktiv mitgewirkt zu haben. Es geht nicht darum, wer Recht hat oder welche Meinung sich durchsetzt. In diesem Seminar geht es einzig und allein darum, über das Thema zu sprechen, es damit zu enttabuisieren und sich vielleicht im Laufe der Seminarreihe eine eigene Meinung zu bilden.“ Sie bekam sogar etwas Applaus, allerdings lehrte sich der Saal dann auffällig schnell, auch der Vorstand war sehr schnell verschwunden. Während Charlotte ihre Sachen zusammen packte, überlegte sie, ob sie vom Vorstand wohl noch einmal Rückmeldung bekommen würde. Wahrscheinlich müssten wohl alle erst einmal darüber nachdenken. Da stand plötzlich wieder Elisabeth Rottach neben ihr: „Das haben sie super gemacht, Frau Lesab. Alle Achtung. So ein schwieriges Thema. Und unser Vorstand benimmt sich ja mal wieder völlig daneben. Erst lädt er ihnen ein so schwieriges Thema auf und dann macht er sich nach dem Seminar sang und klanglos aus dem Staub.“ Sie schnaubte empört. „Typisch. Ich hatte mich dagegen ausgesprochen, dass sie dieses Seminar halten sollten, ich fand es müsse jemand von extern machen. Aber das haben sie wirklich super hingekriegt, ich denke das hätte man gar nicht besser machen können.“ Charlotte schaute sie fragend an: „Wer …? Wo arbeiten sie denn?“ Elisabeth Rottach lachte: „Ich bin die Chefin des Betriebsrats mit Sitz in Frankfurt. Ich bin erst vor zwei Wochen von einem halbjährigen Auslandsaufenthalt in den USA zurückgekommen, deswegen haben wir uns bisher noch nicht getroffen. Ich war schon sehr neugierig auf sie! So, und nun muss ich los. Wenn sie Unterstützung brauchen, vor, nach oder während der Seminare, oder auch sonst, lassen sie es mich wissen!“ Charlotte bedankte sich und räumte endgültig ihre Sachen zusammen.
Die nächsten Tage verliefen ereignislos. Da im Wesentlichen die Chefetagen zum Seminar eingeladen waren, hatten Charlottes direkte KollegInnen nicht am Seminar teilgenommen. Charlotte berichtete ihren KollegInnen natürlich über das Seminar, aber der Vorstand hüllte sich weiter in Schweigen und bisher bekam sie keine Rückmeldung, ob das Seminar für gut oder für schlecht befunden wurde. Sie freute sich schon Tage vorher auf das Wintersonnenwendritual. Für sie war Weihnachten mit vielen schwierigen, schmerzhaften oder zumindest unklaren Gefühlen aus ihrer Kindheit verbunden. Sie wusste, das ging sehr vielen Menschen so und umso mehr freute sie sich darauf, mit gleichgesinnten Frauen in dieser dunklen Zeit ein Fest der Liebe und des Lichts zu feiern. Als am 21. Dezember die Frauen der Jahreskreisgruppe die Wintersonnenwende feierten, nahm sie dankbar und konzentriert an dem Fest teil. Sie genoss die warme Atmosphäre unter den vielen Frauen, und fühlte sich zum ersten Mal seit Wochen wieder im Gleichklang mit sich selber. Als sie an die Reihe kam, ihre drei Lichter anzuzünden, kamen die drei guten Wünsche wie von selbst. Das Licht für einen Platz auf der Erde, der Heilung brauchte, widmete sie den Ozeanen, die geschunden, misshandelt, verdreckt und verschmutzt wurden. Das Licht für einen anderen Menschen, der Zuwendung und Heilung braucht, zündete sie für Thomas an. Und dann kam das Licht, dass sie sich selber spenden würde. Sie zögerte, wusste nicht was sagen. Welches Licht konnte sie in sich anzünden? Automatisch führten die Hände die Bewegungen aus und als der Docht der kleinen Kerze aufflammte, hörte sie sich sagen: „Für mein inneres Kind. Ich wünsche dir Heilung. Ich wünsche dir warme Gefühle, Freude und Liebe im Leben.“ Plötzlich standen ihr Tränen in den Augen. Die Frauen schwiegen. Schweigende Zeuginnen. Barbara leitete das Ritual und nun fragte sie: „Und wie willst du ihr dabei helfen? Wie sie unterstützen?“ Charlotte blickte verwirrt auf. Sie zuckte die Schultern, schluckte. Dann starrte sie auf die kleine Kerzenflamme. Ja, wie? Was konnte sie tun? Plötzlich wusste sie es: „Ich werde aufschreiben, was ich erinnere. Ich werde aufschreiben, an was ich mich aus meiner Kindheit erinnere!“ Barbara nickte, ja, das schien richtig. Und plötzlich wusste Charlotte, es hatte nicht genügt, den Traum von Sarah aufzuschreiben, sie musste auch ihre eigenen wirren und zum Teil schmerzhaften Erinnerungen sortieren.
Über die Weihnachtsfeiertage setzte sie sich dann hin und schrieb alles auf, was ihr zu ihrer Kindheit einfiel. Sortierte und schrieb. Sie schrieb in der dritten Person, so schaffte sie es, beim Schreiben nicht von Trauer, Schmerz, Wut und Verzweiflung überrollt zu werden. Zwischendurch ging sie spazieren, traf sich mit Freundinnen zum Essen oder gemeinsamen Kochen, zum Tee trinken und Gebäck essen. Plötzlich störte sie die Dunkelheit nicht mehr. Und als Silvester kam, hatte sie einiges zusammengesammelt. Sie las es noch einmal im Zusammenhang, vielleicht konnte sie jetzt etwas von dem Schmerz hinter sich lassen. Das wäre ein guter Abschluss für das Jahr.