Читать книгу Brauseflocken - totes Kind, liebes Kind - Cristina Fabry - Страница 11
Winter 1977 / 1978
ОглавлениеCornelia war unheimlich aufgeregt. .Sie trug ihren nagelneuen Latz-Rock aus dunkelbraunem Fein-Kord und die ungewohnte Kleidung verstärkte ihre Anspannung. Gleich musste sie „Alle Jahre wieder“ auf dem Klavier vorspielen vor einem großen Publikum, denn Eltern und Großeltern aller aktuellen Musikschüler waren zum Weihnachtskonzert im Festsaal des Hiller Volkening-Hauses erschienen. Eigentlich war das Lied einfach zu spielen, aber kurz vor Schluss gab es eine vertrackte Stelle, bei der sie immer wieder patzte. Nicole war auch dabei und trat mit „Morgen kommt der Weihnachtsmann“ auf. Sie trug ein dunkelblaues Samtkleid und sah mit den dazu passenden Lackschuhen sehr elegant aus. Iris spielte „Stille Nacht, Heilige Nacht“. Ihre Kombi aus einem grau-rot karierten Faltenrock und einer weinroten Winterbluse war annehmbar, aber nicht wirklich schön. Die beiden Klassenkameradinnen waren aber mindestens genauso aus dem Häuschen wie Cornelia, wobei Nicole aufgeregt herum plapperte, während Iris in konzentriertem Schweigen versank. Auf den Tischen standen leckere Plätzchen und Süßigkeiten, aber keines der Mädchen hatte auch nur einen Hauch von Appetit. Zum Glück würden sie gleich nach den Blockflöten dran kommen, danach konnten sie sich nach Herzenslust mit Kakao voll kübeln und Kekse knabbern.
Nicole kam als Erste dran und machte im Mittelteil einen kleinen Fehler, was etwas von dem Druck nahm, der auf Cornelia lastete. Wenigstens wäre sie dann nicht die Einzige, die sich einen Patzer leistete. Als sie schließlich an der Reihe war, fühlten sich ihre Hände kalt und feucht an und zitterten leicht. Sie spürte ein heftiges Pochen am Hals und wie glühende Hitze ihr Gesicht überzog. Doch der hohe Adrenalinspiegel schärfte ihre Sinne und sie spielte fehlerfrei. Als der erlösende Applaus ertönte, überrollte sie eine Welle der Erleichterung. Sie saß schon entspannt im Zuschauerraum, als Iris an der Reihe war. Die spielte ebenfalls fehlerfrei, wurde nur zum Ende hin ein bisschen langsam, um bei den schwierigen Fingersätzen Fehler zu vermeiden. Als die älteren Klavierschüler Opernarien, Walzer und Sonatinen präsentierten, hatten die drei Mädchen große Mühe, die respektvolle Stille zu bewahren und waren heilfroh, als das Konzert endlich beendet war und sie sich über ihre Erfahrungen mit Lampenfieber, Fehlerbewältigung und dem perfekten Bühnenabgang austauschen konnten. Ihre Mütter bemühten sich, mit stolz geschwellter Brust um ein kultiviertes Understatement, dessen Zurschaustellung aber dermaßen durchschaubar war, dass sie als Charaktere einer Boulevard-Komödie eine glänzende Figur abgegeben hätten.
„Ich wollte ja eigentlich auch lieber 'Stille Nacht' spielen“, erklärte Nicole eifrig, „aber das hatte Iris ja schon. Das ist nämlich nicht so schnell, da hätte ich mich bestimmt nicht verspielt.“
Iris behielt für sich, dass sie bezweifelte, dass Nicole die anspruchsvollen Akkorde im Schlussteil passend getroffen hätte und äußerte sich nicht dazu.
„Ist aber kaum aufgefallen, dass du dich verspielt hast.“, erklärte Cornelia wohlwollend.
„Das ist ja schließlich auch keine Aufnahmeprüfung fürs Konversatorium.“, sagte Annegret Reinkensmeier mit gespielter Lässigkeit.
„Heißt das nicht Konservatorium?“, überlegte Lieselotte Sander im Stillen und Marlies Rüther dachte: „Wenn man die Fremdwörter nicht kennt, sollte man sie nicht benutzen.“
Aber alle lächelten freundlich. Die Mütter waren auch einigermaßen entspannt, denn sie hatten schon alle Weihnachtsgeschenke verpackt, die meisten Plätzchen gebacken, den Weihnachtsbraten bestellt – es war zwar noch einiges zu tun, aber alles war organisiert. Nur Annegret Reinkensmeier war nervös, allerdings nicht wegen des bevorstehenden Weihnachtsfestes, sondern wegen ihrer großen Sorge, ob Nicole sich in der zweijährigen Erprobungsphase am Gymnasium bewähren würde. Stundenlang brütete sie mit ihr über den Hausaufgaben, arbeitete sich durch Übungshefte für den Mathematik-Unterricht, lernte englische Vokabeln und Grammatik. Die Schmach, ihre Tochter schließlich von der Schule nehmen zu müssen und sie stattdessen zur Real- oder gar zur Hauptschule zu schicken, hätte sie nicht ertragen. Da investierte sie lieber all ihre Kraft in Nicoles Schullaufbahn, sie würde ihr eines Tages sehr dankbar sein.
„Nächstes Mal musst du aber wieder fleißiger üben.“, sagte sie auf dem Nachhauseweg zu ihrer Tochter, „damit du dich nicht wieder blamierst.“ und Nicole fühlte sich bei der Erinnerung an ihren Fehler, als würde jemand eine Schnur um ihren Magen legen und sie ganz fest zusammenziehen. Sie hatte doch in den letzten beiden Wochen jeden Tag mindestens eine viertel Stunde geübt, manchmal sogar eine halbe und trotzdem hatte sie zu spüren gemeint, wie alle den Atem anhielten und sämtliche Augenpaare an ihr hafteten. Es gab nichts Demütigenderes, als öffentlich zu scheitern.
Dann wurde es Weihnachten in Nordhemmern und keine der fünf frisch gebackenen Gymnasiastinnen machte sich noch irgendwelche Sorgen. Aller Druck fiel von ihnen ab und sie fieberten dem Heiligen Abend entgegen, wo der Tannenbaum – je nach Elternhaus – im Kerzen- oder Lichterkettenschein erstrahlte.
Bei Cornelias und Iris' Eltern gab es Strohsterne, Glaskugeln und Geschnitztes aus Holz. Bei Angelas Eltern gehörten bunte Kugeln in allen Farben des Regenbogens zur festen Tradition, sowie sparsam dosiertes Lametta. Petras Mutter bevorzugte klassische rote und goldene Kugeln und Nicoles Mutter hatte in diesem Jahr alles in Silber und aus gefrostetem Glas. Aber überall schlugen in gleicher Weise die aufgeregten Kinderherzen in freudiger Erwartung der Überraschungen bei der Bescherung. In jedem Haus wurde geschlemmt, gefaulenzt, gespielt, geredet und ferngesehen. Alle gingen in die Kirche, machten sich fein, besuchten Verwandte oder bekamen Besuch. Nur bei Angela lief Weihnachten immer etwas anders ab. Bis kurz vor der ziemlich spät angesetzten Bescherung stand ihr Vater hinter der Theke und ihre Mutter packte Geschenktüten für Stammgäste. In diesem Jahr gehörte der erste Feiertag der Familie, am zweiten war die Kneipe wieder geöffnet und wenn es schlecht lief, saß am frühen Abend ein am Leben verzweifelnder Volltrunkener unter dem Weihnachtsbaum, heulte in seinen starken, schwarzen Kaffee und wollte von Angela getröstet werden. Gerade an Weihnachten war es für die gescheiterten, einsamen Trinker besonders hart. Doch bei allen anderen lief es normal.
Zwischen den Jahren wurden die neuen Spielsachen ausprobiert, die umfangreichen Reste der Weihnachtsleckereien verputzt, viel geschlafen und sich ein bisschen gelangweilt.
In der Silvesternacht kam der erste Schnee und es fielen Tonnen der weiß schimmernden Kristalle vom Himmel. Überall wurden Schneemänner gebaut und die Kufen der hölzernen Schlitten mit Speckschwarten eingerieben, damit sie leichter durch den Schnee glitten. Am 2. Januar verabredeten sich Petra, Cornelia und Nicole zum Rodeln in der Sandkuhle, einem riesigen Loch in der Nordhemmer Landschaft, das durch die jahrzehntelange Ausgrabung von Bau-Sand entstanden war. Die Pisten waren zwar kurz, aber zahlreich und unterschiedlich steil. Gelegentlich brachen Schlitten auseinander, wenn besonders Todesmutige die steilsten Abfahrten im vereisten Zustand hinunterrasten. Doch noch war alles ungefährlich und die drei Mädchen hatten schon tief-rosa Bäckchen, als kurz hintereinander auch Iris und Angela sich zu ihnen gesellten.
„Ich habe heute Morgen schon mit Timpen Susanne eine Schneehöhle gebaut.“, berichtete Iris eifrig.
„Einen Iglu, oder was?", fragte Petra mit mäßigem Interesse.
„Nee, anders.“, erklärte Iris. „Onkel Gerd hat gestern den ganzen Hof frei geschüppt und der Haufen ist höher als wir groß sind. Da haben wir zuerst 'ne Treppe bis zum Gipfel gebaut, dann oben ein tiefes Loch gegraben und mit dem ausgegrabenen Schnee Wände hoch gezogen und auch eine Treppe gebaut. Da drin ist es richtig warm. Morgen wollen wir noch Sitzbänke machen und ein Dach aus Ästen und die Löcher stopfen wir dann mit Schnee zu.“
„Hört sich klasse an.“, sagte Cornelia wohlwollend. Nicole lächelte herablassend: Aus dem Alter für solche Sandkastenspiele waren sie nun wirklich heraus. Iris war eben noch ein bisschen kindlicher als alle anderen.
„Können wir uns da zum Kakao Trinken verabreden?“, fragte Angela mit einem breiten Grinsen.
„Das ist die Idee!“, rief Iris begeistert. „Wir werden bestimmt bis morgen Mittag fertig. Ich frag' Susanne, ob wir dürfen. Der Hof gehört ja Timpen. Wir nehmen 'ne Holzkiste als Tisch und stellen Kerzen drauf, dann können wir da sogar sitzen, wenn es dunkel wird und wärmer ist es so auch.“
Soll ich dann morgen so um drei zu euch kommen?“, fragte Angela.
„Ja, gut. Dann können wir erst noch alles zusammen suchen und Kakao kochen.“
Jetzt wurden die drei anderen Mädchen, die eigentlich zu cool für ausgesprochene Kinderspiele waren, doch ein bisschen neidisch, doch sie hätten sich eher die Zunge abgebissen, als sich etwas anmerken zu lassen.
Am kommenden Nachmittag zelebrierten Iris und Angela eine kurze, aber spektakuläre Kakao-Mahlzeit im Gipfel-Iglu. Die Miterbauerin Susanne hatte am Nachmittag etwas Anderes vor.
Es waren die schneereichsten Winterferien seit langem, und überall waren Kinder mit Schlitten oder Bauwerkzeug unterwegs. Der Winter legte eine märchenhafte Stille über den Ort, denn der Schnee dämpfte alle Geräusche und zwang die Autofahrer zu einem stark reduzierten Tempo. Das Räumen der Straßen war noch nicht sonderlich verbreitet, das Leben ging eben etwas langsamer voran. Das blieb auch so, als die Ferien vorüber waren und die Schule wieder anfing. Angela aß jeden Morgen zum Frühstück eine Portion Stippgrütze – einen Brei aus geschälten Gerstenkörnern, heißem Fett, kleinen Fleischstückchen und verschiedenen Gewürzen, dazu Graubrot und heißen Tee. So gestärkt machte es ihr nichts aus, eine dreiviertel Stunde in der dunklen Morgenkälte auf den Bus zu warten, der sich mühsam durch die Schneemassen kämpfte. Es gab in diesem Winter auch zwei Tage, an denen der Bus gar nicht durchkam und die Kinder damit automatisch vom Schulbesuch befreite.
Was für die Erwachsenen viel zusätzliche Arbeit und Probleme bedeutete, erlebten die Kinder als Geschenk des Himmels und versetzte sie in Begeisterung. Doch sogar Kinder haben vom schönsten Schnee irgendwann genug und als Ende Januar das erste Tauwetter einsetzte, das Licht deutlich zunahm, das saftige Gras der Weiden zwischen den Schneeresten leuchtete und der sonst so modrig vor sich hin tröpfelnde Landebach wie ein rauschendes Wildwasser dahin strömte, freute Iris sich bei ihren Streifzügen durch Felder und Wiesen auf den nahenden Frühling. Vorher stand aber ein anderes Ereignis ins Haus: Cornelias elfter Geburtstag. Lieselotte hatte Erkundigungen angestellt und für Cornelia ein Schreibtischset mit Sarah Kay-Motiven besorgt. Iris war damit sehr zufrieden und malte sich aus, wie sehr Cornelia sich über ihr Geschenk freuen würde.
Angela war weniger glücklich, denn ihre Mutter hatte bei Schneider-Niemanns eine Garnitur Unterwäsche besorgt, sie habe keine Zeit, in der Stadt herum zu laufen und außerdem müsse man die Geschäfte im Dorf unterstützen, sonst würden sie irgendwann verschwinden und dann müsse man für jede Kleinigkeit mindestens nach Hille fahren.
Für Nicole war die entscheidendere Frage, was sie zu Cornelias Geburtstagsfeier anziehen würde. Ihre Mutter besorgte eine modische Kette und kaufte die gleiche – nur in anderen Farben – für Nicole, nachdem die lange genug gequengelt hatte. Und wo sie schon einmal in der Stadt waren, bekam Nicole ein schlichtes, hellblaues Winterkleid, auf dem die Kette wirkte, als gehöre sie dazu.
Petra war am Samstag nach der Schule allein in die Stadt gegangen und später mit dem Bus nach Hause gefahren, statt sich zusammen mit den anderen von der Schule abholen zu lassen. Sie suchte selbst ein spannendes Buch für Cornelia aus und ließ es professionell verpacken.
Eine Woche später war es dann soweit. Petras Vater holte die Mädchen am Samstag um 11.25 Uhr von der Schule ab, damit sie nicht zwei Stunden auf den Bus warten mussten. In der großen Pause war es auf dem Schulhof zu einem mittleren Eklat gekommen.
„Wer holt uns heute eigentlich ab?“, fragte Iris.
„Mein Papa.“, antwortete Petra.
„Hat der uns nicht gerade vor zwei Wochen abgeholt?“, fragte Nicole.
„Ja.“, antwortete Petra. „Aber manche Eltern halten sich beim Fahrdienst eben raus.“
„Ja genau.“, sagte Nicole. „Warum fahren deine Eltern eigentlich nie, Angela?“
„Die haben keine Zeit.“, antwortete Angela unsicher und behielt für sich, wie ihre Mutter reagiert hatte, als sie sie kürzlich gefragt hatte, ob sie auch einmal den Fahrdienst übernehmen könne.
„So ein Blödsinn! Ihr seid doch zu fünft, da könnt ihr doch wohl zwei Stunden in die Stadt gehen. Ich wäre in eurem Alter dankbar gewesen, wenn ich jede Woche hätte durch Minden laufen dürfen. Wenn die anderen zu viel Zeit haben, sollen die euch meinetwegen holen, aber ich fange mit dem Quatsch gar nicht erst an.“
„Andere Eltern haben auch viel zu tun.“, kommentierte Petra Angelas Antwort.
„Ich meine, irgendwie ist das ja auch ungerecht.“, legte Nicole den Finger in die Wunde. „Du fährst ja schließlich auch jedes Mal mit, wenn unsere Eltern fahren, aber deine Eltern machen einfach nicht mit. Du musst denen das mal erklären.“
„Das hab' ich doch schon.“, erwiderte Angela kleinlaut.
„Aber wohl nicht klar genug, so dass sie es auch verstanden haben.“, meinte Petra. „Was haben sie denn gesagt?“
Angela kämpfte mit den Tränen. „Mein Papa steht hinter der Theke und kann nicht weg und meine Mama muss für die Gäste Schnitzel braten und auf Kirsten aufpassen.“
„Ach“, sagte Nicole. „Deine Mama fährt ja auch nie in die Stadt, weil sie immer Schnitzel braten muss. Das ist doch nur 'ne faule Ausrede.“
Jetzt brachen die Schleusen auf und Angela brachte nur ein: „Ich kann doch nichts dafür.“, hervor.
„Jetzt heul' doch nicht gleich.“, sagte Petra. „So 'n Drama ist das nun auch wieder nicht.“
„Was soll ich denn machen?“, schluchzte Angela.
„Eigentlich dürftest du nicht mitfahren.“, sagte Nicole schnippisch und erbarmungslos. „Das wäre dann gerecht.“
„Was soll denn der Quatsch?“, fuhr Cornelia sie an. „Wenn unsere Eltern schon fahren, können wir Angela jawohl mitnehmen!“
„Genau.“, pflichtete Iris ihr bei. „Und jetzt hört mal auf, Angela hier fertig zu machen. Das können unsere Eltern unter sich ausmachen. Angela kann ihre Mutter jawohl schlecht zwingen, uns von der Schule abzuholen.“
Einsichtig wechselten die Mädchen das Thema und als Heinrich Gieseking nach Schulschluss vorfuhr, stürmten sie das Auto. Angela durfte vorne sitzen, weil sie nun doch das Gefühl hatten, etwas wieder gut machen zu müssen. Die restlichen Vier quetschten sich auf die Rückbank und spielten zum wiederholten Mal das Spiel, Iris nicht in die Mitte zu lassen. Sie war als Siebenjährige einmal aus dem fahrenden Auto gefallen und beinahe überrollt worden, weil die Tür nicht richtig geschlossen gewesen war. Darum hatte sie es sich zur Gewohnheit gemacht, den Knopf herunter zu drücken, wenn sie direkt neben der Tür saß, damit dieses Trauma sich nicht wiederholte. Obwohl ihnen die Vorgeschichte bekannt war, empfanden die anderen Mädchen Iris' Vorsicht als irrational und machten sich einen Spaß daraus, den Knopf immer wieder hoch zu ziehen und Iris auszulachen. Je wütender und verzweifelter sie reagierte, umso größer war die Freude der anderen Mädchen. Aber trotz der Todesängste, die Iris ausstand, kamen alle heil und sicher in ihren Elternhäusern an.
Bei Cornelia zu Hause herrschte große Aufregung. Neben ihren Nordhemmeraner Klassenkameradinnen hatte sie noch Birgit aus der Grundschulklasse und Sandra, die in Hahlen wohnte, aus ihrer neuen Klasse eingeladen. Birgit war kurzfristig erkrankt und Sandra konnte nur für zwei Stunden kommen, weil sie noch auf einer Silberhochzeit eingeladen war. Marlies Rüther war angesichts einer Kaffeetafel mit sechs Mädchen die Ruhe selbst, aber Cornelias Gedanken kreisten um Fragen wie: Ob wohl alle außer Birgit kommen? Ob die geplanten Spiele ankommen? Ob es ein perfekter Nachmittag wird oder ein Reinfall?
Als erste und überpünktlich tauchte Petra auf, damit fing der Nachmittag schon gut an, denn Cornelia betrachtete Petra als ihre beste Freundin. Sie freute sich über das Buch und hatte es gerade zufrieden beiseitegelegt, als Sandra vor der Tür stand. Innerhalb kürzester Zeit trudelte der Rest ein und Cornelia freute sich über die tollen Geschenke, auch wenn der Anblick von Nicoles fast identischer Halskette ihre Begeisterung deutlich trübte und sie beim Auspacken der Garnitur Unterwäsche, die Angela ihr überreicht hatte, ein höflich geheucheltes „Oh, danke, das ist aber total schön.“, hervor pressen musste. Doch die Hauptsache war der fröhliche Nachmittag mit den Freundinnen. Beim Stopp-Essen bei Kakao, Saft und Kuchen waren alle schon ganz ausgelassen. Dann ging es weiter mit verschiedenen Kreisspielen, die mal eine gute motorische Koordination, mal einen gewissen Scharfsinn erforderten. Um 17.00 Uhr wurde Sandra abgeholt und das feste Programm war abgearbeitet. Cornelia hatte die Idee, eine Modenschau zu veranstalten und stellte ihren Kleiderschrank zur Verfügung. Petra hatte aufgrund ihrer Leibesfülle nur wenig Auswahl, nahm das aber gleichmütig in Kauf und fragte, ob sie nicht die Moderation übernehmen könne. So hatten alle eine Menge Spaß und Cornelias Zimmer glich dem Backstage-Bereich eines aufwändigen Laientheaters.
Als sie schließlich beim Abendessen saßen, überlegte Petra: „Wir müssten eigentlich eine Bande gründen, mit einem richtigen Namen, so wie von einer Musik-Gruppe.“
„Ja, genau.“, sagte Iris. „Und dann müssen wir schwören, dass wir zusammenhalten, zum Beispiel, wenn einer in der Schule blöde Witze macht, weil wir aus einem Kuhdorf kommen.“
„'Nen Namen haben wir ja eigentlich schon.“, sagte Angela. „Uns nennen doch schon alle 'die Nordies'.
„Aber das ist doch doof.“, widersprach Cornelia. „Damit machen die sich ja über uns lustig. Wir könnten es doch wie ABBA machen, unsere Anfangsbuchstaben benutzen.“
„CPNAI?“, fragte Petra mit großen Augen und sagte dann: „Klingt Scheiße.“
Der ganze Tisch war voll Gelächter. Nur Iris malte mit dem kleinen Finger in der Sauce ihres Tellers herum. Dann rief sie plötzlich: „Ich hab's! P wie Petra, A wie Angela, N wie Nicole, I wie Iris und C wie Cornelia: PANIC. Das Wort gibt’s.“
„Aber heißt das nicht Angst?“, fragte Nicole kritisch.
„Egal.“, mischte Petra sich ein. PANIC klingt super. Udo Lindenberg hat auch ein Panik-Orchester. Das find' ich gut.“
„Udo Lindenberg kenn' ich nicht.“, sagte Nicole schnippisch.
„Ja, so siehst du auch aus.“, erwidere Petra lässig.
„Aber einfach nur PANIC, das klingt komisch.“, wandte Angela ein. „Wie wäre es mit 'PANIC-Mädels'?“
„Hört sich an wie Ponyhof.“, stieß Cornelia hervor und prustete los. „Das muss irgendwas auf Englisch sein.“, überlegte sie. „Hört sich besser an. Was heißt denn Mädels auf Englisch?“
„Girls, du Töffel!“, rief Petra und brach in schallendes Gelächter aus.
„PANIC-Girls, hört sich doch gut an.“, sagte Angela und alle waren sich einig. Nun musste nur noch die Form des Schwurs beraten werden; ob Blut im Spiel sein sollte oder gar eine Tätowierung oder ein Brandmal; schließlich fiel die Entscheidung auf ein Ritual bei Kerzenlicht, das keine äußeren Spuren hinterlassen sollte: jede malte den Anderen ihren Anfangsbuchstaben mit Wasser auf die Stirn und dann schworen sie gemeinsam: „Wir halten fest zusammen. Wir sind die PANIC-Girls.“