Читать книгу Brauseflocken - totes Kind, liebes Kind - Cristina Fabry - Страница 10

Donnerstag, 26. Mai 2016

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Kriminalhauptkommissar Stefan Keller und seine Kollegin Sabine Kerkenbrock fuhren durch das lang gezogene Dorf Holzhausen II.

„Hoffentlich hat dieser Totengräber Informationen für uns.“, knurrte Keller, „sonst müssen wir einen ganzen Haufen Kinder befragen, dabei fühle ich mich immer wie ein perverser Triebtäter.“

„Das ist vermutlich die dunkle Seite, die in Ihnen schlummert.“, mutmaßte Kerkenbrock.

„Hören Sie auf, so eine Scheiße zu verzapfen!“, blaffte Keller sie an. „Kinder solchen traumatisierenden Situationen auszusetzen, ist nicht witzig. Da kann man noch so harmlose Fragen stellen, die merken trotzdem, dass sie gerade Teil eines realen Horrorfilms sind. Und ihre Eltern würden uns am liebsten dafür schlachten.“

„Dafür, dass wir verhindern, dass ihren Kindern das Gleiche passiert wie Sören und Nele?“

„So weit denken die nicht. Wenn es um ihre Brut geht, reagieren Eltern meist Instinkt-gesteuert und ansonsten ziemlich hirnlos.“

„Na gut“, lenkte Kerkenbrock ein, „da haben Sie mir persönliche Erfahrungen voraus. - Warten Sie, ich glaube, da vorne ist es.“

Keller ging in die Eisen. „Was ist das denn für eine abgerissene Kate?“, fragte er. „Ich glaube, ich will diese Ruine lieber nicht betreten, die kracht bestimmt jeden Moment zusammen.“

„Ach stellen Sie sich nicht so an!“, wies Kerkenbrock ihn zurecht. „Wenn Sie sich wirklich vor einem Einsturz fürchten, sprechen Sie ein kurzes Gebet und legen sich ein bisschen Gottvertrauen zu, das wirkt wie ein Schutzzauber.“

„Haben Sie Ihre Tage oder wie kommt es zu dieser regressiven Episode? Sie klingen wie eine Zwölfjährige oder wie eine wirre Esoterikerin im Klimakterium.“

„Ja ja“, erwiderte Kerkenbrock lässig. „Große Klappe, aber die Hosen voll im Angesicht eines alten Bauernhauses. Wenn Sie ernst genommen werden wollen, sollten Sie einfach Ihren Job machen und sich nicht aufführen wie eine Schreibtisch-Muschi.“

Diese Unterstellung konnte Keller nicht auf sich sitzen lassen. Er parkte den Wagen auf dem Hof, stieg aus und schlug energisch die Fahrertür zu. Diese junge Kollegin war ein dreistes, kleines Biest. Klug, professionell, aber auch ziemlich kackfrech.

Das offensichtlich baufällige, ehemalige Heuerlingshaus befand sich noch weitestgehend im Originalzustand. Neben dem hölzernen Dielentor befand sich ein schmutziger Klingelknopf, neben dem undeutlich der Name „Friebe“ gekritzelt war. Eine schrille Schelle ertönte, als Keller den Knopf drückte, der leicht klemmte. Nach einer gefühlten Ewigkeit hörte man Schritte und die Tür wurde geöffnet. Vor ihnen stand ein vom Scheitel bis zur Sohle ungepflegter, junger Mann. Der längst heraus gewachsene Kurzhaarschnitt seines aschblonden Haares hing strähnig herunter, das Weiße in seinen grauen Augen war rot geädert, er war unrasiert und trug ein verwaschenes, fadenscheiniges Sweatshirt zu einer verbeulten, fleckigen Jogginghose. Seine nackten Füße steckten in löchrigen Kord-Pantoffeln und er roch nach altem Schweiß, Zigaretten und Inkontinenz.

„Klaus-Dieter Friebe?“, fragte Keller.

„Das bin ich.“, antwortete der junge Mann. Die Polizisten stellten sich vor, wiesen sich aus und erklärten den Anlass ihres Besuchs. Klaus-Dieter Friebe bat sie herein und führte sie in sein Wohnzimmer, das möbliert war mit einem abgetretenen Teppich, einem 70er-Jahre-Couchtisch, einem durchgesessenen, abgewetzten Sofa, zwei alten Sesseln und einem relativ neuen Schrank aus dem Möbeldiscounter. Der Fernseher stand auf einem abgenutzten Rauchtisch und auf der Fensterbank vegetierten kaktusartige Topfpflanzen vor sich hin. Es roch nach Bier und kaltem Rauch. Keller und Kerkenbrock setzten sich auf die Sessel, Friebe ließ sich auf die Couch fallen.

„Von wann bis wann waren Sie gestern auf dem Friedhof in Nordhemmern?“, fragte Keller.

Friebe zuckte mit den Schultern: „Das weiß ich nicht so genau. Ich hatte keine Uhr dabei.“

„Rechnen Sie denn nicht stundenweise ab?“, fragte Kerkenbrock.

„Nee. Ich mache auf den Friedhöfen in Nordhemmern, Holzhausen, Südhemmern und Hartum die Gräber, je nachdem, was so anfällt. Wenn keiner gestorben ist, kriege ich Aufträge, so Sachen wie Hecke schneiden in Nordhemmern, Laub harken in Südhemmern, Rosen gießen in Hartum oder Tor streichen in Holzhausen, was gerade so anfällt. Die meisten Arbeiten machen die Gemeindegärtner.“

„Was genau taten Sie denn gestern?“, fragte Keller.

„Ich habe in Nordhemmern das Grab ausgehoben, dann Mittag gemacht und nachmittags musste ich in Holzhausen ein Rosenbeet jäten.“

„Und vormittags haben Sie nur das Grab ausgehoben?“, erkundigte sich Kerkenbrock.

„Ja, klar. So was dauert zwei, drei Stunden.“

„Wann sind Sie denn gestern Morgen aus dem Haus gegangen?“

„Keine Ahnung.“

„Wann sind Sie denn aufgestanden?“

„Es war zehn, viertel nach zehn, glaube ich.“

„Und was haben Sie zwischen dem Aufstehen und dem Verlassen des Hauses getan?“

Friebe begann, nervös zu werden. Ihn überkam eine Ahnung, dass dies hier nicht gut für ihn ausgehen würde. „Wieso? Was soll ich denn gemacht haben?“

„Na, haben Sie geduscht, Zeitung gelesen, Brötchen geholt?“

„Nee.“

„Was denn dann?“

„Kaffee gekocht, mich angezogen, gefrühstückt und dann los.“

„Also vermutlich gegen 10.45 Uhr?“

„Kann sein.“

„Und dann sind Sie auf direktem Wege nach Nordhemmern gefahren?“

„Ja.“

„Mit dem Auto?“

„Ja.“

„Und dann?“

„Dann bin ich mit Spaten und Schüppe zu der Grabstelle und hab' das Loch gegraben.“

„Ist Ihnen während Ihrer Zeit auf dem Friedhof irgendetwas Merkwürdiges aufgefallen?“

„Nö.“

„Haben Sie denn die spielenden Kinder bemerkt?“, fragte Keller.

„Nö.“

„Spielen denn manchmal Kinder auf dem Friedhof?“, fragte Kerkenbrock.

„Ja, klar.“, antwortete Friebe. „Die sollen das zwar nicht, aber da steht auch kein Verbotsschild.“

„Warum sollen die Kinder nicht auf dem Friedhof spielen?“

„Weil die immer so 'n Krach machen, das stört die Trauernden. Und mir geht das Gekreische auch auf die Nerven. Stört mich bei der Arbeit.“

„Ihnen entgeht also nicht, wenn Kinder auf dem Friedhof sind?“, fragte Keller.

„Nein, nie.“

„Wie erklären Sie sich dann, dass Ihnen die Kinder, die gegen 13.00 Uhr den Friedhof aufsuchten und dort zwischen 13.30 Uhr und 14.30 Uhr getötet wurden, gar nicht aufgefallen sind, obwohl sie doch gemäß Ihrer eigenen Angaben zwischen 11.00 und 14.00 Uhr auf dem Friedhof waren. Eine Stunde Überschneidung, da hätten Sie die kleinen Quälgeister doch hören müssen.“

Friebe war nun offensichtlich furchtbar aufgeregt. Er wurde laut, als er antwortete: „Ich habe echt keine Kinder gehört. Manchmal verstecken die sich auch und sind ganz leise. Außerdem hatte ich meinen Discman auf.“

„Ihren was?“

„Den Discman. Das ist so 'n altmodischer, kleiner CD-Player mit Kopfhörer. Hat mir 'n Kumpel geschenkt, als er sich 'n I-Pod gekauft hat. So 'n I-Pod kann ich mir nicht leisten.“

„Was für Musik hören Sie denn so?“, fragte Kerkenbrock freundlich interessiert.

„Metall, ACϟDC und so.“

„Wahrscheinlich ziemlich laut.“

„Ja klar, sonst bringt das ja nichts. Und mit Musik kann ich besser arbeiten. Hab' ich irgendwie mehr Power.“

„Trotzdem will es nicht in meinen Kopf, dass Sie so gar nichts bemerkt haben.“, erklärte Keller. „Wenn Sie niemanden auf dem Friedhof bemerkt haben, bleiben ja nur Sie als Täter übrig.“

„Ich stand in der Grube!“, rief Friebe. „Da seh' ich doch nichts!“

„Herr Friebe, Sie begleiten uns jetzt mal zur Kreispolizeistelle nach Minden, da werden Sie erkennungsdienstlich behandelt und noch einmal einer gründlichen Befragung unterzogen. Wenn Sie unschuldig sind, wird man das dort sicher feststellen und Sie können wieder nach Hause. Packen Sie aber vorsichtshalber etwas zum Waschen, einen Schlafanzug und Kleidung zum Wechseln ein.“

„Aber ich habe doch nichts gemacht!“

Nicole Tütermann, geborene Reinkensmeier sah auf die große Uhr in der Küche ihrer Eltern. Noch eine halbe Stunde, Zeit, den ersten Kaffee zu kochen. Sie hätte ihre ehemaligen Mitschülerinnen auch zu sich nach Hause einladen können, aber der Garten war zurzeit eine Baustelle, weil gerade die Terrasse neu gepflastert wurde und gegen den Dreck, den ihr Mann dabei ins Haus trug, konnte sie nicht an putzen. Darum hatte sie ihre Eltern gebeten, Terrasse, Wohnzimmer und Küche für das heutige Ereignis zur Verfügung zu stellen. Außerdem hatte es doch etwas Nostalgisches, im Elternhaus einer der PANIC-Girls zu feiern. Am meisten freute sie sich auf Cornelia, die hatte sie schon seit zwei Jahren nicht mehr gesehen, nur ab und zu mal telefoniert. Berlin war einfach zu weit weg, um sich regelmäßig gegenseitig zu besuchen. Trotzdem würde ihnen sicher nicht der Gesprächsstoff ausgehen, denn seit zwei Jahren hatte Nicole wieder regelmäßig ein Theater-Abo, so dass sie mit Cornelia über moderne und traditionelle Inszenierungen fachsimpeln konnte, denn sie arbeitete ja seit vielen Jahren als Schauspielerin an einer Berliner Bühne. Als Nicole vor zwei Jahren mit ihrem Mann eine Woche in Berlin verbracht hatte – die Großeltern hatten die Kinder versorgt – hatten sie eine von Cornelias Aufführungen besucht und waren hinterher zusammen etwas trinken gegangen. Vor der Abreise hatten sie noch auf einen Kaffee bei der Mimin zu Hause vorbei geschaut, und Nicole hatte das Gefühl gehabt, dass etwas vom mondänen Großstadtambiente auf sie abfärbte. Ihre alte Freundin bewohnte mit ihrer Familie eine geräumige Altbauwohnung im Prenzlauer Berg und war ebenso stilvoll wie unkonventionell eingerichtet, so dass Nicole aus dem Staunen gar nicht mehr heraus gekommen war und einige Anregungen für ihr eigenes Zuhause mitgenommen hatte: schrille Geschenktüten als Tischlaternen, eine alte Stehleiter als Blumenbank und Bilderrahmen aus Bauschaum, mit Goldlack eingesprüht. Cornelia hatte erzählt, dass sie sich auf eine Gastrolle an einem Boulevard-Theater beworben hatte, um einfach mal etwas mehr Geld zu verdienen und zwar als Sprechstundenhilfe. Sie würde auf Nicole zukommen, um sich im Zuge der Vorbereitung auf ihre Rolle einmal umfassend mit ihr auszutauschen. Aber dann hatte sie sich nicht mehr gemeldet – entweder war ihre Bewerbung fehlgeschlagen oder sie hatte eine andere Sprechstundenhilfe gefunden. Vielleicht war eine Arzthelferin in einer ländlichen Praxis auch einfach zu speziell. Sie würde heute Nachmittag auf jeden Fall nachhaken.

Nicole schob die tiefgekühlten Windbeutel in die vorgeheizte Backröhre und erinnerte sich, wie gern Petra als Kind Windbeutel gegessen hatte, aber die ganz großen, die es bei Hüttemanns zu kaufen gab und wo man beim Reinbeißen einen ausgerenkten Kiefer riskierte und die Sahne rechts und links heraus quoll und herunter kleckerte. Da waren die süßen kleinen Tiefkühlbällchen doch weitaus ästhetischer und kultivierter. Mit Petra war Nicole bis heute nicht recht warm geworden. Als Kinder waren sie so gut wie nie zu zweit verabredet gewesen, als Jugendliche hatte Petra sie oft mit Geringschätzung behandelt, und als sie wegzog, hatten sie sich aus den Augen verloren. Trotzdem mochte sie die ehemalige Mitschülerin, die nie ein Blatt vor den Mund nahm und kein bisschen eingebildet war. Darüber hinaus fühlte Nicole sich in ihrer Gegenwart überlegen: Sie hatte Familie, Petra war allein geblieben, sie war schlank und einigermaßen trainiert, Petra war wieder so unförmig wie in ihrer Kindheit, sie hatte Freude an ihrem Beruf, Petra war arbeitslos.

Sie füllte ein Tablett mit Geschirr und trug es auf die Terrasse. Sie erinnerte sich, als wäre es gestern gewesen, wie sie an einem lauen Sommerabend mit Angela diese leckere Bowle aus O-Saft, Sekt, Vanilleeis und Wodka gemixt hatte und sie sich auf der Terrasse damit betrunken und gefachsimpelt hatten, welche Jungen in ihrer Jahrgangsstufe attraktiv, welche akzeptabel und welche zu vernachlässigen waren. Es war ein lustiger Abend gewesen, obwohl Angela sonst eher langweilig war und sie regelrecht unterforderte. Aber sie war immer mit allem einverstanden, man hatte keinen Ärger mit ihr und wurde auch nicht hintergangen. Außerdem war Angela nicht aus Nordhemmern heraus gekommen, darum hatte sie zu ihr den regelmäßigsten Kontakt.

Beim Gedanken an Iris überkamen sie gemischte Gefühle. Mit ihren oft zynischen Bemerkungen verbreitete sie schnell schlechte Laune. Sie hielt sich offensichtlich für etwas Besseres, dabei hatte sie es auch nur zur schlecht bezahlten Museumspädagogin gebracht und war auch nicht weiter als bis Melle gekommen. Sie gebärdete sich als extravagant und war doch nichts als Durchschnitt. Damals in der Oberstufe hatte sie immer wieder, wenn auch erfolglos, versucht, Cornelia gegen Nicole aufzubringen, hatte hinter Nicoles Rücken über sie gelästert, dabei aber immer scheißfreundlich getan und jede Party mitgenommen, zu der Nicole sie eingeladen hatte. Andererseits war es Nicole eine Herzensangelegenheit, Iris heute zu empfangen, um ihr zu zeigen, dass sie es geschafft hatte, sowohl beruflich als auch privat, dass sie ihr im Hinblick auf kulturelle Bildung in nichts nachstand, dass sie den weitaus besseren Draht zu der interessanten Cornelia hatte und vor allem, um hoffentlich zu entdecken, dass Iris schon schneller gealtert und degeneriert war als sie selbst. Voller Groll erinnerte sie sich daran, wie Iris sie auf den Friedhof geschleift und genötigt hatte, die ekligen Wildkirschen zu essen, von denen ihr so schlecht geworden war. Auf dem Friedhof spielen, man hatte ja gesehen, wohin so etwas führen konnte. Sören und Nele wären auch besser zu Hause geblieben, statt die Friedhofsruhe zu stören, dann würden sie heute noch leben. „Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um.“, dachte Nicole voller Genugtuung. Sie ging in die Küche, um den Kaffee in eine Thermoskanne zu füllen und neuen aufzusetzen, da klingelte es pünktlich um 15.00 Uhr an der Haustür. Aufgeregt eilte Nicole über den Flur und konnte nur mit Mühe ihre Enttäuschung verbergen, als Angela dort stand.

„Komm rein, du bist die Erste.“, flötete sie mit aufgesetzter Fröhlichkeit. Angela hatte eine Landfrauen-verdächtige Sahnetorte gezaubert mit verschiedenen Böden und Cremes und mit halben Kiwi-Scheiben garniert.

„Super!“, lobte Nicole sie. „Jetzt haben wir wenigstens eine richtige Torte, wer weiß, was für einen Dinkel-Vollkorn-Beton Iris wieder anschleppt. Und ich hatte einfach keinen Bock zu backen, ich hab' nur Windbeutel aufgetaut, aber die werden ja auch immer gern gegessen.“

„Für fünf Leute wird das wohl gerade so reichen.“, bemerkte Angela schmunzelnd.

„Ja, reichen wird das allemal.“, erwiderte Nicole. „Aber man will ja auch ein bisschen Vielfalt auf der Kaffeetafel haben. Setz dich doch schon mal auf die Terrasse, ich muss nur noch Kaffee und so raus tragen.“

„Ich muss aber noch die Torte schneiden. Hast du 'n Messer und heißes Wasser für mich?“

Die beiden verschwanden in der Küche, und während Angela ihr konditorisches Wunder zerteilte, stellte Nicole alles zusammen, was auf dem Terrassentisch noch fehlte. Der Tisch war gerade perfekt gedeckt, da klingelte es erneut und Nicole, erleichtert, dass sie nicht länger mit der langweiligen Angela allen sein musste, eilte zur Haustür, Diesmal war Petra angekommen und streckte Nicole zwei Flaschen Erdbeersekt entgegen: „Hier, leg die schon mal kalt, damit wir nach Kaffee und Kuchen anständig anstoßen können.“

„Gibt's was Neues?“, fragte Nicole mit gespieltem Wohlwollen.

„Nee.“, antwortete Petra. „Auf die alten Zeiten, dacht' ich.“

„Bestimmt hat sie dieses Zeug in den letzten Jahren ein bisschen zu oft getrunken.“, dachte Nicole. „Es muss ja irgendeinen Grund geben, warum sie sie gefeuert haben.“

Petra hatte es sich gerade in einem der komfortablen Gartenstühle gemütlich gemacht und Angela ein paar höfliche Fragen über ihren Job als Zahntechnikerin gestellt, da tauchte Cornelia wie aus dem Nichts auf. Sie hatte nicht geklingelt, sondern war einfach ums Haus herum gelaufen.

„Hi Conni!“, rief Nicole begeistert. „Du bist die Erste, die sich getraut hat, einfach 'rum zu kommen. Man merkt doch gleich, wer hier früher öfter ein- und ausgegangen ist.“

Cornelia sah sie verständnislos an und ging in keinster Weise auf die Bemerkung ein. Stattdessen sagte sie: „Hallo zusammen!“, dann ging sie als erstes auf Nicole zu. „Hier ein paar besondere Pralinen für die Gastgeberin, und weil ich ja keinen Kuchen backen sollte, hab' ich einfach zur Verdauung 'n Himbeergeist mitgebracht, aus der Privatbrennerei von Uwes Eltern, der ist total lecker.“

Sie begrüßte die anderen beiden und warf dann einen Blick auf Angelas Torte: „Kiwi-Barrakuda-Buttercreme?“, fragte sie in Anspielung auf das Komiker-Duo Wischmeyer und Bulthaup als Frieda und Anneliese und begann, fröhlich zu glucksen.

Etwas verlegen erklärte Angela: „Das Rezept hab' ich aus so 'ner Tortenzeitung, die ich beim Einkaufen eingesteckt hab'. Ich fand die ganz gut und das ist mal was Anderes als immer nur Obstboden, Philadelphia oder Mokkatorte.“

„Na, da bin ich ja mal gespannt.“, sagte Petra und grinste.

„Ein Kuchen steht noch aus.“, sagte Nicole. „Iris fehlt noch, die schafft es auch nie pünktlich.“

„Jetzt hab' dich mal nicht so.“, wies Petra sie zurecht. „Mit Onkel Karl-Heinz, das ist ja noch nicht so lange her, und der hätte gestern Geburtstag gehabt. Ist doch egal, wenn sie 'n bisschen später kommt.“

„Sind die pissgelben Rosen immer noch nicht eingegangen?“, fragte Cornelia mit einem versonnenen Blick ans andere Ende des Gartens. Petra unterdrückte angestrengt einen Lachkrampf, während Nicole und Angela Cornelia verständnislos anstarrten. Als Teenager hatten Cornelia und Petra einmal in einer Nacht- und Nebelaktion Mehl auf die gelben, englischen Teerosen gestäubt, die Annegret Reinkensmeiers ganzer Stolz gewesen waren, um sie glauben zu machen, es handele sich um Mehltau. Die Anderen wussten aber nichts davon. Erst jetzt wurde Cornelia ihr Fauxpas bewusst und sie versuchte krampfhaft, sich wieder heraus zu winden, indem sie das Thema wechselte: „Kommt Iris eigentlich gar nicht?“, fragte sie.

Jetzt brach Petra in schallendes Gelächter aus. „Davon haben wir doch gerade gesprochen. Wo bist du eigentlich mit deinen Gedanken?“

„Ganz weit weg.“, sagte Cornelia und grinste.

Die erste Runde Kaffee war fast schon kalt, als Iris schließlich genauso um die Ecke bog wie Cornelia. „Tut mir leid, dass ich so spät komme.“, entschuldigte sie sich. „Aber ich musste noch die Beete in Simones Garten gießen und irgendwie hat das viel länger gedauert, als ich erwartet hatte. Dafür ist aber der Kuchen schon fertig geschnitten.“

„Kein Problem.“, sagte Nicole und sprang auf. „Ich hole schnell mal frischen Kaffee.“

„Hast du auch Tee?“, fragte Iris.

Nicole merkte, wie der erste Anflug von Ärger in ihr aufstieg. Das war typisch für Iris: Erst zu spät kommen, obwohl sie einen Kuchen zugesagt hatte und dann gleich irgendwelche Extravaganzen einfordern. „Tee?“, erwiderte Nicole, „muss ich mal gucken, was die da so haben. Was für einen willst du denn?“

„Schwarzen.“

Iris stellte ihre Kuchen auf den Tisch und setzte sich.

„Und?“, fragte Petra, „Bist du hier früher auch häufig ein- und ausgegangen?“

„Wieso?“, fragte Iris irritiert.

„Na, weil du dich getraut hast, direkt in den Garten zu gehen, statt an der Haustür zu klingeln.“

„Ich habe dreimal geklingelt, aber als keiner aufmachte, habe ich im Garten nachgesehen und da seid ihr ja nun.“

„Du musst unbedingt Angelas Kiwi-Torte probieren“, sagte Petra, „die ist superlecker.“

„Auf jeden Fall.“, erwiderte Iris, „aber von meiner Himbeer-Crostata müsst ihr auch alle mindestens ein Stück essen.“

„Ich hab' Himbeergeist mitgebracht!“, triumphierte Cornelia. „Das perfekte Dinner!“

„Klar.“, sagte Petra. „Und Nicoles Windbeutel spülen wir mit eiskaltem Erdbeersekt runter.“

„Erdbeersekt?!“, kreischte Cornelia amüsiert. „Ist das der Freundinnen-Alkopop für Frauen im Klimakterium?“

Als Nicole, die mit einer Jumbotasse schwarzen Tees, in dem noch der Portionsbeutel schwamm, zurückkehrte und die anderen Frauen ausgelassen lachend vorfand, blickte sie unsicher in die Runde.

„Wir diskutieren gerade, welchen Kuchen wir mit welchem Drink 'runterspülen.“, erklärte Iris und nahm den lieblos zubereiteten Tee sich höflich bedankend entgegen. Nachdem sie Angelas Kunstwerk begeistert gekostet hatte, pries sie ihren eigenen Kuchen an. Cornelia war auf Anhieb begeistert und so nahm Nicole trotz anfänglichen Zögerns doch noch ein Stück, bereute ihre Entscheidung dann aber zutiefst. Der Kuchen schmeckte wie er aussah: wie ein drei Stunden im Ranzen herum geschlepptes Himbeermarmeladenbrot.

Als die zweite Flasche Erdbeersekt geöffnet wurde, stellte Iris fest: „Oh, guck mal Nicole, ich glaube, auf deinen Discounter-Windbeuteln bleibst du sitzen. Könnt ihr die zur Not an die Kaninchen verfüttern?“

Niemand lachte, stattdessen herrschte betretenes Schweigen. Geschickt wechselte Cornelia das Thema: „Petra, was gibt’s Neues vom Arbeitsgericht?“

„Nichts. Das kann auch noch dauern. Aber so lange nichts entschieden ist, müssen die mich weiter bezahlen. Ich suche jetzt im Internet und in den Zeitungen, aber mit Initiativ-Bewerbungen halte ich mich noch zurück, da haben die vom Jobcenter mir von abgeraten.“

„Warum haben die dir überhaupt gekündigt?“, fragte Nicole spitz.

Petra sah betreten zu Boden und antwortete leise: „Ich bin denen zu dick.“

„Aber das haben die doch wohl so nicht gesagt?“, fragte Cornelia entrüstet.

„Doch.“, antwortete Petra. „Das haben die ganz genau so gesagt.“

„Na wenigstens bist du flexibel und kannst da hinziehen, wo dir ein Job angeboten wird.“, stellte Nicole fest. „Wenn du Familie hättest, wäre das nicht so einfach.“

Ohne Familie ist das auch nicht einfach.“, widersprach Iris. „Man muss alles allein organisieren, man hat kein zweites Gehalt, mit dem man den Verdienstausfall kompensieren kann und man wird genauso aus seiner gewohnten Umgebung mit guten Freunden und bewährten Freizeitmöglichkeiten heraus gerissen wie eine Familie, nur dass man dann niemanden dabei hat, der die veränderte Situation mit einem teilt.“

„Aber man muss nicht den Schulwechsel der Kinder organisieren und die auch noch trösten, weil die nicht umziehen wollen.“, verteidigte Nicole ihre Sicht.

„Das sind doch alles ungelegte Eier.“, beendete Petra die Diskussion. „Conni, erzähl doch mal, was du gerade für 'ne Rolle spielst.“

Cornelia wirkte überrumpelt. „Was willst du denn jetzt damit sagen?“, fragte sie.

„Na, du stehst doch sicher sechs Mal die Woche auf der Bühne und bestimmt nicht als Stehlampe.“

„Ach so. Ich dachte, du meinst, was für 'ne Rolle ich hier jetzt gerade spiele und dachte schon, was wird das denn für 'ne Psycho-Nummer? Also zurzeit bin ich Beatrice in 'Viel Lärm um nichts'.“

„Und die Sprechstundenhilfe?“, fragte Nicole.

„Welche Sprechstundenhilfe?“

„Na, als ich das letzte Mal bei dir in Berlin war, da hattest du doch vor, eine Sprechstundenhilfe zu spielen, da sollte ich dich doch beraten.“

„Ach so, das. Nee, daraus ist nichts geworden.“

„Schwester Conni unterweist Lady Macbeth in Händedesinfektion oder was für eine Nummer wäre das gewesen?“, scherzte Iris.

„Nein, nein.“, erklärte Cornelia. „Da hab' ich mich mal für ein Boulevard-Stück beworben, weil ich ein bisschen mehr Geld verdienen wollte. Hat aber nicht geklappt.“

„Und für so etwas hättest du deine coole Truppe aufgegeben, nur für den schnöden Mammon?“

„Nein, ich wollte das zusätzlich machen.“

„Und Leander?“

„Der war da doch schon vierzehn, und Uwe ist ja auch noch da.“

„Hat der Uwe nicht auch ein Kind?“, fragte Angela interessiert.

„Zwei.“, antwortete Cornelia. „Noah ist fünfzehn und lebt bei uns und Malù ist zwölf und lebt bei ihrer Mutter, kommt uns aber jedes zweite Wochenende besuchen. Wenn es gut läuft, sind seine Kinder am gleichen Wochenende bei seiner Frau, an dem Leander auch bei Antoine ist. Das klappt aber nicht immer.“

„Ich glaube, das wäre mir emotional alles zu anstrengend.“, erklärte Iris und verursachte damit zum zweiten Mal eine peinliche Stille.

„Ach ja.“, sagte Petra. „Wer hätte gedacht, dass die PANIC-Girls einmal so enden? Bei Kaffee, Sahnetorte und Erdbeersekt auf Reinkensmeiers Terrasse?“

„Ja genau“, seufzte Iris, „planlos, orientierungslos, arbeitslos, kinderlos und hirnlos.“

„Sollen wir jetzt raten wer wer ist?“, fragte Cornelia.

„Nee, war nur Spaß.“

„Oder meinst du, das trifft alles auf mich zu?“, fragte Petra.

„Ach Blödsinn!“, sagte Iris. „Ich hab' nur rausgeblasen, was mir gerade durch den Kopf schoss, zwei Sekt zu viel. Leg das nicht auf die Goldwaage. Früher wart ihr doch auch nicht so empfindlich, da habt ihr euch immer aufgeregt, weil Angela so leicht los geheult hat. Wisst ihr noch, wie wir 1978 auf Connis Geburtstag die PANIC-Girls gegründet haben?“

„Ach ja“, seufzte Cornelia, „unser erstes Jahr am Gymnasium. Das waren noch Zeiten.“

Brauseflocken - totes Kind, liebes Kind

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