Читать книгу Brauseflocken - totes Kind, liebes Kind - Cristina Fabry - Страница 7

1976

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Endlich hatten die großen Ferien begonnen. Das Zeugnis, das bestätigte, dass Angela in die vierte Klasse versetzt wurde und das vor guten Noten nur so strotzte, lag wie ein Schatz im Schulranzen verborgen. Angela ging eigentlich gern zur Schule und die ersten großen Ferien waren ihr endlos erschienen, denn in der Schule warteten viele, spannende Herausforderungen auf sie, während sie sich in ihrem anregungsarmen Elternhaus zu Tode langweilte. Daran änderte auch die Tatsache, dass sie einen zwei Jahre älteren Bruder und eine vier Jahre jüngere Schwester hatte, nichts. Martin spielte Handball und ging vollkommen im Sportverein auf, dessen Mitglieder sich regelmäßig in der Dorfschänke trafen, die Angelas Eltern mitten im Ortskern betrieben. Kirsten war noch zu klein, um einen langen Ferientag mit spannenden Spielen zu einem unvergesslichen Ereignis zu machen. Trotzdem freute sie sich auf die sechseinhalb Wochen, die vor ihr lagen: ein Kurzurlaub auf Langeoog war geplant und sie würde mit ihren Freundinnen durch die Felder streifen, tonnenweise Speiseeis verschlingen, Rollschuh laufen und Buden im Wald bauen.

Am Nachmittag fuhr sie mit ihrer Mutter und den Geschwistern nach Minden, weil alle drei neue Badekleidung und weitere Sommersachen brauchten. Sie hatte keine rechte Lust, denn ihre Mutter kaufte ihr nie die Kleidung, die ihr gefiel und die auch alle anderen Mädchen aktuell trugen, sondern das, was sie als Mutter für praktisch, von akzeptabler Qualität und als angemessenes Preis-Leistungsverhältnis einordnete. Umso glücklicher war Angela, dass die Mutter ihr diesmal ein geblümtes Baumwoll-Jersey-Kleid mit aktuellem Neckholder und tiefem Rückenausschnitt gönnte; das hatte sie sich schon länger gewünscht und kaum darauf zu hoffen gewagt.

Wieder zu Hause zog sie das Kleid gleich an und lief schnurstracks in die Kneipe, um ihrem Vater die Errungenschaft stolz vorzuführen. Der lächelte amüsiert, als sie sich vor ihm drehte, war aber weder an dem Kleid noch an seiner Tochter ernsthaft interessiert, ganz im Gegensatz zu einem triefäugigen, alkoholisierten Stammgast, der das kleine Mädchen mit ludenhaftem Kennerblick betrachtete: „Da kriegste aber 'n schönen braunen Rücken von, Geli.“, lallte er. „Soll ich dich mal einschmieren, damit du dir keinen Sonnenbrand einfängst?“

„Nee“, sagte Angela. „Ich zieh das ja gleich wieder aus. Mama will das erst noch waschen.“

„Na, wenn du dich gleich ausziehst, muss ich dich ja erst recht eincremen.“, lallte der Betrunkene und lachte dreckig. Dann fasste er das kleine Mädchen hart am Oberarm, zog sie an sich heran und beugte sich zu ihr herunter, um ihr einen Kuss zu geben. Sie roch schon den stinkenden Atem, in dem Bier, Korn, Zigarettenrauch und kranke Magensäfte sich mischten, als ihr Vater eingriff.

„Nu lass die Geli mal los, Friedhelm.“, sagte er ruhig. „Sonst machste ihr das schöne neue Kleid dreckig.“

„Wieso?“, blaffte Friedhelm den Wirt an, ließ die Kleine aber los. „Ich bin doch gewaschen, warum soll ich ihr denn das Kleid dreckig machen?“

Angela verließ fluchtartig die Kneipe.

„Was rennst du denn wie von der Tarantel gestochen?“, fragte ihre Mutter, als sie in die Küche kam.

„Rattemeiers Onkel Friedhelm wollte mich küssen.“

„Und? Hat er?“

„Nee, Papa hat gesagt, er soll mich loslassen und da bin ich weggelaufen.“

„Aber du warst doch nicht unhöflich zu Onkel Friedhelm?“

„Nein, wieso? Ich hab' gar nichts gesagt.“

„Du musst immer nett zu unseren Gästen sein. Wenn du nicht nett zu denen bist, dann kommen die nicht mehr und dann verdienen wir kein Geld mehr.“

„Aber der stinkt so.“

„Ach, nun stell dich nicht so an. Männer riechen halt 'n bisschen streng. Sei froh, wenn dich einer anguckt. Nimmt nicht jeder 'n Mädchen mit so strohigen Haaren. Woher du das bloß hast? Von meiner Seite jedenfalls nicht.“

Angelas Magen zog sich zusammen und sie floh in ihr Kinderzimmer zu ihren Barbiepuppen. Nachdem sie sich umgezogen und das neue Kleid in die Wäsche gestopft hatte, nähte sie mit viel zu großen Stichen aus einem alten Taschentuch ein Neckholderkleid für ihre Barbie Trixie und bald war der ekelerregende Übergriff vergessen. Sie bekam Hunger und Lust auf ihren Lieblingsnachmittagsimbiss: Haferflocken mit gesüßtem Kakaopulver, ohne Milch. Sie lief in die blitzsaubere Küche, die sie ganz für sich allein hatte, weil ihre Mutter im Garten das Gemüsebeet jätete, ihr Vater hinter dem Tresen stand, Kirsten ihrer Mutter um die Beine wuselte und Martin sich nach der Shopping-Tour direkt zu einem Freund verdrückt hatte.

Sie kramte im Küchenschrank und fand einfach kein Kakaopulver. Nur mit Zucker schmeckten die Haferflocken fade, da fehlte das besondere Aroma, die sanfte Vanillenote und die unterschwelligen Bitterstoffe der Kakaobohne. Wäre sie erwachsen gewesen, hätte sie es mit Vibrator-Sex als faden Ersatz für einen leidenschaftlichen Liebesakt verglichen. So nahm sie nur die Erwartung des nagenden Gefühls mangelnder Befriedigung zur Kenntnis. Zimt wäre eine Alternative gewesen, aber der war ebenfalls unauffindbar. Mit einer Mischung aus Ärger und Resignation schob sie die Hände in die Hosentaschen und fühlte, dass da etwas war. Sie zog es heraus: Es war ein Tütchen mit Brausepulver, Orangengeschmack. Vor ihrem geistigen Auge stand das Bild eines glutheißen Sommertages. Sie war barfuß, nur mit einem leichten Baumwollfähnchen bekleidet auf dem staubigen Parkplatz der Dorfmolkerei. Sie hielt einen wachsbeschichteten Pappbecher in der Hand, der wie ein flaches Tortenstück gefaltet war. Man musste gegen die Knickfalten drücken, dann hatte man einen spitzen Becher, in dem unten goldgelbes Brausepulver verheißungsvoll auf seine wahre Bestimmung wartete. Der Außenwasserhahn des Molkereigebäudes war direkt neben ihr, er hatte die Form eines Flügelwesens. Sie drehte ihn auf und ließ das kühle, klare Wasser in den Becher strömen. Die Brause schäumte auf, bildete eine Krone, die sich sofort wieder zersetzte und den Blick auf eine goldgelbe Flüssigkeit preisgab. Wenn man den Becher an die Lippen führte, kitzelten einen winzige Spritzer der Natriumhydrogencarbonat-Explosionen in der Nase. Jetzt musste man schnell trinken. Der erste Schluck war eine Offenbarung: ein süß-saures Prickeln auf allen Mundschleimhäuten, aber schon den zweiten Schluck empfand sie als banal und der Rest war nur noch eklig süß und schmeckte nach Mangel und Ersatzbefriedigung. War es möglich, das Prickeln heraus zu zögern, indem man das magische Pulver mit einem gänzlich neuen Stoff verband? Mit Haferflocken? Sie füllte Flocken in das Dessertschälchen aus geschliffenem Glas. Nur zwei Esslöffel, damit das Kribbelpulver nicht vom staubigen Getreidegeschmack erstickt wurde. Sie mischte sorgfältig das orangefarbene Pulver unter und bewunderte das Farbenspiel. Dann probierte sie:...und war überwältigt! Ein neuer Seelentröster war geboren: Brauseflocken.

Am kommenden Tag wurde Angela – nachdem sie ausgiebig lange geschlafen hatte – von ihrer Mutter dazu verdonnert, bis zum Mittagessen frische Erbsen aus ihren Schoten zu befreien. Sie verarbeitete zwei Zehn-Liter-Eimer und ihre Finger färbten sich grün und schmerzten. Martin hatte sich wie selbstverständlich auf den Handballplatz verzogen, es war eine himmelschreiende Ungerechtigkeit. Nach dem Mittagessen entschloss sie sich, eine Spielkameradin aufzusuchen. Da der Weg zu Petra, die ebenfalls im Ortskern wohnte, wenn auch auf einem Bauernhof, der kürzeste war, erklärte sie ihrer Mutter, was sie vorhatte.

„Aber steh da nicht im Weg rum und halt' die Leute von der Arbeit ab!“, ermahnte sie die Mutter.

Petra war zu Hause und spielte mit dem Ball, als Angela auftauchte. „Um drei kommt Conni.“, sagte Petra. „Wir wollen im kleinen Wald 'ne Bude bauen.“

„Darf ich dann mit?“, fragte Angela.

„Klar.“, antwortete Petra. „Wieso nicht?“

Eine ganze Stunde lang beschäftigten sich die Mädchen damit, den Gummiball mit dem Fuß aufs Scheunendach zu schießen und anschließend wieder aufzufangen. Das gestaltete sich als echte Herausforderung, weil sich die Flugbahn des Balles durch den Aufprall auf den wellenförmigen Dachpfannen als höchst unberechenbar erwies. Nicht nur wegen stetiger Übung zeigte Petra sich bei diesem Spiel erheblich geschickter als Angela, denn Petra spielte im Ballsport alle an die Wand; sie traute sich etwas zu und weil sie dieses Selbstvertrauen auch nach außen ausstrahlte, schätzten ihre Mitspieler sie ebenfalls als besonders kompetent ein. Diese positive Wechselwirkung machte aus ihr eine traumwandlerische Balltänzerin, die vor allem die Jungen um ihr Talent beneideten. Bei Angela funktionierte die Dynamik in die entgegengesetzte Richtung: Sie hatte Angst vor dem Ball, konnte Geschwindigkeiten und Entfernungen schwer einschätzen und reagierte oft verzögert, so dass gemeine Lacher und abwertende Bemerkungen ihre Unsicherheit steigerten und damit auch ihre Ungeschicklichkeit verstärkten. Petra dagegen enthielt sich solcherlei Demütigungen, freute sich zwar an ihrer Überlegenheit, die ihr aber eher eine stoische Ruhe verlieh, denn ein schadenfrohes Zerfetzen des Selbstwertgefühls anderer Kinder. Sie machte harmlose Witze, die Angela nicht verletzten, wenn sie sich ungeschickt anstellte, ermutigte sie, es erneut zu versuchen und lobte gönnerhaft ihre gelegentlichen Glücksgriffe.

Pünktlich um 15.00 Uhr erschien Cornelia im dezenten, fast gerade geschnittenen, lindgrünen Blümchenkleid, mit schmalen Schleifenbändchen als Träger, dessen Farbe perfekt mit ihren feuerroten Locken und den smaragdgrünen Augen harmonierte.

„Ich will aber auf keinen Fall Ball spielen!“, stellte sie anstelle einer Begrüßung umgehend klar, in einem Ton, der keinerlei Widerspruch duldete. Cornelia war trotz ihres gesunden Selbstwertgefühls eine Verächterin von Ballspielen, weil auch sie mit verzögerten Reflexen zu kämpfen hatte. Wenn allerdings auf einem Kindergeburtstag die Mehrheit sich für Fang- und Wurfspiele entschied, ließ ihr ausgeprägter Ehrgeiz sie zu Höchstform auflaufen, so dass sie nie durch desaströses Versagen unangenehm auffiel.

„Nee, nee.“, beruhigte Petra sie. „Wir hatten ja gesagt, dass wir im kleinen Wald spielen.“

„Kommst du auch mit?“, wandte Cornelia sich freundlich an Angela. Die nickte stumm. Dann begann Cornelia plötzlich zu kichern: „Wir müssen nur aufpassen, dass Imke uns nicht sieht. Sonst will die noch mitmachen und wir müssen wieder die ganze Zeit blöde Liebesfilme nachspielen, wo sie die schöne Dame ist und wir die knackigen Männer.“

„Bloß nicht!“, stöhnte Petra. „Lass uns einfach zur Kreuzung gehen bis zu Schneider-Niemanns und dann in die Buchhorst. Dann merkt sie vielleicht nichts.“

„Und wenn doch“, überlegte Cornelia, „sagen wir einfach, wir gehen zu Angela und ihre Mama hätte gesagt, sie dürfte heute nur zwei Kinder mitbringen.“

Imke wohnte nebenan und war ihre Klassenkameradin. Sie spielten durchaus mit ihr und luden sie auch zum Geburtstag ein, aber Kindern geht es manchmal wie Erwachsenen: manche Bekanntschaften lassen sich nur in homöopathischen Dosen ertragen.

In der nachmittäglichen Sommerhitze schlenderten die Mädchen zum Verkehrsknotenpunkt Nordhemmerns, an dessen einziger mit Stopp-Schildern versehener Kreuzung sich ein Bauernhof, eine alte Scheune, der Dorfkrug, den Angelas Eltern betrieben, ein Bäckerei- und Lebensmittelladen sowie eine Texaco-Tankstelle mit Auto- und Fahrrad-Werkstatt in den Räumen der alten Schule befanden. Ehrwürdige alte Eichen und Kastanien boten kühlenden Schatten, bevor sie wieder schutzlos der brennenden Sonne und dem unter den nackten Füßen nachgebenden Asphalt ausgeliefert waren. Sie gingen vorbei an der kleinen Spar- und Darlehenskasse, auf deren Hof sich die einzige Telefonzelle des Dorfes befand und an einer Weide mit Rindern, bei denen es sich um heranwachsende Versen, also angehende Milchkühe handelte. Sie passierten achtlos die Auslagen des Bekleidungsgeschäftes Niemann und bogen ein in die schmale Straße, an der ihr sogenannter „Kleiner Wald“ lag. Tatsächlich handelte es sich um eine Gruppe fünf alter Eichen, zwei waagerecht lagernden hohen Teilstücken sehr alter, sehr dicker Baumstämme, ein paar Holunderbüschen im Unterholz, sowie trockenem Laub, Eicheln, Taubnesseln, Brennnesseln und Giersch. Ein perfekter Ort, um abenteuerlichen Kinderphantasien einen behüteten Rahmen zu geben.

Die herunter gekommenen Äste der vergangenen Herbst- und Frühjahrsstürme hatte noch niemand weg geschafft und so gab es hinreichend Baumaterial, um einen der Bäume als Mittelpfosten für eine Art Zeltgerüst aus toten Ästen zu benutzen. Schräg gegenüber befand sich ein Maisfeld, und die Mädchen kamen auf die Idee, die langen, großflächigen Blätter der Maispflanzen als Web-Fäden zu benutzen. Ungeschickt rissen und brachen sie etliche Blätter von den mannshohen Gewächsen und schleppten sie auf ihre Baustelle. In ihrem Eifer fiel ihnen kaum auf, dass das scharfkantige Grün in ihre Finger schnitt. Die scheinbar so genial konzipierte Webtechnik erwies sich jedoch als wenig praktikabel, denn irgendwie blieben die Pflanzenteile nie da, wo die Mädchen sie haben wollten, und anstelle eines Gewebes sah das Zeltdach aus wie nach einem Bombenangriff.

„Wollen wir nicht lieber spielen, dass das Maisfeld ein Urwald ist, durch den wir durch müssen?“, fragte Angela.

„Ja los.“, erwiderte Petra. „Wir müssen bloß aufpassen, dass Haaken Onkel Willi uns nicht erwischt, dem gehört das nämlich und der kann das überhaupt nicht ab, wenn man bei ihm durchs Maisfeld läuft, dann wird der ganz finíenich.“

„Was wird der?“, fragte Cornelia sehr laut und sichtlich amüsiert.

„Finíenich.“, antwortete Petra trocken.

Cornelia kicherte. „Finíenich? Was ist das denn?“

„Kennste nich' finíenich?“

„Nee, kenn' ich nich'.“

„Na, wenn man sauer ist und ganz jabbelig und sich gar nicht wieder einkriegt.“

„Wer redet denn so? Ich meine, von wem haste das Wort?“

„Von Papa. Der sagt das immer.“

„Finíenich!“, kicherte Cornelia.

„Ach, jetzt halt' die Klappe!“, setzte Petra dem Thema ein Ende. „Wer sind wir eigentlich, gleich da im Urwald?“

„Tarzan?“, schlug Angela vor.

„Na, wir können jawohl schlecht alle Tarzan sein.“, stellte Petra klar. „Einer ist Tarzan, einer ist Jane und einer ist Chita.“

„Also ich bin Jane.“, sagte Cornelia schnell. Petra legte im Turbogang nach: „Ich bin Tarzan.“

Angela war noch damit beschäftigt, das Gehörte zu verarbeiten, da riefen die beiden anderen im Chor: „Angela ist Chita!“ und sie schüttelten sich vor Lachen.

„Dann musst du aber auch so komisch laufen und uh-uh-uh machen.“, befand Cornelia. Angela zuckte mit den Schultern und fügte sich in ihr Affenschicksal. Sie betraten den Dschungel: Tarzan voran, dicht gefolgt von Jane, und Chita bildete die Nachhut, eine weise Entscheidung, ersparte es ihr doch, den Anforderungen der absoluten Hingabe an ihre Rolle gerecht zu werden.

Zunächst war die Wanderung durch die scheinbar endlose, grüne Hölle noch spannend, aber schon bald begannen die Mädchen, sich in den schnurgeraden Korridoren der Monokultur zu langweilen. Die nackte, feuchte, mit Pflanzenschutzmitteln entkrautete Erde kühlte ihre bloßen Füße auf eine unangenehme Temperatur herunter, und immer wieder streiften die messerscharfen Blätter der Maispflanzen ihre unbedeckten Arme, bis sie schließlich ganz und gar von kleinen Schnitten übersät waren.

„Wann sind wir endlich da?“, maulte Cornelia.

„Vielleicht gehen wir besser zurück.“, überlegte Petra. „Wegen Onkel Willi.“

„Wir können ja auch eine Bude im Maisfeld bauen.“, schlug Angela vor. „Wir reißen ein paar Dinger raus oder knicken sie um und dann machen wir uns eine Wohnung, so mit 'nem langen Flur, Küche, Wohnzimmer, Schlafzimmer und Badezimmer.“

„Ja genau.“, stimmte Petra begeistert zu. „Und das ist dann Tarzans Baumhaus. Los Chita, an die Arbeit!“

Cornelia kicherte und Angela begann, systematisch Maispflanzen abzuknicken und damit auch den Grundriss für die Wohnung festzulegen. Als die anderen beiden bemerkten, dass ihnen hier ein Machtverlust drohte, machten sie sich ebenfalls ans Werk. Außerdem erwies sich das bloße Zuschauen und Herumkommandieren als viel zu langweilig. Es war kein erheblicher Schaden, den die Mädchen anrichteten, aber geärgert hätte der Besitzer sich allemal. Die drei blieben jedoch unentdeckt und verbrachten eine spannende Stunde in ihrer selbst gebauten Zwei-Zimmer-Küche-Bad-Wohnung, in der sie vom Tarzan-Plot bald in neue Rollen schlüpften, begeistert von den verborgenen Räumen, die sich jeglicher Kontrolle durch Erwachsene entzogen und auch vor gleichaltrigen Störenfrieden weitestgehend sicher waren. Erst Hunger und Durst trieben sie am späten Nachmittag zurück zu Petras Elternhaus.

Eine Woche später war Angela mit der Familie zum Kurzurlaub auf Langeoog, Cornelia auf Ibiza und Petra zu Besuch bei ihren Großeltern.

Iris Sander überlegte, ob sie sich mit der Daheimgebliebenen Nicole Reinkensmeier verabreden sollte, aber die noch wache Erinnerung an den gemeinen Verrat am Ende des Zoo-Ausflugs hielt sie davon ab. Sie wäre auch nicht erfolgreich gewesen, denn Nicole verbrachte den Tag mit ihren Eltern im Wohnwagen auf dem Dauercampingplatz am Rintelner Doktorsee – die bescheidene Variante des Wochenendhäuschens.

So versuchte Iris ihr Glück in der Nachbarschaft, auf dem Hof der Familie Westerhoff. Deren Tochter Ursula, genannt Uschi, war nur zweieinhalb Jahre älter als Iris und verfügte über atemberaubende Spielmöglichkeiten. Heute führte Uschi Iris in ihre Höhle: Ein Erdloch, das der Vater zwischen seinen Eichen ausgebaggert hatte, war von Uschi mit alten Teppichfliesen ausgelegt worden. Das Loch war so angelegt, dass es einen sanft abfallenden Einstieg gab, drei steile Wände und an der Wand links vom Eingang eine Ausbuchtung, in der sich eine Feuerstelle mit einem alten Grillrost befand. Die Höhle war bedeckt mit alten Brettern, Silage-Plane und darauf einer Schicht Grasmatten, die Otto Westerhoff in der gegenüber liegenden Wiese ausgestochen hatte. Nur über der Feuerstelle war keine Abdeckung, der schmale Schacht über der Ausbuchtung diente als Abzug. Die Mädchen kochten Fruchtpudding auf dem Grillrost und erzählten sich gegenseitig Märchen, bis sie wieder Lust auf Bewegung bekamen und ihre Kräfte beim Seilspringen maßen. Als allerdings Uschis beste Freundin Ulrike auftauchte, merkte Iris bald, dass sie nur störte. Die älteren Mädchen hatten schon ein Jahr an der Hauptschule in Hille hinter sich, kamen nach den Sommerferien in die sechste Klasse und begannen allmählich, sich von den wilden Spielen der Kindheit zu verabschieden. Kriegsbemalung wich Lidschatten, Lippenstift und Nagellack; statt sportlicher Wettkämpfe tanzten sie zur Schallplattenmusik von Uschis großem Bruder und selbst die Barbies wurden nur noch selten heraus geholt; statt dessen blätterten sie lieber in Versandhauskatalogen und wählten auf jeder Seite ihren modischen Favoriten. Iris verabschiedete sich mit der Begründung, sie müsse heute früh nach Hause kommen und verbrachte den Rest des Tages mit Rollenspielen im Selbstgespräch im Garten ihrer Familie.

Am kommenden Tag fuhr sie mit ihren älteren Schwestern mit Fahrrädern ins Freibad im fünf Kilometer entfernt liegenden Stemmer. Nicole hatte sich zusammen mit Birgit Kruse von ihren Eltern dort hinbringen lassen. Beide Mädchen begrüßten Iris so einladend und fröhlich, dass sie sich ihnen anschloss und einen sorglosen Nachmittag im Freibad verbrachte. Für den nächsten Tag verabredeten die drei sich zum Spielen bei Iris.

In diesem Sommer schien es von Tag zu Tag heißer zu werden. Wie verabredet hatten Nicole und Birgit ihre Rollschuhe dabei und sie fuhren in der sengenden Hitze die schmale, ruhige Straße zum Friedhof hoch, auf dessen Parkplatz sich virtuose Pirouetten drehen ließen. Das sanfte Gefälle der Straße war beim bergauf Fahren kaum hinderlich, brachte aber bergab zusätzlichen Schwung. Irgendwann waren die Mädchen erschöpft, lösten die Rollschuhe von ihren Füßen und schlichen auf den Friedhof.

„Wir können auf den Kirschbaum klettern und uns vollstopfen.“, schlug Iris vor.

„Aber das sind doch Wildkirschen.“, wandte Nicole ein. „Die kann man doch gar nicht essen.“

„Wieso denn das nicht?“

„Weil die giftig sind.“

„Ja genau.“, mischte Birgit sich nun ein, „Und was auf dem Friedhof wächst, darf man sowieso nicht essen, weil da die ganzen Toten liegen und das Wasser in der Erde ist ganz voll von Leichengift und die Wurzeln von den Bäumen saugen das ein und dann ist das Leichengift auch in den Kirschen.“

„Das glaube ich nicht.“, widersprach Iris. „Peter und ich haben die schon ganz oft gegessen und wir sind auch nicht gestorben, nicht mal krank geworden.“

„Ich esse die jedenfalls nicht.“, erklärte Nicole schnippisch.

„Ich auch nicht.“, schloss Birgit sich an.

„Aber auf den Baum klettern können wir doch.“, schlug Iris vor.

Als die drei hoch oben im dichten Blattwerk der Kirschzweige thronten, begann Iris eine Frucht nach der anderen zu vernaschen bis die anderen beiden schließlich auch nicht mehr widerstehen konnten. „Die schmecken irgendwie bitter.“, stellte Nicole fest.

„Vielleicht sind die ja doch giftig.“, rief Birgit mit großen, angsterfüllten Augen.

„Ach quatsch.“, widersprach Iris. „Das sind eben Wildkirschen, die schmecken so. Guckt mal, wie weit ich spucken kann.“

Es begann ein erbitterter Wettstreit um die beste Spuckleistung bis jedes Mädchen eine gefühlte Tonne Wildkirschen im Magen hatte und sich der Einsatz eines Laubbesens unter dem Baum durchaus gelohnt hätte.

Als Nicole am Abend im Bett lag, rumorte es in ihrem Bauch und es plagten sie schreckliche Ängste. Was, wenn die Kirschen doch voller Leichengift steckten, das jetzt ihren Körper langsam zersetzte? Vielleicht hatte Iris ja gelogen und in Wirklichkeit vorher noch nie etwas von diesen Kirschen gegessen. In einer Kirsche war ein Wurm gewesen, aber vielleicht waren die Würmer in den anderen Kirschen nur kleiner gewesen und jetzt wuchsen sie in ihrem Bauch und fraßen sie von innen auf, weil sie sie für eine Leiche hielten. Sie war hin- und hergerissen, ob sie sich ihren Eltern anvertrauen sollte, damit die ihr rasch Hilfe zukommen lassen und sie vielleicht noch retten konnten oder ob sie besser noch abwarten sollte, ob das Rumoren von allein wieder aufhörte, damit sie ihren Eltern nicht gleich drei Ungeheuerlichkeiten auf einmal gestehen musste, nämlich Erstens: das Spielen auf dem Friedhof, zweitens: das Klettern auf einen hohen Baum, drittens: das Essen von wilden Früchten, deren Wirkung sie nicht kannte. Ihr Dilemma erledigte sich bald von selbst, weil sie sich mehrmals heftig übergeben musste, und als ihre Mutter das Erbrochene erblickte, fragte sie: „Wo hast du denn so viele Kirschen gegessen? Kein Wunder, dass das alles wieder hoch gekommen ist.“

„Bei Iris.“, wimmerte Nicole leise.

„Aber Sanders haben doch gar keinen Kirschbaum.“

„Aber da war einer in der Nähe.“

„Ihr könnt den Leuten doch nicht einfach die Kirschen vom Baum klauen!“, schimpfte Nicoles Mutter. „Bei wem war das denn?“

„Kenn' ich nicht.“

„Wo seid ihr denn gewesen?“

„Da beim Friedhof.“, gab Nicole mit gespielter Unschuld Auskunft.

„Ach, bei Brünings, meinst du...aber die haben doch nur Apfelbäume.“

Nicole zog es vor zu schweigen, um sich nicht in ein noch dichteres Lügengewirr zu verstricken.

„Nicole, wo wart ihr?“, fragte die Mutter nun äußerst energisch. Voller Verzweiflung begann das Mädchen zu schluchzen: „Ich wollte die Kirschen gar nicht essen, aber Iris hat immer wieder gesagt, die sind gar nicht giftig und dass sie sie schon ganz oft gegessen hat, und dann hat sie mit Wettspucken angefangen und da haben Birgit und ich dann auch welche gegessen. Die waren auch ganz bitter und überhaupt nicht lecker.“

„Wo genau stand der Baum?“, fragte die alarmierte Mutter in scharfem Ton.

„Auf dem Friedhof!“, brach es aus Nicole heraus und endlose Tränenströme schossen aus ihren Augen. Die Mutter raste zum Telefon und rief Familie Sander an: „Ja, n'Abend, hier ist Reinkensmeiers Annegret. Du, unsere Nicole hat gerade ganz schrecklich gebrochen und erzählt mir, sie wäre mit Iris aufm Friedhof gewesen und hätte da Kirschen gegessen. Wisst ihr da was von?“

„Moment“, antwortete Iris Mutter und kam nach wenigen Minuten zurück an den Apparat: „Die haben aufm Friedhof von den Wildkirschen gegessen. Iris geht’s aber gut.“

„Ja, sind die denn des Wahnsinns?“

„Wieso? Das sind ganz normale Wildkirschen, die sind nicht giftig und da wachsen auch sonst keine giftigen Beeren.“

„Ja, aber das tut man doch nicht. Die haben wohl auch die Kerne rumgespuckt. So was geht doch nicht. Das stört doch die Grab-Ruhe!“

„Ach“, versuchte Lieselotte die späte Anruferin zu besänftigen, „der Baum steht auf der Grenze zum Feld, da drunter ist nur Wiese, dann kommen Hecken, dann der Weg, dann noch mal Hecken und dann erst wieder Gräber. So weit spucken die kleinen Mädchen nicht.“

„Na wenn du meinst.“, erwiderte Annegret Reinkensmeier. „Dann entschuldige die späte Störung. Ich muss jetzt auch Nicoles Bett frisch beziehen.“

„Ja, tut mir leid.“

„Ist nicht zu ändern. Tschüss.“

Annegret legte auf. Verabredungen mit Iris würde sie vorerst unterbinden. Nicole sollte einen Teil der Sommerferien ohnehin nutzen, um Rechtschreibung, Zeichensetzung, Multiplikation und Division zu üben. Annegret hatte alles bestellt, was es an unterstützenden Lernmitteln gab und sie würden es Robert Kowalski schon noch beweisen, dass ihre Tochter den Sprung aufs Gymnasium schaffte. Evelyn besuchte die Realschule, die sie in einem Jahr sicher erfolgreich abschließen würde, auch wenn es sie viel Kraft kostete. Aber Nicole war so viel aufmerksamer, wissbegieriger und reaktionsschneller als ihre große Schwester, dass es der blanke Hohn gewesen wäre, sie nach Kowalskis Empfehlung zur Hauptschule zu schicken. Sicher gönnte er den Kindern aus wohlhabenden, geordneten Elternhäusern den weiteren sozialen Aufstieg nicht, weil er es selbst als einfaches Arbeiterkind ziemlich schwer gehabt hatte. Aber was ging Annegret das Schicksal dieses Grundschullehrers an? Sie bezog das Bett neu und gab Nicole ein frisches Nachthemd. Dann deckte sie ihr erschöpftes Kind zu und strich ihr liebevoll eine schweißverklebte Strähne aus der Stirn. „Morgen geht’s deinem Bauch bestimmt wieder besser und dann üben wir beide ein bisschen Diktate.“

„Och Mutti, dazu habe ich gar keine Lust, es sind doch Ferien und das Wetter ist so schön.“

„Nur drei Diktate und ein paar Malaufgaben, das dauert höchstens eine Stunde und morgens ist es ja meistens noch frisch und der Rasen ist noch nass, da macht es noch gar keinen Spaß, draußen zu spielen. Du weißt doch, was Herr Kowalski gesagt hat: Wenn du nicht fleißig übst, schaffst du es nicht aufs Gymnasium. Und selbst dann schaffst du das nächste Jahr alles nur, wenn du in diesen Ferien alles nachholst, was du noch nicht ganz verstanden hast. Und stell dir mal vor: nachher gehen Cornelia und Petra und viele andere aus deiner Klasse alle nach Minden zur Schule und du musst nach Hille. Dann bist du doch bestimmt traurig. Aber jetzt schlaf' gut und träum' was Schönes.“

Brav schloss Nicole die Augen, um nur alles richtig zu machen und nicht womöglich im nächsten Jahr aus dem Rennen zu sein, wenn der Schulwechsel anstand.

Brauseflocken - totes Kind, liebes Kind

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