Читать книгу Brauseflocken - totes Kind, liebes Kind - Cristina Fabry - Страница 8

Donnerstag, 26. Mai 2016

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Es war schon 09.30 Uhr, als Petra Gieseking die Augen aufschlug und vom Bett aus den vertrauten Blick aus dem Fenster genoss. Sie war ihrem Bruder Dirk ganz besonders dankbar dafür, dass er das Gästezimmer in ihrem alten Kinderzimmer eingerichtet hatte und sogar die Position des Bettes beibehalten hatte. So fühlte sie sich immer noch zu Hause, wenn sie zu Besuch war. Die Entscheidung war ihm sicher leicht gefallen, denn Petras ehemaliges Zimmer lag nach Norden raus und war weder besonders groß noch besonders glücklich geschnitten. Aber für Petra bedeutete es Geborgenheit, zumal ihre Mutter auch immer noch auf dem Hof lebte und die vertraute Küche sowie die beiden Wohnzimmer (einen Alltagsraum und eine gute Stube) bewohnte. Nur zum Schlafen war die Mutter in die ehemalige Knechte-Kammer gezogen, das ersparte ihr die Treppen und bot der jüngeren Generation im ersten Stock die Intimsphäre, die sie brauchten, um nicht mit der resoluten Anneliese aneinanderzugeraten.

Mit 19 Jahren war Petra von zu Hause ausgezogen für eine vielversprechende, kaufmännische Ausbildung in der Modebranche. Bei einem Bielefelder Unternehmen war sie ausgebildet worden und war jahrelang äußerst zufrieden gewesen: sie hatte einen patenten Kollegenkreis gehabt, war beruflich ausgelastet, aber nicht überfordert gewesen und hatte an zahlreichen Wochenenden das Nachtleben der Ostwestfalenmetropole, mitgenommen. Doch dann war der Betrieb Konkurs gegangen, und sie war schließlich bei einem Unternehmen im benachbarten Halle gelandet, wo sie auch hinzog, weil viele ihrer Freundinnen und Freunde schon lange nicht mehr nachts um die Häuser zogen, sondern Familien gegründet hatten und sich in den Neubaugebieten des Umlandes niedergelassen hatten. Beruflich ging es für Petra nun kontinuierlich bergab, im Team machten ihr Sexismus und Stutenbissigkeit zu schaffen, und die Firmenleitung schien mehr Wert auf Imagepflege als auf fundierte kaufmännische Kenntnisse und die solide Erledigung der bestehenden Arbeitsaufträge zu legen. Es ging ihr nicht gut, so einsam in einer Provinzkleinstadt und in einem Betrieb, der nicht mehr mit einem erfüllten Berufsleben in Einklang zu bringen war. Ihre Unzufriedenheit steigerte ihre Esslust und die überschüssigen Pfunde, die während ihrer Ausbildungszeit rasant und ohne große Anstrengung gepurzelt waren, kehrten nun kontinuierlich zurück. Die ohnehin schon distanzierten Kolleginnen und Kollegen begannen, hinter ihrem Rücken zu tuscheln, allerdings ohne jegliches Geschick, so dass es für Petra offensichtlich war. Vor zwei Monaten war sie schließlich zur Geschäftsleitung zitiert worden. Die Personalchefin - die alte Rippziege, wie Petra sie im Stillen immer nannte – erklärte ihr: „Frau Gieseking, Sie scheinen sich nicht im Klaren darüber zu sein, dass in unserem Geschäftszweig der Auftritt jedes Mitarbeitenden Teil unserer Imagepflege ist. In der Modebranche ist man nicht so dick. Sie haben also genau zwei Möglichkeiten: Entweder Sie beginnen sofort mit einer Turbo-Diät und dann will ich in vier Wochen sichtbare Ergebnisse sehen oder Sie wechseln ins Fleischfach. Schnitzelfans bekommen beim Anblick pausbäckiger Verkäuferinnen sicher noch mehr Appetit. Aber wenn Sie hier weiter arbeiten wollen, können Sie nicht so bleiben wie Sie sind. Haben Sie das verstanden?“

Petra hatte nur genickt. Die bodenlose Unverfrorenheit dieser Personalchefin hatte sie sprach- und fassungslos gemacht. Doch übers Wochenende war ihr Entschluss gereift, sich diese Gemeinheit nicht gefallen zu lassen, wozu war sie in der Gewerkschaft und hatte eine Rechtsschutzversicherung? Sie ließ sich von einem Anwalt vertreten. Sobald der sich eingeschaltet hatte, teilte man ihr mit, sie sei bis zur Klärung des Rechtsstreits freigestellt und würde weiterhin ihr Gehalt beziehen, sie solle sich aber besser nicht auf eine Rückkehr in den Betrieb einstellen, denn auch wenn sie dies rechtlich durchsetzen könne, würde sie keine Freude mehr an der Arbeit haben.

„Umso besser.“, dachte Petra. „Das hatte ich in diesem Scheißladen sowieso nie.“

Jetzt lief immer noch das arbeitsrechtliche Verfahren, in dem der Rechtsanwalt sich bemühte, eine höchstmögliche Abfindung zu erwirken, sowie zusätzliches Schmerzensgeld wegen Mobbings. Zeitgleich sah Petra sich nach einer neuen beruflichen Perspektive um und ärgerte sich, dass die Ungewissheit im Hinblick auf ihre Zukunft sie daran hinderte, die geschenkte Zeit der Freistellung zu genießen.

Sie gönnte sich eine ausgiebige Dusche, bevor sie die Treppe zur Küche ihrer Mutter hinabstieg. Sie hörte Stimmen hinter der Tür, sicher eine Freundin oder Nachbarin, die auf ein Schwätzchen herein gekommen war; um zehn Uhr machten anständige Leute ja auch ihre erste Kaffeepause und nahmen nicht wie Petra die erste Mahlzeit des Tages ein. Am Frühstückstisch saß Dirks Sohn Malte zusammen mit der aktuellen Jugendreferentin, bei Kaffee und Brötchen.

„Ach, Hallo Kathi!“, begrüßte Petra die Sozialarbeiterin, die sie zwar nicht näher kannte, aber wie selbstverständlich duzte, weil ihr Neffe und ihre Nichte das auch taten.

„Morgen Mama.“, sagte sie dann und gab ihrer Mutter einen flüchtigen Kuss auf die Wange.

„Kaffee ist noch in der Kanne und Brötchen stehen noch auf dem Tisch.“, erklärte Anneliese, die bereits das Mittagessen für die ganze Familie vorbereitete.

„Hast du nicht 'ne coole Idee für 'n Geländespiel, das irgendwie zum alten Ägypten passt?“, wandte Malte sich an Petra und goss sich zuerst Milch und dann Kaffee in ihren Becher. „Ich bin noch gar nicht richtig wach, und im Geländespiel Ausdenken war ich noch nie gut. Wenn wir so was in der Jungschar gemacht haben, war ich immer froh, wenn ich mich irgendwo im Klappstuhl an die Straße setzen und in Ruhe Cola trinken konnte. Ab und zu kam dann mal 'ne Horde Kinder vorbei und musste irgendwas treffen oder ein Rätsel lösen. Ich habe meistens gar nicht verstanden, worum es eigentlich ging und was die da machten. Ich habe mir nur meine Aufgabe gemerkt.“ Sie nahm einen Schluck Kaffee und schmierte sich ein Marmeladenbrötchen. Dann fragte sie die Jugendreferentin: „Waren Nele und Sören eigentlich auch in der Jungschar?“

„Wenn du Nele Tiemann und Sören Borcherding meinst, ja. Die kommen auch immer noch regelmäßig. Wieso fragst du in der Vergangenheitsform, die sind doch erst acht oder neun und noch nicht einmal ein ganzes Jahr dabei.“

„Hast du denn noch nicht gehört, was mit denen passiert ist?“, fragte Petra.

Katharina Förster sah hilflos vom einen zum anderen.

„Die wurden umgebracht.“, erklärte Malte.

„Was?!“, rief Katharina mit weit aufgerissenen Augen. „Wie schrecklich! Was genau ist denn passiert?“

„Jemand hat die beiden erschlagen und die Leichen einfach ins Grab von Bramaars Gisela geworfen.“, antwortete Anneliese. „Ich war da, ich hab' die kleinen gesehen. So was Schreckliches. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wer so was macht. Gestern haben sie noch nach Klaus-Dieter Friebe gefragt, der hat ja das Grab ausgehoben, aber der ist danach sicher gleich wieder weg gefahren. Was sollte der schon gesehen haben?“

„Vielleicht war er's ja.“, überlegte Malte. „Der ist schon 'n komischer Vogel, und als Kinder hatten wir auch immer Angst vor dem.“

„Ach, das glaube ich nicht.“, widersprach Anneliese. „Der ist vielleicht 'n bisschen dumm und wäscht sich nicht ordentlich, aber sonst ist der ganz in Ordnung.“

„Ich kann das gar nicht glauben.“, sagte Katharina leise. „Die waren am Donnerstag in der Jungschar noch so putzmunter. Und die zwei waren auch so süß. Kackfrech, aber total niedlich. Die hätten ihren Weg gemacht. Das kann doch nur ein Sexualstraftäter oder Psychopath gewesen sein.“

„Oder andere Kinder.“, überlegte Petra.

„Das glaubst du doch wohl selbst nicht.“, widersprach Katharina. Kinder schubsen, prügeln sich und im allerschlimmsten Fall verursachen sie einen Unfall, der tödlich endet, aber andere Kinder Totschlagen und dann in ein offenes Grab werfen? Vielleicht in irgendwelchen Kriegsgebieten, aber doch nicht in Nordhemmern.“

„Na ja.“, setzte Petra ungerührt ihre Überlegungen fort. „So besonders hübsche Kinder, die immer kriegen, was sie wollen und denen die Erwachsenen immer liebevoll über den Kopf streicheln, obwohl sie in Wirklichkeit total durchtriebene Quälgeister sind, die machen sich bei anderen Kindern richtig unbeliebt. Nicht einmal ich konnte die beiden ausstehen. Die waren doch vor zwei Jahren bei Merles Geburtstag eingeladen und die wollten immer das Beste, das Meiste und immer die Ersten sein. Und dann setzten sie so ein einstudiertes, zuckersüßes Lächeln auf, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt, dass alles nach ihrer Pfeife tanzt. Dirk und Sonja sind ihnen auch tatsächlich auf den Leim gegangen, aber ich hab' die beiden eiskalt auflaufen lassen. Ihr hättet mal sehen sollen, wie schnell denen ihr Filmstargrinsen aus dem Gesicht fiel. Da fanden sie mich natürlich doof, aber das war mir egal. Man soll ja nicht schlecht über Tote reden, aber die beiden hätten ganz bestimmt ihren Weg gemacht, allerdings auf Kosten anderer. Ich kenne die Sorte.“

„Mensch Petra, jetzt isses aber genug!“, mischte Anneliese sich ein. „Du redest ja gerade so, als wenn die beiden den Tod verdient hätten. Das waren doch noch Kinder.“

„Böse Erwachsene waren auch mal Kinder.“, erwiderte Petra schnippisch. „Und dass Kinder grausam sein können, ist auch nicht nur eine Redensart. Ich habe ja auch nur überlegt, welchen Grund es für den Mord geben kann.“

„Die zwei konnten schon ganz schöne Biester sein.“, räumte Katharina ein. „Weißt du noch, Malte, wie sie bei den Krippenspielproben Giorgina aufm Klo eingeschlossen haben und uns kackfrech mit großen, unschuldigen Kulleraugen versichert haben, sie hätten keine Ahnung, wo Giorgina abgeblieben sei?“

„Aber das ist doch ein harmloser Kinderstreich.“, mischte Anneliese sich ein.

„So harmlos nun auch wieder nicht.“, erklärte Malte. „Die haben Giorgina auch vorher immer verarscht, und als sie dann eingesperrt war, ist sie in Panik geraten und hatte ihr Asthma-Spray nicht dabei. Nur weil Kathi noch mal eben aufs Klo musste, hat sie den Schrubber gesehen, der unter der Klinke klemmte und Giorgina befreit. Johanna konnte ihr gerade noch rechtzeitig das Asthma-Spray bringen, sonst wäre sie womöglich erstickt.“

„Allerdings glaube ich nicht, dass die beiden sich dieses Risikos bewusst waren.“, erklärte Katharina. „Das tat ihnen ehrlich leid, und sie haben sich bei Giorgina entschuldigt. Aber 'ne fiese Ader hatten sie schon manchmal. Das ist mir auch aufgefallen.“

„Vielleicht solltest du das der Polizei erzählen.“, schlug Petra vor.

„Ach was.“, widersprach Katharina. „Die Kinder zu befragen, mit denen die beiden zu tun hatten, da kommen die schon von allein drauf. Wer leitet eigentlich die Ermittlungen? Sind das die gleichen wie vor zwei Jahren?“

„Ich glaube schon.“, antwortete Anneliese Gieseking. „So 'ne Fitness-Studio-Bohnenstange mit blonden Locken, höchstens dreißig und so 'n rutzeliger Kommissar, vielleicht Mitte fünfzig.“

„Keller und Kerkenbrock?“

„Ja, ich glaube, so hießen die.“

Brauseflocken - totes Kind, liebes Kind

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