Читать книгу Brauseflocken - totes Kind, liebes Kind - Cristina Fabry - Страница 6
Mittwoch, 25. Mai 2016
ОглавлениеZitternd kehrte Iris in ihr Elternhaus zurück und setzte ihre Schwester Simone von dem Leichenfund in Kenntnis. Iris war mit drei älteren Schwestern aufgewachsen: Marlies Simone und Anke. Simone hatte das Haus der Eltern übernommen, als sie sich vor ein paar Jahren ins Altenheim in Hille einquartiert hatten und war mit ihrem Mann und ihrer Tochter aus der Mindener Mietwohnung zurück nach Nordhemmern gezogen. Jetzt gehörte ihr das Haus, ihre drei Schwestern hatten die nicht unerheblichen Ersparnisse ihrer Eltern unter sich aufgeteilt. Auch wenn das Erbe nicht ganz gerecht verteilt war, so waren die anderen doch froh, dass ihnen der Zugang zum Ort ihrer Kindheit weiterhin nicht verwehrt blieb, ohne dass sie sich darum kümmern mussten.
Im vergangenen Jahr war ihre Mutter gestorben, im Februar diesen Jahres ihr Vater. Heute wäre er Neunzig Jahre alt geworden und darum war Iris aus Melle angereist, um die Gräber neu zu bepflanzen, denn Simone hatte in dieser Woche keine Zeit, weil sie mit ihrer Familie über Fronleichnam zu einem Kurzurlaub nach Berlin aufbrechen wollte. Iris bewohnte an diesem Wochenende ihr leer stehendes Elternhaus und traf sich mit vier ehemaligen Mitschülerinnen, mit denen sie 13 Jahre lang die Schulbank gedrückt hatte, am morgigen Feiertag zum Kaffeetrinken in Nicoles Elternhaus.
„Hast du alles?“, fragte sie ihre reisefertige Schwester, als Mann und Kind bereits im Auto saßen.
„Ja, alles in trockenen Tüchern.“, antwortete Simone. „Aber sag mal, wie soll ich jetzt eigentlich entspannt nach Berlin fahren, wenn hier gerade so was Schreckliches passiert ist?“
„Na, jetzt erst recht.“, entgegnete Iris. „Bloß weg hier. Wenn ihr zurückkommt, ist vielleicht schon alles aufgeklärt.“
„Ja, aber ich sehe doch, dass du fix und fertig bist. Kann ich dich mit dem Schock überhaupt allein lassen?“
„Mach dir um mich mal keine Sorgen.“, beruhigte Iris ihre große Schwester. „Ich mache mir gleich 'n Kräutertee, setz mich auf die Terrasse und lese ein bisschen, dann komme ich auf andere Gedanken. Heute Abend ziehe ich mir die Pilcher-Schnulze rein, telefoniere vorher noch mit Jochen und lasse mir von Pauls Verfehlungen erzählen, lese die 1000 SMS, die Jule mir vom Reiterhof schickt und gehe früh schlafen. Morgen kann ich endlich mit den anderen PANIC-Girls die aktuellen Ereignisse durchhecheln. Wir trinken dann so zwei bis zehn Schnäpse zusammen und mir geht’s wieder gut.“
„Ach ja, die PANIC-Girls. Kommen echt alle?“
„Klar. Nach dreißig Jahren Abitur muss man sich doch treffen. Und wo schon keiner ein Jahrgangsstufen-Treffen auf die Reihe gekriegt hat, da müssen wenigstens die Dorf-Gymnasen in Nordhemmern zusammenkommen.“
„Schließ dich heute Nacht bloß gut ein!“, ermahnte Simone ihre kleine Schwester. „Vielleicht hast du den Mörder gesehen und weißt es gar nicht, aber er hat dich beobachtet und will alle Zeugen aus dem Weg räumen.“
„Simone“, beschwichtigte Iris sie, „der einzige Mensch, den ich außer den noch lebendigen Kindern heute Mittag auf dem Friedhof gesehen habe, war der Totengräber.“
„Der Friebe?“
„Ja, ich glaube, das war der.“
„Das ist aber echt 'n komischer Typ. Der macht das, glaube ich, als Ein-Euro-Jobber.“
„Ist das nicht seit dem Mindestlohn gesetzlich verboten?“, unterbrach sie Iris.
„Keine Ahnung.“, antwortete Simone. „Auf jeden Fall ist er, glaube ich, so an den Job gekommen und an seine Hütte. Er haust alleine in so 'nem abgerockten Heuerlingshaus in Holzhausen, raucht wie ‘n Schlot und wäscht sich, glaube ich, höchstens einmal im Jahr.“
„Alles Kriterien, die auf die meisten Mörder nicht zutreffen.“, entgegnete Iris.
Simones Tochter betätigte die Hupe.
„Ab mit dir!“, sagte die jüngere Schwester und versetzte der Älteren einen sanften Stoß in Richtung Haustür. „Berlin wartet nicht. Und habt viel Spaß!“
„Ja, danke, tschüss und pass auf dich auf!“
„Mach ich. Tschüss.“
Friebe. Klaus-Dieter Friebe. Der Friedhofsgärtner und Totengräber, er war ein bedauernswerter Verlierer. Vor drei Jahren war sie auf eine ambitionierte Hobbykünstlerin getroffen, die ihn kennengelernt hatte, als er noch ein Teenager war und in Friedewalde lebte, wo er auch aufgewachsen war. „Er malte immer noch wie ein Kind.“, hatte die Zahnarztgattin ihr erzählt. „Es war faszinierend, wie er intuitiv die Farben und Formen auswählte und Akzente setzte. Ich bin sicher, wenn er sich als gebildetes Bürgersöhnchen hätte darstellen können, würde er heute ausstellen und verkaufen wie geschmiert.“
Iris musste schmunzeln. Diese Arztgattinnen mit zertifiziertem Volkshochschulabschluss in Kunstpädagogik hielten sich allesamt für potentielle Entdeckerinnen verkannter Künstler wie Antonio Ligabue, den Einfaltspinseln, in denen ein kindliches Genie schlummerte. Sie gab als Museumspädagogin unter anderem Malkurse für Frauen und auch für Kinder, wobei sie von dem, was sie da zu sehen bekam, eher desillusioniert als haltlos begeistert war. Sie hatte zwar Spaß daran, wenn Kinder auf der Leinwand anarchisch die Sau raus ließen und freute sich, wenn Frauen, die sich aufgrund permanenter, ungerechtfertigter Abwertung durch Andere ein völlig talentfreies Selbstbild zu eigen gemacht hatten, ihre Kreativität entdeckten und Freude daran hatten, aber sie wusste auch, dass große Künstler, die die Welt bereicherten ebenso wie diejenigen, die auf dem Kunstmarkt ihr Brot verdienten, so selten waren wie Goldgruben, Ölquellen oder Diamantenminen. Und Klaus-Dieter Friebe war sicher keine Goldgrube, nicht einmal eine schmutzige, stinkende Ölquelle. Seine Eltern waren beide Alkoholiker gewesen, hatten mit letzter Kraft ihren Lebensunterhalt verdient und ihren Sohn groß gezogen. Sie waren früh gestorben und hatten ihm nichts hinterlassen als Perspektivlosigkeit. Ein armes Schwein, über das sie nicht länger nachdenken wollte.
Sie kochte sich den angekündigten Kräutertee und erinnerte sich, dass sie für das PANIC-Girls-Treffen einen Kuchen zugesagt hatte. „Das habe ich ja völlig vergessen!“, dachte sie, schlüpfte rasch in ihre Schuhe und fuhr in den nächsten Supermarkt im drei Kilometer entfernt liegenden Hartum, wo sie die Zutaten für eine einfache Himbeer-Crostata, Rotwein, Lebensmittel für ihr langes Wochenende und eine große Packung Pralinen als Dankeschön für ihre Schwester einkaufte. Außerdem erstand sie einen scheußlich bunten, aufdringlichen Blumenstrauß mit grellgelber Papiermanschette für die morgige Gastgeberin. „Ganz passend für Nicole.“, dachte sie.
Als der Kuchen gebacken war, rief sie zu Hause an. Paul spielte seit zwei Stunden irgendein Fantasy-Zeugs auf seinem Laptop und Jochen hatte seinen Freund Matthias eingeladen, um zusammen ein paar Lammfilets auf den Grill zu schmeißen und mit ausgewählten Bieren zu begießen. Jule hatte bisher doch nur zwei SMS geschickt; eine, dass sie gut angekommen war und eine, dass sie wieder Ariana reiten dürfe und auch gar keine Zeit habe, weil sie direkt in den Stall müsse.
Mit einem Teller Pasta und einem Glas Rotwein setzte sie sich auf die Terrasse und erhob ihr Glas wie zu einem Trinkspruch: „Auf dich, Papa“, flüsterte sie, „herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.“
Sie trank einen Schluck und vor ihrem geistigen Auge erschien das Bild der Geburtstagsfeier vor zwei Jahren, da hatte auch ihre Mutter noch gelebt und sie hatten in fröhlicher Runde auf der Terrasse zusammengesessen. Im letzten Jahr war es dagegen trostlos gewesen – die Trauer um die Anfang April verstorbene Lieselotte war noch frisch und das Wetter war auch nicht überragend gewesen.
Aber dann wanderten ihre Gedanken in die Zeit ihrer Kindheit: Als das Haus gebaut wurde, war Iris erst drei Jahre alt und sie hatte nur schemenhafte Erinnerungen an die Bauzeit, in der sie und ihre Schwestern mehrmals wöchentlich auf dem Grundstück gespielt hatten. Überall waren riesige Berge mit krümeliger, brauner Erde, aber auch mit großen, lehmigen Brocken gewesen, die den Kindern vorgekommen waren wie massive Felsen. Sie hatten Kuchen gebacken, verstecken gespielt und sich gegenseitig mit Erde beworfen. Vor dem Umzug – noch vor Iris viertem Geburtstag – hatten sie in einer kleinen Wohnung bei den Großeltern gelebt. Die hatten ein großes Haus am Rande des Dorfes gehabt und das Anwesen Lieselottes Bruder vererbt. Iris Vater Karl-Heinz war leitender Angestellter in einem Mindener Industriebetrieb gewesen, wo er Lieselotte kennengelernt hatte, die dort eine Ausbildung abgeschlossen hatte und übernommen worden war. Im Gegensatz zu ihren Altersgenossinnen hatte Lieselotte nach der Geburt jeden Kindes nur den Mutterschutz eingehalten und war jedes Mal acht Wochen nach der Entbindung wieder arbeiten gegangen, denn ihre Mutter umsorgte die Enkelkinder mit Begeisterung. So hatte das Ehepaar eine Menge Geld verdienen können, bis sie nach dreizehn Jahren Ehe mit vier gemeinsamen Kindern ins neu gebaute Traumhaus nahe des Ortskerns zogen. Die Nachbarn hatten sie kritisch beäugt: Feine Büroangestellte, die sich nicht die Finger schmutzig machten und zu allem Überfluss zwischen westfälischen Höfen und biederen 50er-Jahre-Jägerzaun-Kreationen ein modernes Fertighaus mit großen Glasfronten in süddeutschen Proportionen setzten. Wäre Lieselotte keine Nordhemmeraner Ureinwohnerin gewesen, hätten sie kaum Anschluss in der selbstgefälligen, bäuerlichen Nachbarschaft gefunden. Schon während des Hausbaus hatte Lieselotte ihre Arbeitszeit auf zwanzig Wochenstunden reduziert und als sie umzogen, starb überraschend ihre Mutter, so dass sie die Arbeit vorläufig ganz aufgeben musste, denn Iris war erst drei Jahre alt, Anke kam nicht vor dem Sommer in die Schule und der Kindergarten in Holzhausen II, der seinen Betrieb in zwei Jahren aufnehmen sollte, existierte noch nicht.
So erlebte Iris auch im neuen Haus eine behütete Kindheit, in der alles funktionierte, wo die Mama mit ihr Plätzchen buk oder Kaufmannsladen spielte, die älteren Schwestern sie zum Indianer-Abenteuer mit in den Wald nahmen und der Papa nach Feierabend und am Wochenende sich fast ausschließlich im Garten aufhielt, wo er auch immer die Zeit fand, mit seinen Töchtern Crocket oder Boccia zu spielen. Sie erinnerte sich an heiße Sonntage auf der Terrasse mit Waffeln, Kirschsauce und Schlagsahne, Mamas Bunzlauer Kaffeegeschirr und den klebrig-süßen Orangen-Nektar, der später vom Hundertprozentigen abgelöst wurde.
Sie erinnerte sich an Peter, der im Haus neben ihren Großeltern gelebt hatte und mit dem sie sich weiterhin zum Spielen getroffen hatte und dem es überhaupt nichts ausgemacht hatte, dass sie ein Jahr jünger war – bis er im Verlauf der dritten Grundschulklasse zu der Erkenntnis gelangte, dass ein Mädchen als Spielgefährtin, sein Ansehen im Kreise seiner Klassenkameraden untergrub. Es war das erste Mal, dass Iris eine derartig brüske Zurückweisung erlebte, ohne auch nur ansatzweise zu begreifen, worin die Ursache dafür lag und es sollte nicht das letzte Mal sein, dass es ihr so erging.
Sie erinnerte sich an Susanne von gegenüber, die fünf Jahre älter war als sie, sich aber nicht zu schade war, mit Iris im Garten zu zelten oder im kleinen Eichenwäldchen Mettwurst-Scheiben über dem Lagerfeuer zu grillen, wenn Iris drei Jahre ältere Schwester Anke zu einem Kindergeburtstag oder einer spektakulären Verabredung eingeladen war. Susanne war Kinderkrankenschwester geworden und hatte einen Zimmermann aus Oberlübbe geheiratet, wo sie mit ihm und ihren beiden Söhnen im Haus seiner Eltern lebte. Iris hatte sie seit Jahren nicht gesehen, nur Simone traf sie manchmal, wenn sie bei ihren Eltern zu Besuch war.
Mit fünf Jahren kam Iris in den Kindergarten und Lieselotte ging wieder halbtags arbeiten. Der Kindergarten mit seinem spektakulären Angebot an den neuesten Spielzeugen und phantastischen Klettergerüsten im Außengelände war ihr wie das Paradies erschienen. Sie erinnerte sich an die bunt lackierten Holzklötze und die riesigen Duplosteine, die endlosen Perlenketten, die sie aufgefädelt hatte, das Hütchenspiel, die Kartoffeldruck-Bilder, die kleinen, abgerundeten Kinderstühle, die niedrigen, Resopalbeschichteten Tische und den warmen Kakao in den dunkelroten Tassen des Frühstücksgeschirrs. Sie erinnerte sich sogar an den langen Flur mit den Turnhallenbänken und den Kleiderhaken und an ihre eckige, dunkelblaue Kindergarten-Tasche mit dem schwierigen Drehverschluss aus Metall, die bei ihrer Ankunft um den Hals baumelte und ihr Frühstücksbrot enthielt. Nur an die Kinder konnte sie sich kaum erinnern, bis auf Nicole, die immer eifrig versucht hatte, sie zum Mitspielen zu bewegen, den kackfrechen Olaf Möller, der ein Jahr jünger war als sie und mit dem sie eine Auseinandersetzung gehabt hatte, aus der sie als Siegerin hervor gegangen war. Außerdem waren ihr aus der anderen Gruppe Cornelia wegen ihrer flammend roten Haare und Birgit wegen ihrer zeitlupenartigen Langsamkeit aufgefallen. Sozialkontakte hatten nie im Mittelpunkt ihres Interesses gestanden, eher die Schönheit der Dinge. Sie beobachtete Menschen auch lieber, anstatt sich mitten ins Getümmel zu stürzen.
„Eigentlich erstaunlich“, dachte sie, „dass ich in meiner Kindheit überhaupt Freundinnen hatte.“
Die Pilcher-Schnulze im Fernsehen lenkte sie ab von den Schrecken des Nachmittags und der Erinnerungsflut, die sie auf der Terrasse überrollt hatte. Der Rotwein verschaffte ihr die nötige Bettschwere und so fiel sie bald in einen tiefen, festen Schlaf.